Wörterbuch eines Schriftsteller-Lebens
Die Einträge in Földényis Nachschlagewerk über den ungarischen Literaturnobelpreisträger Imre Kertész gleichen einem Nachdenken auf bis zu sieben Seiten ohne Sekundärliteratur, jedoch nicht ohne Fragen. Sie sind durchsetzt mit zahlreichen Zitaten aus Kertész' Romanen.
Dieses Buch ist so ungewöhnlich, dass sein erster Satz erklärt, was es nicht sein will: "keine Monografie und keine Biografie, keine Studie und auch keine Sammlung lose verbundener Essays". Mit dieser mehrfachen Negation ist "Schicksallosigkeit. Ein Imre-Kertész-Wörterbuch" seinem Gegenstand, dem ungarischen Literaturnobelpreisträger, sehr nah. Der ungarische Intellektuelle László F. Földényi lässt dann doch noch eine positive Bestimmung folgen: "Schicksallosigkeit" sammle die für das Werk von Kertész "charakteristischen Begriffe, in alphabetische Reihenfolge gebracht". Das Buch erhebt den Titel des ersten Romans von Imre Kertész, "Roman eines Schicksallosen", treffend zur Signatur seines Lebens und Schreibens. Es ist ein Geschenk zum 80. Geburtstag, wie es nur die wenigsten Autoren erhalten.
Charakteristisch für das Werk von Kertész hält Földényi, der bereits ein "Wörterbuch" zu Heinrich von Kleist verfasst hat, unter anderem die Begriffe "Absurd", "Auschwitz", "Freiheit", "Sisyphos" und "Zeugnis (Zeugnis-Geben)". Doch auch stilistische Eigenarten ("Anführungszeichen", "Sozusagen (Sogenannt)", "Ein bisschen, ein wenig, etwas") oder Dinge des Alltags ("Bank", "Ohrstöpsel") besitzen einen Eintrag. Dagegen fehlen, wie Földényi selbst vermerkt, erwartbare Lemmata zu Angst, Erinnerung, Tod, Fiasko, Selbstmord, Erfolg. Földényi findet auch im scheinbar Nebensächlichen Belege für seine Interpretation, und er beharrt – auch darin den Überzeugungen Kertész‘ folgend, ein jeder müsse sich der Schicksallosigkeit entziehen und sein eigenes Schicksal zu leben versuchen – auf einer individuellen Annäherung als der einzig möglichen.
Tatsächlich sind Földényis Einträge keine Essays. Sie gleichen einem Nachdenken auf bis zu sieben Seiten ohne Sekundärliteratur, jedoch nicht ohne Fragen und sind durchsetzt mit zahlreichen Zitaten, vor allem aus dem Debüt "Roman eines Schicksallosen", aus "Kaddisch für ein nicht geborenes Kind", "Fiasko", Galeerentagebuch", "Ich – ein anderer", "Liquidation" sowie dem Essayband "Die exilierte Sprache". Ein sehr aufmerksamer, sensibler Leser rekonstruiert aus Mosaikteilchen ein "Kertészsches System".
Jedem Leser fällt die Wiederholung von Motiven, Begriffen und Bezügen in Kertész‘ Werken auf. Immer ist ihm das zufällige, "unlogische" Überleben von Auschwitz Ausgangspunkt des Schreibens. Auschwitz ist, diese Erkenntnis verdankt Kertész der stalinistischen Diktatur, nicht zu Ende, es kann sich täglich neu ereignen. Noch immer raubt der Totalitarismus, dessen Rationalität und (!) Irrationalismus das Vernichtungslager hervorbrachte, dem Menschen sein Schicksal. Er lebt schicksallos dahin, auswechselbar, als bloße Funktion.
Zu entkommen ist dem Totalitarismus in den Tod oder in eine andere, transzendente Welt. Kertész verabschiedet die Ratio nicht, aber er hält ihre Begrenztheit und ihr Eingebettetsein in das "Wunder", das "Mysterium" fest. Dorthin, in die Freiheit, die die plötzlich eintretende Identität mit sich selbst schenkt, findet Kertész dank einer "Erleuchtung" im Schreiben, im Zeugnisgeben. Földényi zählt Kertész, der nicht religiös ist, aber auf der Transzendenz und einer Gottesvorstellung beharrt, zu den "großen Mystikern".
Möglicherweise betont Földényi, dessen letztes, noch nicht ins Deutsche übersetztes Buch sich mit der Mystik beschäftigt, das von Kertész nur einmal erwähnte "Mysterium" zu sehr. Zu kurz kommt darüber die avantgardistische Verschmelzung von Kunst (Schreiben) und Leben, zu kurz kommen auch die philosophischen Vorbilder (Camus und der Existenzialismus) und die literarischen (Thomas Bernhard, Franz Kafka und Thomas Mann). Aber der innerste Kern des Kertészschen Schaffens, die verzweifelte Reflexion über die Totalität und der Sprung aus ihr heraus, wird behutsam freigelegt. László Földényi hat das auf lange Zeit wohl wichtigste Buch zu Imre Kertész verfasst.
Besprochen von Jörg Plath
László F. Földényi: Schicksallosigkeit. Ein Imre-Kertész-Wörterbuch
Aus dem Ungarischen von Akos Doma
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2009
366 Seiten, 19,90 Euro
Charakteristisch für das Werk von Kertész hält Földényi, der bereits ein "Wörterbuch" zu Heinrich von Kleist verfasst hat, unter anderem die Begriffe "Absurd", "Auschwitz", "Freiheit", "Sisyphos" und "Zeugnis (Zeugnis-Geben)". Doch auch stilistische Eigenarten ("Anführungszeichen", "Sozusagen (Sogenannt)", "Ein bisschen, ein wenig, etwas") oder Dinge des Alltags ("Bank", "Ohrstöpsel") besitzen einen Eintrag. Dagegen fehlen, wie Földényi selbst vermerkt, erwartbare Lemmata zu Angst, Erinnerung, Tod, Fiasko, Selbstmord, Erfolg. Földényi findet auch im scheinbar Nebensächlichen Belege für seine Interpretation, und er beharrt – auch darin den Überzeugungen Kertész‘ folgend, ein jeder müsse sich der Schicksallosigkeit entziehen und sein eigenes Schicksal zu leben versuchen – auf einer individuellen Annäherung als der einzig möglichen.
Tatsächlich sind Földényis Einträge keine Essays. Sie gleichen einem Nachdenken auf bis zu sieben Seiten ohne Sekundärliteratur, jedoch nicht ohne Fragen und sind durchsetzt mit zahlreichen Zitaten, vor allem aus dem Debüt "Roman eines Schicksallosen", aus "Kaddisch für ein nicht geborenes Kind", "Fiasko", Galeerentagebuch", "Ich – ein anderer", "Liquidation" sowie dem Essayband "Die exilierte Sprache". Ein sehr aufmerksamer, sensibler Leser rekonstruiert aus Mosaikteilchen ein "Kertészsches System".
Jedem Leser fällt die Wiederholung von Motiven, Begriffen und Bezügen in Kertész‘ Werken auf. Immer ist ihm das zufällige, "unlogische" Überleben von Auschwitz Ausgangspunkt des Schreibens. Auschwitz ist, diese Erkenntnis verdankt Kertész der stalinistischen Diktatur, nicht zu Ende, es kann sich täglich neu ereignen. Noch immer raubt der Totalitarismus, dessen Rationalität und (!) Irrationalismus das Vernichtungslager hervorbrachte, dem Menschen sein Schicksal. Er lebt schicksallos dahin, auswechselbar, als bloße Funktion.
Zu entkommen ist dem Totalitarismus in den Tod oder in eine andere, transzendente Welt. Kertész verabschiedet die Ratio nicht, aber er hält ihre Begrenztheit und ihr Eingebettetsein in das "Wunder", das "Mysterium" fest. Dorthin, in die Freiheit, die die plötzlich eintretende Identität mit sich selbst schenkt, findet Kertész dank einer "Erleuchtung" im Schreiben, im Zeugnisgeben. Földényi zählt Kertész, der nicht religiös ist, aber auf der Transzendenz und einer Gottesvorstellung beharrt, zu den "großen Mystikern".
Möglicherweise betont Földényi, dessen letztes, noch nicht ins Deutsche übersetztes Buch sich mit der Mystik beschäftigt, das von Kertész nur einmal erwähnte "Mysterium" zu sehr. Zu kurz kommt darüber die avantgardistische Verschmelzung von Kunst (Schreiben) und Leben, zu kurz kommen auch die philosophischen Vorbilder (Camus und der Existenzialismus) und die literarischen (Thomas Bernhard, Franz Kafka und Thomas Mann). Aber der innerste Kern des Kertészschen Schaffens, die verzweifelte Reflexion über die Totalität und der Sprung aus ihr heraus, wird behutsam freigelegt. László Földényi hat das auf lange Zeit wohl wichtigste Buch zu Imre Kertész verfasst.
Besprochen von Jörg Plath
László F. Földényi: Schicksallosigkeit. Ein Imre-Kertész-Wörterbuch
Aus dem Ungarischen von Akos Doma
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2009
366 Seiten, 19,90 Euro