Holger Siemann, 1962 in Leipzig geboren, studierte Philosophie in Berlin. Er arbeitete als Offizier, Schauspieler, Sozialwissenschaftler und Familienhelfer, seit 2001 als freier Autor zahlreicher Hörspiele, Feature und Libretti. 2006 und 2008 erschienen die ersten beiden Romane bei C.Bertelsmann. Seit 2010 lebt und arbeitet Holger Siemann als schreibender Bauer auf einem Hof in der Uckermark.
Warum die Dominanz der Städter enden muss
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Der Wolf ist wieder da. Es sei Zeichen der Benachteiligung der Landbevölkerung, dass diese ausgerottete Tierart hierzulande wieder heimisch geworden ist, kritisiert der Publizist Holger Siemann – denn beim Naturschutz geben die Städter den Ton an.
Vor ein paar Wochen hörte ich im Morgengrauen unseren Junghengst so aufgeregt toben, dass ich auf die Weide rannte. Ich fand Gemma, ein trächtiges Mutterschaf, mit blutenden Bisswunden an Vorder- und Hinterläufen. Der Tierarzt entdeckte den im Fell versteckten Kehlbiss. Der Mann in der Wolfshotline des Potsdamer Ministeriums fragte nach DNA-Spuren, die wir nicht liefern konnten. Ob wir Feinde im Dorf hätten - die Wunden könnten ja im Prinzip auch von einem Schraubenzieher stammen er hätte da schon Sachen erlebt.
Erste persönliche Erlebnisse mit Wölfen
Eine Fellrasur und mehrere Antibiotikaspritzen später stand Gemma wieder auf den Beinen. Sie keuchte und hielt sich von den anderen Schafen fern. Bei der Geburt ihrer Lämmer musste ich helfen, ihr Euter war leer, sie brauchte ihre ganze Kraft zum Atmen. Die Lämmer fütterte ich alle zwei Stunden mit der Milchflasche. Eine Woche später schlug der Wolf beim Nachbarn zu und riss einen Bock.
Bist du verrückt, fragte mein Freund, als ich erzählte, dass ich im Radio darüber sprechen will, beim Thema Wolf ist der Shitstorm vorprogrammiert! Oh nein, entgegnete ich: Nicht vom Wolf will ich sprechen, sondern von Städtern in Hotlines, die nicht mal fragen, wie es dem Schaf geht.
Schutzmaßnahmen gegen Wölfe sind teuer
Vielleicht glauben sie, dass alle Bauern den Wolf hassen? Stimmt nicht. Es gibt viele Gründe, die für die Wiederansiedlung des Wolfes sprechen. Unser Nachbar machte sich im Internet schlau, kopierte Fotos von Wolfskacke auf sein Handy und spazierte neugierig mit Freundin und Kind in den Wald. Oder glauben sie, dass Elektrozäune und Schutzhunde eine Lösung des Problems wären?
Heute sind Schafe die letzte Nutztierart, die – zumindest in Deutschland – noch nicht in Massenställen gehalten werden, sondern in kleinen Herden, von Hirten mit durchschnittlich zehn Schafen, im Nebenerwerb. Deren Möglichkeiten zum Schutz sind begrenzt. Und Entschädigungen sind kein Trost, mal abgesehen von der Tatsache, dass so ein Schafsleben auf dem Markt nur schändliche 50 bis 100 Euro wert ist, während die Kosten für Herdenschutzhunde und Elektrozäune schnell in die Tausende gehen und der Unterhalt viel Zeit kostet.
Die Entschädigungen dienen vielleicht weniger den Hirten als der städtischen Illusion von heiler Natur.
Landbevölkerung ist Diskriminierung hilflos ausgeliefert
Wir leben in einer Demokratie, in der die Landbevölkerung weniger als ein Viertel der Wähler stellt und den subtilen Formen der Diskriminierung mehr oder weniger hilflos ausgeliefert ist. Glauben sie, dass es im Zeitalter des Internets keine Rolle mehr spielt, ob jemand auf dem Land chattet oder in der Stadt? Das Gegenteil ist der Fall: Die Großstädte dieser Welt sind längst zu einer globalen Megastadt vernetzt und dominieren alle Diskurse, während das Land immer weiter ausgebremst wird – in technischer Hinsicht und in den gesellschaftlichen Debatten.
Milliarden werden investiert um Städte schneller zu verbinden - und auf dem Land zur gleichen Zeit Bahnlinien und Busverbindungen stillgelegt. Lohnt sich nicht mehr, heißt es. Schulen, Gesundheitsversorgung, Verwaltungen entfernen sich mit jeder Konzentrationswelle weiter vom Dorf und löschen Kristallisationspunkte der Identität, des Kulturlebens, des bürgerschaftlichen Engagements. Zeitschriften und Fernsehsendungen erklären uns wie das Land ist: nämlich weit, weit weg und schön.
Freilebende Wölfe: Falsche Illusion von heiler Natur
Kein Wunder, dass auch beim Thema Naturschutz die Städter dominieren. Leuchtturmprojekte wie die Wiederansiedlung des Wolfes vermitteln ihnen das wohlige Gefühl, die Fehler der Vergangenheit korrigieren zu können, aber wenn eines sicher ist, dann die Tatsache, dass nichts die intensive Nutzung, ja Übernutzung der Landschaft rückgängig macht, schon gar nicht der städtische Lebensstil.
Unser Schaf Gemma ist leider nach vier Wochen doch noch an ihren Verletzungen gestorben. Ihre Lämmer Adela und Balduin fressen nun schon das erste Gras, schlafen bei der Herde und wissen noch nichts vom Wolf.