Wörterbuch zum Selberschreiben
Der Blogger Anatol Stefanowitsch hält das "Wiktionary" - ein Online-Wörterbuch, an dem jeder Internetnutzer mitwirken kann - für zeitgemäßer als den altbekannten Duden. Bei der multimedialen Zusammenarbeit könne "eine Dynamik entstehen, die eine Redaktion heute gar nicht mehr leisten kann."
Andreas Müller: Am 1. August 1911, also vor genau 100 Jahren, starb Konrad Duden, der Schöpfer des "Orthografischen Wörterbuches", das 1880 zum ersten Mal erschien. Das Jahr markiert den Beginn der deutschen Einheitsrechtschreibung, das war ein enorm wichtiger Schritt für die damals noch junge Nation als identifikationsstiftendes Mittel. Heute ist das Regelwert ein Volkswörterbuch, das auch im Internet erscheint und sich müht, den Sprachwandel rasch abzubilden. Doch ist der Duden nicht längst ein Auslaufmodell, funktioniert er noch in einer von Digitalisierung geprägten Welt? Darum und um anderes soll es jetzt im Gespräch mit dem Sprachwissenschaftler und Blogger Anatol Stefanowitsch gehen, schönen guten Tag!
Anatol Stefanowitsch: Guten Tag, Herr Müller!
Müller: Blicken wir vielleicht zunächst kurz zurück ins 19. Jahrhundert. Bereits die Brüder Grimm erkannten ja bei der Arbeit an ihrem gewaltigen "Deutschen Wörterbuch": Die Vereinheitlichung der Sprache ist der größte Kitt einer ansonsten disparaten Nation. Der Ur-Duden von 1880 trägt den Titel "Vollständiges Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache" und will eben auch zur Vereinheitlichung der Sprache beitragen. Ist von diesem einheitsstiftenden Ansatz heute überhaupt noch was übrig?
Stefanowitsch: Ich würde sagen, ja. Der Duden hat ja lange Zeit eine herausgehobene Rolle gespielt, er war ja sowohl im 19. Jahrhundert – und nach dem Krieg ist das ja noch mal bestätigt worden – quasi mit der Ausformung der amtlichen Rechtschreibung betraut. Und da Konrad Duden von Anfang an eine … Also, seine Idee war von Anfang an sehr stark die Vereinheitlichung der Rechtschreibung, und diese Idee ist durch diese herausgehobene Rolle des Duden dann natürlich auch sehr prominent geworden, viel prominenter zum Beispiel als in der englischsprachigen Welt, wo orthografisch sehr viel mehr Variation akzeptiert ist.
Müller: Aber inwieweit stiftet er denn noch Identifikation, also gibt es eine Rücksichtnahme etwa auf ostdeutsche Varianten oder Besonderheiten in der Sprache?
Stefanowitsch: Der Duden, den wir heute haben, der ist ja hervorgegangen aus einer Vereinigung sozusagen des Ost-"Dudens" und des West-"Dudens", die sich nach dem Krieg eine Zeitlang natürlich unabhängig entwickelt haben, wobei immer so eine Art stillschweigende gegenseitige Rücksichtnahme da geherrscht hat, sodass die sich eigentlich gar nicht so weit voneinander entfernt haben. Nach der Wiedervereinigung des "Dudens" hat man natürlich spezifisch sozialistisches Vokabular, sofern es nicht im breiten Gebrauch war, wieder entfernt, aber der Duden hat nach wie vor den Anspruch, das gesamte deutschsprachige Europa, also nicht nur Ost- und Westdeutschland, sondern natürlich auch Österreich und die Schweiz mit abzubilden.
Müller: Der Duden war über Jahrzehnte das Regelwerk für alle die, die schreiben, Profis und die ganz normalen Leute. "Schlag’s nach im Duden", das ist eigentlich immer noch ein geflügeltes Wort. Seitdem das Internet einer immer größer werdenden Zahl von Menschen zugänglich ist, erscheinen immer größer werdende Textmengen, immer mehr Menschen schreiben auch öffentlich. Wird heute bereits anders geschrieben dadurch als noch vor 20 Jahren?
Stefanowitsch: Also, wenn man sich speziell das Internet anguckt, dann stimmt das natürlich, es nimmt eine große Menge von Menschen an schriftlicher öffentlicher Kommunikation teil, größer als jemals zuvor. Und das drückt sich natürlich auch darin aus, dass hier viele Leute beteiligt sind, die nicht gelernt haben zu schreiben oder die sich das im Prinzip autodidaktisch beigebracht haben, und das heißt natürlich auch, dass die orthografische Variation heute im Internet relativ groß ist.
Müller: Das ist natürlich freundlich ausgedrückt, die orthografische Variation. Also, wenn man sich manche Blogs anguckt, da ist ja schon eine wild wuchernde Sprachfantasie, noch mal nett ausgedrückt, schlicht und einfach gibt es aber auch unglaublich viele Fehler.
Stefanowitsch: Das kann man so sehen, aber wenn man sich die deutsche Schriftproduktion vor dem 19. Jahrhundert oder bis ins 19. Jahrhundert hinein ansieht, dann sieht man eigentlich was sehr Ähnliches. Also, große Namen des deutschen Denkertums haben das eigentlich auch nicht anders gemacht, die haben im Prinzip alle so geschrieben, wie es ihnen in dem Augenblick richtig vorkam. Und insofern sehen wir eigentlich nur eine Rückkehr hin zum Normalzustand, könnte man fast sagen. Also, die Idee, dass Rechtschreibung vollständig standardisiert sein muss, das ist schon eine, die sehr stark mit dem Aufstieg des "Dudens" verknüpft ist.
Müller: Ist vor diesem Hintergrund der Duden als Korrektiv eigentlich noch gefragt, oder sorgt die Schwarmintelligenz dafür, dass Fehler korrigiert werden? Oder ist es eigentlich gar nicht mehr nötig, sie zu korrigieren?
Stefanowitsch: Ja, das ist interessant. Also, die erste Frage ist ja, ob man den Duden speziell noch braucht. Und da könnte man natürlich, wenn man gemein sein wollte, sagen, nein, der hat seine Aufgabe erfüllt, da die Autorität zur Festlegung der Rechtschreibung jetzt an die Rechtschreibkommission abgegeben wurde, die mit ihrer Rechtschreibreform zum ersten Mal seit langer, langer Zeit wieder ein tatsächlich amtliches Regelwerk vorgelegt hat. Andererseits ist es natürlich so, dass der Duden durch diese lange Tradition und durch die herausgehobene Rolle, die er viele Jahre gespielt hat, da ist viel Kompetenz, da ist viel sprachliche Kompetenz aufgebaut worden. Die ist vorhanden und insofern ist der Duden heute zwar nur noch ein Wörterbuch unter anderen, aber natürlich eins mit einer besonderen Geschichte. Das kann man an so einem Tag ja auch anerkennen.
Müller: Vor 100 Jahren starb der Schöpfer des "Dudens", Konrad Duden. Wir nehmen dieses Datum zum Anlass, um mit dem Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch über die heutige Bedeutung dieses Sprachregelwerks zu sprechen. Der Duden erscheint ja auch online, mehr oder weniger als getreue Spiegelung der gedruckten Ausgabe, Neueinträge findet man aber natürlich im Netz rascher. Es gibt auch schon Kritik daran, dass der Duden zu modisch geworden sei und dadurch an Autorität verliere. Stimmt das?
Stefanowitsch: Ich glaube, das ist für jedes Wörterbuch immer ein Balanceakt. Einerseits möchte man den Sprachgebrauch möglichst zeitnah natürlich auch widerspiegeln, andererseits muss man immer abwägen bei der Neuaufnahme von Wörtern, ob es sich eventuell nur um eine kurze Modeerscheinung handelt, ein Wort, was kurz auftaucht und dann wieder verschwindet. Und wenn man es einmal im Wörterbuch hat, dann steht das in der Auflage dann für immer natürlich festgehalten. Und das ist eine Aufgabe, die kann man, glaube ich, nicht zur Zufriedenheit aller lösen, es wird immer Leute geben, denen ist das zu konservativ, und es wird immer Leute geben, denen ist das zu progressiv.
Das war übrigens in der ganzen Geschichte der deutschen Rechtschreibung und ihrer Reform und ihrer Fortschreibung immer der Fall, es gab immer Leute, denen es nicht weit genug ging, was an Anpassung an den Sprachgebrauch vorgenommen wurde, und es gab immer Leute, denen war das viel zu viel und man hätte … die sich gewünscht hätten, man würde beim Althergebrachten bleiben. Also, das ist kein spezielles Problem des "Dudens", sondern das ist ein Problem, glaube ich, das jeder Wörterbuchmacher hat, wenn die öffentliche Wahrnehmung und das, was an öffentlichen Ideen über Sprache kursiert, auf die Realität eines konkreten Wörterbuchs dann trifft.
Müller: Mit dem "Wiktionary", einem Wörterbuch, an dem, wie beim Online-Lexikon Wikipedia – der Name deutet es ja auch schon an – jeder mitarbeiten kann, wächst dem Duden Konkurrenz im Netz. Ist dieses nach eigener Beschreibung offene Wörterbuch womöglich die zeitgenössischere Form eines Wörterbuches?
Stefanowitsch: Das kann man wohl sagen. Also, die Duden-Redaktion hat vielleicht auch den Fehler begangen, sich relativ spät ins Netz zu begeben. Also, es gab lange Zeit ein kostenpflichtiges Angebot, das im Netz keine große Rolle gespielt hat, und erst seit einigen Monaten ist der Duden selber auch online komplett frei verfügbar. Und das "Wiktionary" ist sicher ein Beispiel für das, was in diese Lücke, die der Duden da online gelassen hat, sich dort etablieren konnte, und ja, diese Zusammenarbeit vieler beim Erstellen eines vielsprachigen Wörterbuches, da kann eine Dynamik entstehen, die eine Redaktion heute, glaube ich, gar nicht mehr leisten kann.
Allerdings muss man sagen, dass auch die Leute, die das "Wiktionary" machen, natürlich sich versuchen, an den amtlichen Rechtschreibempfehlungen zu orientieren, und da ist vielleicht der eigentliche Haken: Also, die Duden-Redaktion hat lange zeit ihre Autorität dadurch geschöpft, dass das, was man von dort aus vorgegeben hat, durch Gesetzesbeschlüsse als amtlich galt. Und das ist jetzt nicht mehr da. Das heißt, der Duden kann auch nur das machen, was jedes andere Wörterbuch macht, nämlich die amtlichen Vorgaben auf eine bestimmte Art zu interpretieren.
Müller: Also, ein wenig an Autorität hat er eingebüßt, das muss man wahrscheinlich feststellen, …
Stefanowitsch: … ja …
Müller: … die Frage ist, wie wird es weitergehen? Haben wir eine relativ kurze historische Epoche der strengen Standardisierung erlebt und geht es jetzt wieder zurück in die Sprachanarchie aus voraufgeklärter Zeit?
Stefanowitsch: Ich kann es mir vorstellen. Andererseits ist es natürlich so, dass die Sprachtechnologie inzwischen einen Stand erreicht hat, die es möglich macht, dass man die Orthografie gar nicht mehr dem Autor auflastet, der Autor kann im Prinzip schreiben, wie er will, und man könnte sich ohne Probleme vorstellen - zum Teil gibt es das auch schon –, dass dann ein Redaktionssystem eben das in die Rechtschreibung übersetzt, die der Leser gerade möchte. Also, man kann sich durchaus vorstellen, dass derselbe Text von verschiedenen Lesern in verschiedenen Orthografien dann gelesen werden kann, ohne dass der Autor sich da groß Sorgen machen muss.
Müller: Ich kann mir vorstellen, dass es viele Menschen erschreckt, das wäre schon eine seltsame Geschichte für all die, die damit aufgewachsen sind, ordentlich schreiben zu wollen, zu können. Diese eventuelle Sprachanarchie, wäre das per se etwas Schlechtes?
Stefanowitsch: Ich denke, nicht. Ich denke, die Nachteile, die dadurch entstehen, haben ja viel damit zu tun, dass Standardisierung einfach praktische Vorteile hat, und diese praktischen Vorteile können eben inzwischen durch Sprachtechnologie ausgeglichen werden. Im Internet findet man ja auch noch häufig in Foren, in Blogs, da werden Leute kritisiert für ihre Rechtschreibung, nicht so sehr für ihre Ideen. Aber man merkt dann auch, dass es durchaus schon eine Gegenbewegung gibt von Leuten, die sagen, also achte doch darauf, was derjenige zu sagen hat, und nicht auf die orthografische Form, in der er das tut! Und insofern ist das vielleicht was Gutes, weil Inhalte hier in den Vordergrund rücken und die Form, in der das geschieht, in den Hintergrund rückt.
Müller: Noch aber gibt es ihn und er stellt die Regeln auf: der Duden. Sein Schöpfer Konrad Duden starb heute vor 100 Jahren und über die Bedeutung dieses Werkes in digitalen Zeiten sprach ich mit dem Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch. Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Anatol Stefanowitsch: Guten Tag, Herr Müller!
Müller: Blicken wir vielleicht zunächst kurz zurück ins 19. Jahrhundert. Bereits die Brüder Grimm erkannten ja bei der Arbeit an ihrem gewaltigen "Deutschen Wörterbuch": Die Vereinheitlichung der Sprache ist der größte Kitt einer ansonsten disparaten Nation. Der Ur-Duden von 1880 trägt den Titel "Vollständiges Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache" und will eben auch zur Vereinheitlichung der Sprache beitragen. Ist von diesem einheitsstiftenden Ansatz heute überhaupt noch was übrig?
Stefanowitsch: Ich würde sagen, ja. Der Duden hat ja lange Zeit eine herausgehobene Rolle gespielt, er war ja sowohl im 19. Jahrhundert – und nach dem Krieg ist das ja noch mal bestätigt worden – quasi mit der Ausformung der amtlichen Rechtschreibung betraut. Und da Konrad Duden von Anfang an eine … Also, seine Idee war von Anfang an sehr stark die Vereinheitlichung der Rechtschreibung, und diese Idee ist durch diese herausgehobene Rolle des Duden dann natürlich auch sehr prominent geworden, viel prominenter zum Beispiel als in der englischsprachigen Welt, wo orthografisch sehr viel mehr Variation akzeptiert ist.
Müller: Aber inwieweit stiftet er denn noch Identifikation, also gibt es eine Rücksichtnahme etwa auf ostdeutsche Varianten oder Besonderheiten in der Sprache?
Stefanowitsch: Der Duden, den wir heute haben, der ist ja hervorgegangen aus einer Vereinigung sozusagen des Ost-"Dudens" und des West-"Dudens", die sich nach dem Krieg eine Zeitlang natürlich unabhängig entwickelt haben, wobei immer so eine Art stillschweigende gegenseitige Rücksichtnahme da geherrscht hat, sodass die sich eigentlich gar nicht so weit voneinander entfernt haben. Nach der Wiedervereinigung des "Dudens" hat man natürlich spezifisch sozialistisches Vokabular, sofern es nicht im breiten Gebrauch war, wieder entfernt, aber der Duden hat nach wie vor den Anspruch, das gesamte deutschsprachige Europa, also nicht nur Ost- und Westdeutschland, sondern natürlich auch Österreich und die Schweiz mit abzubilden.
Müller: Der Duden war über Jahrzehnte das Regelwerk für alle die, die schreiben, Profis und die ganz normalen Leute. "Schlag’s nach im Duden", das ist eigentlich immer noch ein geflügeltes Wort. Seitdem das Internet einer immer größer werdenden Zahl von Menschen zugänglich ist, erscheinen immer größer werdende Textmengen, immer mehr Menschen schreiben auch öffentlich. Wird heute bereits anders geschrieben dadurch als noch vor 20 Jahren?
Stefanowitsch: Also, wenn man sich speziell das Internet anguckt, dann stimmt das natürlich, es nimmt eine große Menge von Menschen an schriftlicher öffentlicher Kommunikation teil, größer als jemals zuvor. Und das drückt sich natürlich auch darin aus, dass hier viele Leute beteiligt sind, die nicht gelernt haben zu schreiben oder die sich das im Prinzip autodidaktisch beigebracht haben, und das heißt natürlich auch, dass die orthografische Variation heute im Internet relativ groß ist.
Müller: Das ist natürlich freundlich ausgedrückt, die orthografische Variation. Also, wenn man sich manche Blogs anguckt, da ist ja schon eine wild wuchernde Sprachfantasie, noch mal nett ausgedrückt, schlicht und einfach gibt es aber auch unglaublich viele Fehler.
Stefanowitsch: Das kann man so sehen, aber wenn man sich die deutsche Schriftproduktion vor dem 19. Jahrhundert oder bis ins 19. Jahrhundert hinein ansieht, dann sieht man eigentlich was sehr Ähnliches. Also, große Namen des deutschen Denkertums haben das eigentlich auch nicht anders gemacht, die haben im Prinzip alle so geschrieben, wie es ihnen in dem Augenblick richtig vorkam. Und insofern sehen wir eigentlich nur eine Rückkehr hin zum Normalzustand, könnte man fast sagen. Also, die Idee, dass Rechtschreibung vollständig standardisiert sein muss, das ist schon eine, die sehr stark mit dem Aufstieg des "Dudens" verknüpft ist.
Müller: Ist vor diesem Hintergrund der Duden als Korrektiv eigentlich noch gefragt, oder sorgt die Schwarmintelligenz dafür, dass Fehler korrigiert werden? Oder ist es eigentlich gar nicht mehr nötig, sie zu korrigieren?
Stefanowitsch: Ja, das ist interessant. Also, die erste Frage ist ja, ob man den Duden speziell noch braucht. Und da könnte man natürlich, wenn man gemein sein wollte, sagen, nein, der hat seine Aufgabe erfüllt, da die Autorität zur Festlegung der Rechtschreibung jetzt an die Rechtschreibkommission abgegeben wurde, die mit ihrer Rechtschreibreform zum ersten Mal seit langer, langer Zeit wieder ein tatsächlich amtliches Regelwerk vorgelegt hat. Andererseits ist es natürlich so, dass der Duden durch diese lange Tradition und durch die herausgehobene Rolle, die er viele Jahre gespielt hat, da ist viel Kompetenz, da ist viel sprachliche Kompetenz aufgebaut worden. Die ist vorhanden und insofern ist der Duden heute zwar nur noch ein Wörterbuch unter anderen, aber natürlich eins mit einer besonderen Geschichte. Das kann man an so einem Tag ja auch anerkennen.
Müller: Vor 100 Jahren starb der Schöpfer des "Dudens", Konrad Duden. Wir nehmen dieses Datum zum Anlass, um mit dem Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch über die heutige Bedeutung dieses Sprachregelwerks zu sprechen. Der Duden erscheint ja auch online, mehr oder weniger als getreue Spiegelung der gedruckten Ausgabe, Neueinträge findet man aber natürlich im Netz rascher. Es gibt auch schon Kritik daran, dass der Duden zu modisch geworden sei und dadurch an Autorität verliere. Stimmt das?
Stefanowitsch: Ich glaube, das ist für jedes Wörterbuch immer ein Balanceakt. Einerseits möchte man den Sprachgebrauch möglichst zeitnah natürlich auch widerspiegeln, andererseits muss man immer abwägen bei der Neuaufnahme von Wörtern, ob es sich eventuell nur um eine kurze Modeerscheinung handelt, ein Wort, was kurz auftaucht und dann wieder verschwindet. Und wenn man es einmal im Wörterbuch hat, dann steht das in der Auflage dann für immer natürlich festgehalten. Und das ist eine Aufgabe, die kann man, glaube ich, nicht zur Zufriedenheit aller lösen, es wird immer Leute geben, denen ist das zu konservativ, und es wird immer Leute geben, denen ist das zu progressiv.
Das war übrigens in der ganzen Geschichte der deutschen Rechtschreibung und ihrer Reform und ihrer Fortschreibung immer der Fall, es gab immer Leute, denen es nicht weit genug ging, was an Anpassung an den Sprachgebrauch vorgenommen wurde, und es gab immer Leute, denen war das viel zu viel und man hätte … die sich gewünscht hätten, man würde beim Althergebrachten bleiben. Also, das ist kein spezielles Problem des "Dudens", sondern das ist ein Problem, glaube ich, das jeder Wörterbuchmacher hat, wenn die öffentliche Wahrnehmung und das, was an öffentlichen Ideen über Sprache kursiert, auf die Realität eines konkreten Wörterbuchs dann trifft.
Müller: Mit dem "Wiktionary", einem Wörterbuch, an dem, wie beim Online-Lexikon Wikipedia – der Name deutet es ja auch schon an – jeder mitarbeiten kann, wächst dem Duden Konkurrenz im Netz. Ist dieses nach eigener Beschreibung offene Wörterbuch womöglich die zeitgenössischere Form eines Wörterbuches?
Stefanowitsch: Das kann man wohl sagen. Also, die Duden-Redaktion hat vielleicht auch den Fehler begangen, sich relativ spät ins Netz zu begeben. Also, es gab lange Zeit ein kostenpflichtiges Angebot, das im Netz keine große Rolle gespielt hat, und erst seit einigen Monaten ist der Duden selber auch online komplett frei verfügbar. Und das "Wiktionary" ist sicher ein Beispiel für das, was in diese Lücke, die der Duden da online gelassen hat, sich dort etablieren konnte, und ja, diese Zusammenarbeit vieler beim Erstellen eines vielsprachigen Wörterbuches, da kann eine Dynamik entstehen, die eine Redaktion heute, glaube ich, gar nicht mehr leisten kann.
Allerdings muss man sagen, dass auch die Leute, die das "Wiktionary" machen, natürlich sich versuchen, an den amtlichen Rechtschreibempfehlungen zu orientieren, und da ist vielleicht der eigentliche Haken: Also, die Duden-Redaktion hat lange zeit ihre Autorität dadurch geschöpft, dass das, was man von dort aus vorgegeben hat, durch Gesetzesbeschlüsse als amtlich galt. Und das ist jetzt nicht mehr da. Das heißt, der Duden kann auch nur das machen, was jedes andere Wörterbuch macht, nämlich die amtlichen Vorgaben auf eine bestimmte Art zu interpretieren.
Müller: Also, ein wenig an Autorität hat er eingebüßt, das muss man wahrscheinlich feststellen, …
Stefanowitsch: … ja …
Müller: … die Frage ist, wie wird es weitergehen? Haben wir eine relativ kurze historische Epoche der strengen Standardisierung erlebt und geht es jetzt wieder zurück in die Sprachanarchie aus voraufgeklärter Zeit?
Stefanowitsch: Ich kann es mir vorstellen. Andererseits ist es natürlich so, dass die Sprachtechnologie inzwischen einen Stand erreicht hat, die es möglich macht, dass man die Orthografie gar nicht mehr dem Autor auflastet, der Autor kann im Prinzip schreiben, wie er will, und man könnte sich ohne Probleme vorstellen - zum Teil gibt es das auch schon –, dass dann ein Redaktionssystem eben das in die Rechtschreibung übersetzt, die der Leser gerade möchte. Also, man kann sich durchaus vorstellen, dass derselbe Text von verschiedenen Lesern in verschiedenen Orthografien dann gelesen werden kann, ohne dass der Autor sich da groß Sorgen machen muss.
Müller: Ich kann mir vorstellen, dass es viele Menschen erschreckt, das wäre schon eine seltsame Geschichte für all die, die damit aufgewachsen sind, ordentlich schreiben zu wollen, zu können. Diese eventuelle Sprachanarchie, wäre das per se etwas Schlechtes?
Stefanowitsch: Ich denke, nicht. Ich denke, die Nachteile, die dadurch entstehen, haben ja viel damit zu tun, dass Standardisierung einfach praktische Vorteile hat, und diese praktischen Vorteile können eben inzwischen durch Sprachtechnologie ausgeglichen werden. Im Internet findet man ja auch noch häufig in Foren, in Blogs, da werden Leute kritisiert für ihre Rechtschreibung, nicht so sehr für ihre Ideen. Aber man merkt dann auch, dass es durchaus schon eine Gegenbewegung gibt von Leuten, die sagen, also achte doch darauf, was derjenige zu sagen hat, und nicht auf die orthografische Form, in der er das tut! Und insofern ist das vielleicht was Gutes, weil Inhalte hier in den Vordergrund rücken und die Form, in der das geschieht, in den Hintergrund rückt.
Müller: Noch aber gibt es ihn und er stellt die Regeln auf: der Duden. Sein Schöpfer Konrad Duden starb heute vor 100 Jahren und über die Bedeutung dieses Werkes in digitalen Zeiten sprach ich mit dem Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch. Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.