Wofür es sich zu sterben lohnt
Menschen, die ihre Grundwerte und Denkvoraussetzungen praktizieren, sie glaubwürdig leben und öffentlich dafür geradestehen, nötigen uns Respekt ab. Wie aber ist, wenn sie für ihren Glauben oder ihr politisches Programm zu sterben bereit sind? Stehen die heutzutage unter Fanatismusverdacht? Ist das Wort "Märtyrer" noch ein Ehrentitel und - wer verleiht den eigentlich?
"Warum hast Du das getan?"
"Um Menschen wachzurütteln."
"Womit denn?"
"Indem ich mich verbrannte. Ich weiß nicht, es ist möglich, dass wir bald mehr sein werden… das tut zunächst sehr weh, das bringt Schmerzen, aber…"
Der Prager Student Jan Palach, wenige Stunden vor seinem Tod am 19. Januar 1969.
"Glaubst Du, andere müssten auch so leiden wie Du?"
"..auf dem Scheiterhaufen bleiben…"
"Was?"
"…auf dem Scheiterhaufen bleiben, bis die Zensur abgeschafft ist und das Verbot, Berichte zu verbreiten. Letztendlich müssen die Partei und der Staat jetzt Stellung beziehen, davon hängt alles ab."
"Aber wurde nicht schon genug gelitten? Müssen das andere immer weiter machen?!"
"Sie machen weiter, sie machen weiter! Wir dürfen nicht unbescheiden sein. Ich hab immer gesagt, es wird schlechter, in Vietnam haben sie kleine Kinder verbrannt. Auch dagegen muss man sein. Jetzt ist es genug."
Am 16. Januar 1969, nach der gewaltsamen Niederschlagung des sogenannten Prager Frühlings durch Panzer der Warschauer-Pakt-Staaten, übergoss sich der 21-jährige Jan Palach auf dem Wenzelsplatz in Prag mit Benzin und zündete sich an. Ein Straßenbahnschaffner löschte die Flammen mit seinem Mantel. Im Krankenhaus nahm Hautärztin Frau Dr. Zdena Kmunizkova dieses Gespräch auf. Vermutlich für den tschechischen Geheimdienst. Jan Palach erlag seinen Verbrennungen am drei Tage später.
"Da unser Land davor steht, der Hoffnungslosigkeit zu erliegen, haben wir uns entschlossen, unserem Protest auf diese Weise Ausdruck zu verleihen. Unsere Gruppe Freiwilliger ist dazu bereit, sich für unser Anliegen selbst zu verbrennen. Die Ehre, das erste Los zu ziehen, ist mir zugefallen."
Diesen Abschiedsbrief fand man in Jan Palachs Aktentasche, den Wortlaut klebten Bürgerrechtler Nacht für Nacht an die Hauswände. Obwohl der Text bluffte: Weder gab es eine Gruppe selbstmordgewillter Studenten, noch war irgendjemand ausgelost worden. Für Leonid Breschnjew in Moskau und seine Marionettenregierung in Prag war Jan Palach ein bedauernswerter Wirrkopf. Rund 200.000 Tschechen strömten vor der Karlsuniversität zusammen – heute "Jan-Palach-Platz" genannt – dennoch bewirkte sein Tod politisch 20 Jahre lang zunächst gar nichts. Erst seit der "samtenen Revolution" von 1989 gilt Jan Palach als Märtyrer der Demokratie-Bewegung, als Ikone der Befreiung Tschechiens vom sozialistischen Joch. Wer also verleiht den Ehrentitel "Märtyrer"? Der Getötete sich selbst ? Seine Anhänger ? Die vorherrschende Religion oder Ideologie ? Oder einzig und allein die Geschichte ?
"Märtyrer, wortgeschichtlich vom griechischen "Martys", Zeuge, und "Martyrion", Zeugnis, her kommend, sind Menschen, die um des Bekenntnisses ihres Glaubens willen einen gewaltsamen Tod erleiden, in der erweiterten Bedeutung auch Personen, die für ihre politische Überzeugung Verfolgung und Tod erdulden."
So heißt es, erstaunlich gleichlautend, in den gängigen Lexika. Aber reicht diese Definition aus? Es gibt den Märtyrer, der sein Bekenntnis durch den Freitod bedeutungsvoll macht. Es gibt das wehrlose, unschuldige Opfer politischer oder religiöser Verfolgung. Es gibt den Kämpfer, der im Krieg für seine politischen oder religiösen Werte den Tod findet. Weil in den meisten Begriffsbestimmungen aber von "erleiden" und "erdulden" die Rede ist, meint man landläufig wohl nur den zweiten Typus des wehrlosen Opfers.
"Keine außerchristliche Religion – das Judentum ausgenommen – forderte von ihren Anhängern Bekenntnis und Bekenntnistreue. Kein anderer Kult beanspruchte völlige Hingabe seiner Gläubigen. Der griechischen Religiosität zum Beispiel ist die Existenz und das Wirken der Götter so evident, dass sie weder des Glaubens noch des Zeugnisses bedürfen. Der Tod des Sokrates, der den ihm dargereichten giftigen Schierlingsbecher trank, darf deshalb nicht als Märtyrertod gewertet werden, weil ihm kein Zeugnischarakter zukommt."
Sagt das renommierte Standardlexikon "Religion in Geschichte und Gegenwart." Aber stimmt das? Hatte sich Philosoph Sokrates in Athen im Jahre 399 vor Christus nicht deshalb vergiften lassen, weil er seiner Überzeugung treu blieb, es sei besser, Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu tun?
Der griechische Denker Epiktet und die philosophische Schule der Stoiker lehrten, in der inneren Haltung der "Ataraxie", der vornehmen Gleichgültigkeit gegenüber Lust oder Schmerz, müsse ein Stoiker anstreben, dass seine Worte mit seinen Taten übereinstimmen. Und koste es das Leben.
"Worte, Wünsche, Anordnungen und Verfügungen gewinnen dadurch Gewicht, dass sie ein Sterbender sagt, dass es "letzte Worte" sind. Dafür gibt es in der Bibel eine Fülle von Beispielen, dass in der Todesstunde eines Gottesmannes in besonderer Weise eine Wahrheit aufblitzt, wenn man will, kann man das so sehen, ja."
Matthias Morgenstern, Professor für Judaistik und Religionswissenschaften an der Universität Tübingen, verweist auf einen Grundgedanken, der sich von Jakob über Mose bis zu Homer und Cicero, bei Juden, Griechen und Römern gleichermaßen findet: In der Todesstunde werde die Seele von irdischen Irrtümern frei, sähe also eine - den Lebenden noch teilverborgene - Wahrheit plötzlich ganz und vollkommen. Nachvollziehbar bis heute ist diese Vorstellung, wenn wir dem schriftlichen "letzten Willen" eines Sterbenden mehr Ehrfurcht und Gehorsam entgegenbringen als seinen Einkaufszetteln zu Lebzeiten. Umgekehrt heißt das aber: Ich kann meinem Zeugnis und Bekenntnis das ultimative Gewicht, die größtmögliche Bedeutung verleihen, indem ich meine physische Existenz in die Waagschale werfe.
"Es begab sich aber, dass sieben Brüder samt ihrer Mutter auf Veranlassung des Königs mit Peitschenhieben gezwungen werden sollten, Schweinefleisch zu essen. 'Lieber sterben wir, als die Satzungen der Väter zu treten' sagte einer von ihnen, der das Wort führte. a ergrimmte der König, heizte Tiegel und Kessel an, ließ dem Wortführer die Zunge abschneiden, die Kopfhaut samt den Haaren abziehen und die Gliedmaßen abhacken, während seine Mutter und die übrigen Brüder zusehen mussten. Dann ließ er ihn, ganz und gar verstümmelt, aber noch lebend, über dem heißen Tiegel rösten."
So steht`s im 2. Buch Makkabäer, Kapitel 7. Der rausame griechische König hieß A'tiochus IV, in den Jahren 175 bis 164 v. Chr. verbot er sämtliche jüdische Sitten und Riten, opferte dem Zeus Olympos im Jerusalemer Tempel und entweihte ihn damit. Juden mussten öffentlich ihrem Glauben abschwören und zum Beweis ihrer erfolgreichen Zwangs-Hellenisierung einen Opfertest bestehen.
Der Aufstand gegen Antiochus IV begann übrigens damit, dass ein Priester namens Matatias zuerst den griechischen Beamten erschlug, der das Frevelopfer verlangte und dann einen Mitjuden, der dazu nur all zu gern bereit gewesen war. Nach außen – gegenüber den Verfolgern – ist der Märtyrer ein Kronzeuge der Verteidigung seines Glaubens. Nach innen aber – gegenüber den Mitgliedern der eigenen Volksgruppe oder Religion – ist er ein Zeuge der Anklage. Ein Radikaler, dessen Tod die Gemäßigten tadelt, die feigen Angsthasen beschämt, die lauwarmen Kompromissler diszipliniert oder sogar die Verräter bestraft.
Die Radikalität eines Menschen, der seine Überzeugung mit dem eigenen Leben besiegelt, macht verstehbar, wenn auch nicht entschuldbar, dass aus ehemals Verfolgten recht bald Verfolger wurden. Nachdem 164 v. Chr. der griechische Tyrann Antiochus besiegt und der Tempel wieder gereinigt und geweiht worden war – daran erinnert das Chanukkafest zur Weihnachtszeit – eroberte ein Enkel der Aufständischen, Hasmonäerkönig Hyrkan, große Gebiete in der Umgebung und zwangsbekehrte die dort lebenden Samaritaner und Idumäer zum Judentum. Vielleicht auch deshalb wurden die bluttriefenden Geschichten vom Aufstand der Makkabäer nicht in den Talmud, die Sammlung glaubensverbindlicher jüdischer Schriften, aufgenommen. Wohl aber das Martyrium des Rabbi Akiba, als der römische Kaiser Hadrian im Jahre 132 n.Chr. an die Stelle des zerstörten Jerusalemer Tempels eine heidnische Kultstätte errichten ließ, die Beschneidung verbot und jegliche religiöse Erziehung unter Strafe stellte.
"Er hat dennoch unterrichtet, wurde festgenommen, hingerichtet. Seine Jünger stehen um die Hinrichtungsstätte ein Kontrapunkt zur Passion, die Jünger Jesu sind weggelaufen! – hier stehen die Jünger da und führen einen Dialog bis zum letzten Augenblick mit dem Meister. Und einer fragt: 'So weit soll die Treue gehen, Meister?'"
Joel Berger, pensionierter Landesrabbiner von Württemberg und Dozent für Kulturwissenschaften an der Universität Tübingen, erinnert an eine Handbewegung beim Beten, die sich im Judentum 1900 Jahre lang gehalten hat:
"Und Akiba antwortet: 'Ein Leben lang hab ich mich gegrämt, dass ich die Worte von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Vermögen sollst Du den Herrn lieben…so, und jetzt, wo ich die Gelegenheit habe, soll ich diese vielleicht nicht erfüllen?' Er starb mit den letzten Worten von 'Sch'mah Israel', mit dem jüdischen Glaubensbekenntnis auf seinen Lippen, bis ihm vor Augen dunkel wurde. Bis zum heutigen Tag wird dieser Akt jeden Tag, in jeder Synagoge oder im Privathaus, wo Juden beten, wiederholt. Bei 'Sch'mah Israel' verdeckt man die Augen. Die Erinnerung an das Martyrium von Rabbi Akiba!"
3Joel Berger wurde 1937 in Budapest geboren, sein Vater überlebte die KZ Bergen-Belsen und Theresienstadt, rund 40 Mitglieder seiner Familie wurden ermordet. Sind für ihn alle sechs Millionen Opfer des Naziterrors "Märtyrer"? Auch jene, die sich zum Beispiel als säkularisierte oder ausgesprochen atheistische Juden verstanden?
"Für meine Erinnerung als Überlebender des Holocaust ? Ja ! Schon deshalb, weil ich weiß: Viele traditionstreue, gesetzestreue Juden, die selbst in die Waggons eingestiegen sind und haben gesagt: 'Kommt, wir gehen dem Messias
entgegen.' Ich kann heute schwer auch darüber ohne Regung nachdenken, aber diese Menschen haben diesen Tod selbst auf sich genommen als Gottes Fügung. Sie sind Märtyrer."
Der Märtyrerbegriff lässt sich also von seiner religiösen Bedeutung trennen und auf ethnisch und politisch Verfolgte anwenden. Sieht man das im offiziellen Judentum, sieht das die Mehrheit der Rabbiner weltweit auch so? Dazu Professor Morgenstern:
"Von einem 'offiziellen Judentum' zu sprechen ist deswegen etwas schwierig, weil es keine jüdische 'Kirche' gibt, keine offizielle Instanz, die für alle religiösen Juden spricht. Der Staat Israel, als säkularer Staat, ehrt natürlich alle Opfer des Holocaust, aber der Staat Israel ehrt sie nicht auf Grund ihres Glaubens, sondern er ehrt sie deswegen, weil diese Getöteten, Ermordeten, Teil des jüdischen Volkes waren."
Das leuchtet ein, aber - müssten so verstanden nicht die Opfer aller Völkermorde "Märtyrer" heißen? Von den Indianern Nordamerikas bis zu den Tutsis in Ruanda ? Die Unvergleichlichkeit der Schoah bliebe davon ja unberührt, aber: Es würde den Gedanken populärer machen, dass ein Märtyrer nicht nur "für" etwas Zeugnis ablegt, sondern auch "gegen" etwas Zeugnis ablegt. Gegen die Barbarei, den Rassismus und die ideologische Verblendung seiner Verfolger.
"Wir sollten aus Bruder Brüsewitz weder einen Helden noch einen Märtyrer noch einen Heiligen und erst recht nicht einen Verrückten machen. Er wollte, so hat es unsere Kirchenleitung gesagt, ein Zeuge Jesu Christi sein. Irrend, wie jeder von uns irrend sein kann."
Das sagte der evangelische Bischof Werner Krusche auf dem regionalen Kirchentag in Halle im September 1976. Was war passiert?
"Liebe Brüder und Schwestern, es ist mir schmerzlich, Euch allen diese Schande zuzumuten. In wenigen Stunden soll ich erfahren, dass mein Erlöser lebt."
"Nachdem er diesen Abschiedsbrief geschrieben hatte, fuhr Oskar Brüsewitz, 47, evangelischer Pfarrer in Rippicha/DDR, am 18. August 1976 in das Städtchen Zeitz vor die dortige Michaeliskirche und stellte zwei Plakate auf das Dach seines Wartburg-Pkw: 'Funkspruch an alle : Die Kirche in der DDR klagt den Kommunismus an wegen Unterdrückung in Schulen, an Kindern und Jugendlichen.'"
Noch bevor herbeieilende Stasi-Mitarbeiter die Plakate herunterreißen konnten, hob der Mann im Talar eine große Milchkanne über seinen Kopf, übergoss sich mit rund 20 Litern Benzin und zündete sich an. Oskar Brüsewitz starb am 22. August 76 im Krankenhaus Halle-Dölau. Die SED-Führung ließ keinen einzigen Angehörigen zu ihm. Die Parteizeitung "Neues Deutschland" verhöhnte ihn als psychopathischen Verleumder des Arbeiter- und Bauernparadieses DDR. "Kein Märtyrer, kein Heiliger!", beteuerte auch die Kirchenleitung eilfertig und distanzierte sich von seinem Selbstmord, von der propagandistischen Instrumentalisierung seines Fanals in den West-Medien der Bundesrepublik und – leise, aber unüberhörbar - auch von Oskar Brüsewitz selbst.
"Im Kreiskirchenrat, dessen Vorsitzender ich nun war, hatten wir in fast jeder Sitzung mit irgendwelchen Problemen zu tun um Oskar Brüsewitz. Der Rat zum Wechsel - fälschlich oft dargestellt als Versetzung - noch mal irgendwo neu anzufangen, das ist ja für manchen Menschen auch gut in seiner beruflichen Situation. Nur – wo er auch hingekommen wäre – er wäre überall ein problematischer Mensch gewesen."
Da ist sich sein ehemaliger Vorgesetzter Joachim Hildebrandt mit vielen Weggefährten und vor allem mit der Tochter aus Oskar Brüsewitz` erster Ehe einig. Was westdeutsche Konservative nicht hinderte, 1977 in Bonn ein "Oskar-Brüsewitz"-Dokumentations-Zentrum für die Opfer der SED-Diktatur zu gründen. Es gibt ein "Oekumenischen Heiligenlexikon", das für den 18. August Oskar Brüsewitz als verehrungswürdigen Heiligen empfiehlt. Offenbar kann kein Märtyrer verhindern, dass sein Fanal ideologisch vereinnahmt wird. Oder ist jegliche Märtyrer-Verehrung schon per se eine posthume Instrumentalisierung?
Anders als bei den Opfern des Holocaust und den Millionen Ermordeten politisch motivierter Genozide hinterlässt mancher Märtyrer des Christentums ein ambivalentes Gefühl bei der Nachwelt. Eine leise Skepsis, derer man sich aber sofort schämt. Es ist die Frage: "War sein Tod wirklich nötig oder wäre er vermeidbar gewesen? Hat der Unterdrückte durch seine Dickköpfigkeit nicht manche diplomatische Lösung verhindert?" Niemand sollte aus der warmen Wohnstube heraus den Heldentod bemäkeln. Keiner sollte ignorant und überheblich die Gewissensnöte und politischen Zwänge einer konkreten historischen Situation gering schätzen. Erlaubt sein muss die Frage trotzdem.
"Christen wurden gesteinigt, erschlagen, enthauptet, ertränkt, über Felsklippen gestürzt, skalpiert, mit dem Kopf nach unten gekreuzigt oder erhängt, Raubtieren zum Fraß hingeworfen, von Zugpferden gevierteilt, in siedendes Öl oder kochendes Wasser gesteckt, in Teig umhüllt und gebacken, lebendig begraben oder, noch im 20. Jahrhundert auf Borneo, gegrillt und verspeist."
So lautet die lexikalische Zusammenfassung der Todesarten, die Christen erlitten haben. Und das waren noch die kürzeren Leiden, denn Frauen konnten ins Bordell und Kinder als Sklaven in ferne Länder verbannt werden. Zehn der zwölf ersten Nachfolger des Jesus von Nazareth starben keines natürlichen Todes. Bis der christliche Glaube zur Staatsreligion erhoben wurde durch Kaiser Konstantin im Jahre 313 nach Christus hatten seine Amtsvorgänger Nero und Caligula, Decius und Diokletian die christliche Minderheit als Paspartout-Erklärung für jeglichen Missstand im Reich entdeckt, wie Kirchenvater Tertullian klagt :
"Ob der Tiber sich in die Mauern ergießt oder der Nil nicht über die Äcker steigt – ob Flut oder Dürre, immer heißt es: Christen vor die Löwen, Christen vor die Löwen!"
"Als Polykarp Gott dankte, dass er ihn gewürdigt hatte, dieses Martyrium zu erleben, da loderte das Feuer des Scheiterhaufens zwar mächtig auf, doch es rührte ihn nicht an. Es machte einen Bogen über den Heiligen wie ein vom Wind aufgeblasenes Segel. Sein Fleisch verbrannte nicht, sondern war anzusehen wie Gold und Silber und dabei verbreitete sich ein Wohlgeruch von Weihrauch und Kräutern im Stadion. Schließlich befahl der Richter, dass der Henker käme und ihm mit dem Schwert den Tod gäbe. Was auch geschah."
Je spektakulärer die Foltermethoden und Hinrichtungsarten der römischen Verwaltung wurden, desto populärer wurden die recht bald aufgezeichneten "Gesta Martyrium", die meist mirakulös gefärbten Legenden vom Tode der Märtyrer. Außerdem hatte bereits um 110 nach Christus Ignatius von Antiochien ein Briefzitat des Apostels Paulus an die Gemeinde in Korinth zu einer ganzen Märtyrertheologie weiterentwickelt:
"Denn wie die Leiden Christi überaus reichlich über uns kommen, so ist durch Christus auch unser Trost reichlich. Ja, wir haben den Bescheid erhalten, den Tod erleiden zu müssen, damit wir unser Vertrauen nicht auf uns setzen, sondern auf Gott, der die Toten auferweckt und uns aus solchem Tod erretten wird."
Obwohl im Neuen Testament weder der Begriff "Blutzeuge" noch "Bluttaufe" vorkommen, popularisierten Polykarp und Ignatius den Gedanken, es gäbe einen Dreischritt: Taufe mit Wasser, Taufe mit dem Heiligen Geist, Taufe mit Blut.
Verhöre und Urteilsbegründungen im alten Rom fanden öffentlich statt, was den Angeklagten Gelegenheit gab, noch eine flammende Predigt zu halten, bevor der Scheiterhaufen entflammt wurde. Ihr "Blutzeugnis" wurde durch das "Wortzeugnis" im vorhinein gedeutet, ihre Tapferkeit beeindruckte selbst hartgesottene Heiden und so ging – zumindest für Rom - der Schuss nach hinten los: Christliche Flüchtlinge verbreiteten den Glauben im ganzen Reich, ihre Gemeinden wuchsen explosionsartig, die öffentliche Stimmung kippte zugunsten der Verfolgten. "Das Blut der Märtyrer ist der Same der Kirche", predigte Kirchenvater Tertullian. Kaiser Konstantins Instinkt für Machterhalt spürte das rechtzeitig. Aber: Stimmt der Satz auch heute noch?
"In gewisser Weise könnte man sagen: Einschüchterung zum Teil funktioniert! Dieser Aspekt, dass das Blut der Märtyrer Same der Kirche ist – das können wir im Glauben einfach annehmen im Blick auf die Geschichte. Das führt zur Reinigung der Gemeinde Jesu. Da überlegen sich Leute tiefer: Will ich das? Und die, die dann dabeibleiben, sind dann mit ganzem Herzen dabei."
Im Klartext: Mehr Christen sind wir nicht geworden, aber die Verbliebenen sind es jetzt bewusster. Wolfgang Häde ist mit einer Türkin verheiratet und lebt in einer türkischen Stadt. 0,15 Prozent der 72 Millionen Türken sind keine Muslime, sondern armenische oder griechisch Orthodoxe. Neben21.000 Katholiken bilden rund 3000 Protestanten die kleinste Minderheit innerhalb dieser Minderheit. Wolfgang Hädes Schwager, Necati Aydin, arbeitete in einem protestantischen Verlag. Am 18. April 2007 schnitten ihm fünf Männer die Kehle durch.
"Man hatte sich vorher schon ein paar Mal kurz getroffen und die Männer sagten, dass sie Interesse hätten am christlichen Glauben, man hat Tee zusammen getrunken. Dann kamen noch drei andere Freunde dieser zwei dazu. Aber alle waren vorbereitet gewesen, hatten Messer mitgebracht, Stricke zum Fesseln, Handschuhe und Schreckschusspistolen. Und dann haben sie eben angefangen, plötzlich diese Christen zu fesseln, zu knebeln, sie dann zu foltern und plötzlich schrecklich umzubringen, indem jeweils die Halsschlagader aufgeschnitten wurde."
Drei Verlagsmitarbeiter wurden ermordet, darunter ein Deutscher. Die Täter wurden gefasst, aber die Witwen der Opfer wurden nicht von der Polizei informiert. Für eine Beerdigung fanden sich keine Totengräber; die Überführung des toten Necati Aydin nach Izmit lehnte die Fluggesellschaft ab, weil der Sarg nicht durch den Röntgenapparat der Sicherheitsschleuse passe. Ministerpräsident Erdogan verurteilte das Verbrechen in den Fernsehnachrichten, bedauerte aber so penetrant den Tod des einen Deutschen, dass die Hinterbliebenen der zwei ermordeten Türken sich nur einen Reim drauf machen konnten: Für abtrünnige Muslime, für christliche Konvertiten, hält sich das Mitleid nun mal in Grenzen.
"Schon vor dem Prozess sickerten Vernehmungsprotokolle an die türkischen Medien durch, wo die Mörder zu Protokoll gegeben hatten, dass sie eigentlich, nach den Morden von Malatya, auch mich hätten töten wollen in Izmit, weit entfernt davon."
Sollte Wolfgang Häde dies als fürsorgliche Warnung oder als Drohung lesen? Auf dem Papier ist die Türkei ein säkularer Staat, der Religionsfreiheit gewährt. Volkes Stimmung aber ließ sich schon früher nicht von Paragrafen und politischen Sonntagsreden steuern.
"Das hat dazu geführt, dass damals in unserer kleinen Gemeinde in Izmit nahezu im Wochenrhythmus Fensterscheiben kaputt geworfen wurden, Molotow-Cocktails geworfen wurden und wir persönlich auch einen Drohbrief erhalten hatten, wo uns angedroht wurde, uns auch zu ermorden, falls wir das Land nicht verlassen würden. 2006 wurde ein katholischer Priester in Trapson am Schwarzen Meer erschossen, eben auch ganz eindeutig, weil er Vertreter der Kirche war."
Ganz so eindeutig ist das freilich erst dann, wenn der Mörder dies auch als Motiv nennt. Zum Märtyrer wird man durch den Tod und dessen nachträgliche Deutung. Zum Martyrium aber kommen religiöse Minderheiten schon viel früher und subtiler. In modernen Staaten bisweilen so subtil, dass die Beschwerde darüber leicht als Verfolgungswahn oder Selbstmitleid abgetan werden könnte. Als Wolfgang Hädes Frau Semse und ihr Bruder Necati nach dem Erdbeben vom 17. August 1999 am Marmara-Meer Katastrophenhilfe leisteten, indem sie unter den rund 44.000 Verletzten Lebensmittel verteilten und Campingklos aufstellten, brach währenddessen daheim die Polizei einen Gottesdienst ab und verhaftete alle Anwesenden.
"Das war zum Beispiel damals schon sehr eigenartig, dass die Fernseh-Teams gleich mit der Polizei zusammen kamen."
"Die Festgenommenen wurden auf der Polizeistation höflich behandelt und bald wieder freigelassen. Aber: Wenn man in der Türkei als Kirchgänger im Fernsehen zu sehen war, kann das den Verlust der Familie bedeuten. Und wenn man in Handschellen zu sehen war, den Verlust der Arbeitsstelle."
Georg Friedrich Händels dramatisches Handlungs-Oratorium über die christliche Märtyrerin Theodora – nach nur drei Aufführungen im Jahre 1750 abgesetzt – war bei den Händel-Festspielen in Halle und Salzburg im Sommer 2009 eine Art "Publikums-Hit". Das literarisch erzählte, kunstvoll inszenierte Martyrium standhafter Christinnen und Christen darf man getrost als eine der Hauptquellen der gesamten europäischen Kulturgeschichte bezeichnen.
Neben die neutestamentlichen Bibel-Texte, die das Konzil von Nicäa 347 nach Christus festgelegt hatte, trat eine Flut mündlich überlieferter Märtyrergeschichten, die man zu den Geburts-, Namens- und Todestagen des Betreffenden erzählte, vorlas oder auf Marktplätzen nachspielte. Die mitleidsvolle Ergriffenheit des geneigten Publikums ließ sich leicht in Hass auf die Verfolger ummünzen, wenn man zum Beispiel deklamierte, warum der erste christliche Märtyrer, Stephanus, gesteinigt worden war. Apostelgeschichte, Kapitel 7:
"Stephanus aber, voll Heiligen Geistes, sah auf gen Himmel und sah die Herrlichkeit Gottes und Jesus stehen zur Rechten Gottes und sprach: 'Siehe, ich sehe den Himmel offen und Jesus stehen zur Rechten Gottes!' Da schrien sie laut und stürmten auf ihn ein, stießen ihn zur Stadt hinaus und steinigten ihn."
"Da Stephanus, wie die meisten Jünger von Jesus, Juden waren, könnte man sagen: Stephanus war eigentlich ein jüdischer Märtyrer. Er ist gestorben, weil er in der Jesus-Anhängerschaft stand. Lukas, der Historiker, von dem wir den Bericht über Stephanus haben, führt den Begriff 'Christen' ja erst einige Kapitel später ein. Also gab es 'Christen' zu der Zeit noch gar nicht."
Was Judaistik-Professor Matthias Morgenstern vorsichtig ausdrückt, nennt Rabbiner Joel Berger kurz und spöttisch "Märtyrer-Leasing":
"Märtyrer-Leasing betreiben wir auch. Stephanus war unser Märtyrer, er war Jude. Und ein anderer Jude, Shaul, hat dazu beigetragen, dass er Märtyrer wurde. Ich könnte heute fragen die Kirche: Was geht es Euch an, was damals vor 2000 Jahren Juden mit Juden gemacht haben?! Haben wir Euch je gefragt: Warum habt Ihr die Hugenotten umgebracht, warum habt Ihr die St.-Bartolomäus-Nacht veranstaltet?"
Denn: Auch im Christentum wurden aus den Verfolgten von gestern die Verfolger von morgen. Karl der Große massakrierte die Sachsen, mittelalterliche Stadtväter zettelten Judenpogrome an, Kreuzritter führten Krieg gegen Muslime, Dominikanermönche verbrannten die Katharer, katholische Eroberer vernichteten die südamerikanische Inkas, ihre Bischöfe schickten derweil europäische Protestanten auf die Scheiterhaufen. Lutheraner und Reformierte wiederum töteten tausende von Wiedertäufern und deren theologische Erben beteiligten sich als Missionare an den Kolonialkriegen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Kurz: Die meisten Märtyrer hat das Christentum anderen Religionen und – paradoxerweise - sich selbst beschert.
Dass es oft Richtungs- und Flügelkämpfe innerhalb der eigenen Religion waren, die die meisten Märtyrer hervorbrachten, das hat – ebenfalls paradoxerweise - nicht etwa zu einer Inflation und damit Abwertung des Märtyrertodes geführt, sondern zu seiner fortwährenden Stilisierung. In Gemälden, Gebäuden, Skulpturen, Hymnen und Gedichten, Oratorien und Romanen. Nach den Erzählungen kamen die Bilder: Für eine 1500 Jahre lang weitgehend analphabetische Christenheit mussten die Helden-Epen gemalt werden. Die "biblia pauperi", die Bücher der Armen, gab es als Altar- und Fensterbilder, an Weg-Kreuzungen und Pilgerstationen zu lesen beziehungsweise anzuschauen. Ob hauswandbreit oder amulettklein, ob als gigantisches Deckenfresko in einer Kuppelkathedrale oder als Votiv-Täfelchen in der Hosentasche – die jahrhundertelange Popularität von Folter- und Sterbeszenen christlicher Märtyrer erklärt der atheistische Philosoph Herbert Schnädelbach ganz unschmeichelhaft so :
"Seit dem späten Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert ist die christliche Ikonographie eine Welt von Blut und Wunden. Die Maler und Bildner können sich gar nicht genug tun in der möglichst grausigen Darstellung der physischen Leiden Christi und der unzähligen Märtyrer, so als suchten sie sich darin ständig zu übertreffen. Das Christentum kann sich Glaube-Liebe-Hoffnung nicht ohne Blut vorstellen. Je blutiger, desto authentischer. Woher nähme sonst der von zahlreichen Pfeilen durchbohrte heilige Sebastian seinen verklärten Blick? Sicher wäre es überzogen, die religiöse Bilderwelt mit den Gewaltvideos unserer Tage zu vergleichen. Die Vermutung aber, diese Ikonographie habe auch der mentalen Vorbereitung auf die Grausamkeiten im Namen Christi gedient, lässt sich nur schwer abweisen."
Oder dient derlei Märtyrer-Ikonographie auch dem Vergessenmachen christlicher Grausamkeiten? Der Film "Ben Hur" mit Charlton Heston räumte 1959 elf Oscars ab. Für seine Rolle als Christenverfolger Nero im Film "Quo Vadis" erhielt Peter Ustinov 1952 den "Golden Globe". Und Mel Gibsons religiöse Folter-Orgie "Die Passion Christi" blieb zwar undekoriert, rauschte aber immerhin hoch beachtet durch den Blätterwald. Atheist Herbert Schnädelbach schickt dem religiös pathetischen Kulturschaffen noch einen bitteren Stoßseufzer hinterher:
"Nur die Geschichte der Märtyrer des Humanismus - die muss wohl noch geschrieben werden."
Das stimmt fürs Theater und für die Literatur der letzten 50 Jahre nicht mehr und auch im streng historischen Sinne nur bedingt: Frühe "Aufklärer" wie Galileo Galilei oder Leonardo Da Vinci verstanden sich zeitlebens als gläubige Christen. Giordano Bruno wird mitten in Rom mit einem Denkmal geehrt. Die Vordenker humanistisch-demokratischer Ideale in den USA – von William Penn und Thomas Jefferson bis zu Henry David Thoreau – waren ebenso freigeistig wie fromm. Die Kämpfer gegen Sklaverei und Rassismus - von William Wilberforce bis Martin Luther King- - begründeten dies mit ihrem christlichen Glauben. Jeder hingerichtete Vertreter der Aufklärung ist ganz sicher als "Zeuge gegen" die Barbarei und den Gesinnungsterror der Kirche gestorben - als "Zeugen für" einen modernen Atheismus jedoch starben sie deshalb nicht immer. Sollten auch hier Märtyrer-Ehrung und ideologische Vereinnahmung dicht nebeneinander liegen?
Politische Oppositionelle, die für den Humanismus und die demokratischen Grund- und Menschenrechte zu Märtyrern werden, berufen sich gegenüber ihren Unterdrückern auf ein für sie geltendes, höheres Moralgesetz. Alle religiösen Dissidenten tun das, das taten schon Petrus und Johannes, zwei der ersten Jünger des Jesus von Nazareth, vor jüdischen und römischen Gerichten:
"Urteilt doch selbst, ob es richtig wäre, E u c h mehr zu gehorchen als Gott. Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen!"
Martin Luther vor Kaiser Karl V. auf dem Reichstag zu Worms - "Hier stehe ich, ich kann nicht anders" – hat unseren Applaus, die Widerstandskämpfer im Dritten Reich vor Richter Roland Freisler sowieso, die ermordete Tschetschenien-Reporterin Anna Politkowskaja ebenfalls. Erst wenn russlanddeutsche Evangelikale gegen die allgemeine Schulpflicht verstoßen und ihre Kinder zu Hause unterrichten; erst wenn muslimische Schwarzafrikaner ihre Töchter beschneiden oder anatolische Muslime sich in Ehe- und Erziehungsfragen auf die Scharia berufen, wird die Sache unangenehm und hochemotional. Nein, westliche Demokratien sind keine Unterdrückungssysteme, aber, nun ja, von manchen werden sie trotzdem so empfunden. Schlechte Karten hat in der Öffentlichkeit das historische Verständnis des Begriffes "Märtyrer" im Islam:
"Es gab den heiligen Krieg nicht nur gegen die Kreuzzügler, da gab es später den heiligen Krieg gegen die imperialistischen Bewegungen. Dann, im 20. Jahrhundert, gab es den heiligen Krieg gegen den britischen Kolonialismus, gegen den Zionismus. Und dabei starben auch Kämpfer und die wurden als islamische Märtyrer angesehen."
Joseph Croitoru aus Freiburg ist Historiker und Journalist bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Buchautor und Islamexperte. Neben dem tragisch zum Freitod Gezwungenen und dem wehrlosen Opfer von Pogromen hat ab dem 7. Jahrhundert der Islam einen Märtyrertypus Nr. 3 populär gemacht: Den Menschen, der im "Jihad", im aktiven Kampf für seinen Glauben, ums Leben kommt.
Anders als es in hitzigen Diskussionen bisweilen historisch vereinfacht wird, haben nämlich nicht erst katholische Kreuzritter im Hochmittelalter den Muslimen einen Verteidigungskrieg aufgezwungen, sondern fanden vorher und 400 Jahre lang schon arabische Expansionskriege statt – gegen die Bürger von Medina, gegen die Kopten in Ägypten, gegen die Anhänger des Zaratustra im alten Persien. Die Kämpfer werden in der islamischen Geschichtsschreibung als "Märtyrer" verehrt.
"Die christlichen Märtyrer waren solche, die von anderen getötet wurden. Die islamischen Märtyrer, die chronologisch einfach darauf folgten, waren die Schlachtfeld-Märtyrer. Es waren dann nicht nur Menschen, die von anderen getötet wurden, sondern auch andere töteten. Da gab es also den ersten grundsätzlichen Unterschied zwischen Islam und Christentum."
Anders als im Christentum, ähnlich wie im Judentum, entscheiden im Islam drei Kriterien, wer als Märtyrer geehrt wird: Die Popularität des Getöteten, der weitere Verlauf der Geschichte und – die Selbstinterpretation des Toten, meint Joseph Croitoru.
"Die Selbstinterpretation des eigenen Martyriums ist im Islam nicht nur zulässig, sondern sie ist Teil der islamischen Tradition. Denn Menschen, die in den ersten Jahrhunderten der Expansion des Islams zum Kampf aufgebrochen waren, hatten irgendeine Äußerung zu hinterlassen, für die Nachwelt, über ihr bevorstehendes Martyrium, für den Fall, dass sie auf dem Schlachtfeld umkommen. "
Das war und ist bei den Märtyrern aller Religionen so und hat sich bis ins 21. Jahrhundert erhalten:"Mein Leben und Sterben gehört Allah", schrieb Mohammed Atta auf das Deckblatt einer Examensarbeit an der technischen Universität Hamburg-Harburg. Er steuerte das erste Flugzeug in die Türme des World Trade Centers in Manhattan.
"Die Attentäter des 11. September sind nach gängiger islamischer Auffassung durchaus Märtyrer gewesen. Viele in der islamischen Welt sehen sie als Märtyrer, auch wenn sie von anderen wiederum als Verbrecher betrachtet werden. Manche mögen sie bewundern, andere verurteilen sie, aber sie sind auf Grund der Spektakularität dieser Attentate sozusagen die Promis unter den islamischen Selbstmordattentätern."
Die Idee des Selbstmord-Attentats stamme freilich weder aus dem Islam noch sei sie überhaupt islamisch zu begründen, schreibt Joseph Croitoru in seinem Buch "Der Märtyrer als Waffe", sondern war nachweislich ein Import der Ideologie shintoistischer japanischer Kamikaze-Piloten im Zweiten Weltkrieg, von denen sich 1972 palästinensische Terroristen inspiriert fühlten. Historiker Joseph Croitoru aus Freiburg verabscheut mit der überwältigenden Mehrheit der Muslime und mit allen Juden, Christen und Atheisten den Selbstmordattentäter, der ja nicht nur unschuldige Andersdenkende, sondern auch Mitglieder der eigenen Religion in den Tod reißt. Seine Forschungen über die nachträgliche Deutung und Bewertung eines Märtyrertodes aber laden zu einem ketzerischen Gedankenspiel ein: Was wäre, wenn in 50 oder 100 Jahren palästinensische Nationalisten, ägyptische Konservative oder iranische Schiiten in Hamburg-Harburg in der Marienstraße jenes Haus kauften, in dem Mohammed Atta bis zum 11.September 2001 gewohnt hatte und eine Gedenktafel anbringen wollten?
"Es ist ja nicht im Sinne einer bürgerlichen Ordnung, die nach einer Verfassung eingerichtet wurde, an Verbrecher zu erinnern. Und deshalb könnte, wollte und dürfte man auch nicht an eine Person wie Mohammed Atta in einer deutschen Stadt öffentlich erinnern."
"Stell Dir eine Welt vor, in der es nichts mehr gibt, wofür es sich zu sterben oder zu töten lohnt" – John Lennons Wunsch aus dem Jahre 1971 ist nicht in Erfüllung gegangen, im Gegenteil. Einer Kommission aus 130 Kirchenhistorikern und Theologen wurden auf Anregung von Papst Johannes Paul II nicht weniger als 12.692 Märtyrer des 20. Jahrhunderts gemeldet, von denen 700 römisch-katholische in ein sogenanntes "Martyrologium des 20. Jahrhunderts" aufgenommen wurden. In den 26 Jahren seines Pontifikats sprach Johannes Paul II 1.338 Katholiken "selig" und 482 "heilig". Mehr als alle Päpste in fast 1800 Jahren zusammen. Die Evangelische Kirche Deutschlands veröffentlichte im März 2006 eine wissenschaftliche Dokumentation von rund 500 Einzelschicksalen getöteter Christinnen und Christen und – da muss man Atheist Herbert Schnädelbach recht geben – eine offizielle Liste der Märtyrer des religionslosen Humanismus steht noch aus.
Die Frage, welcher Religion oder Konfession ein Märtyrer "gehört", ist keine akademische Spitzfindigkeit. Sie hat konkrete Auswirkungen auf die Zuständigkeit solidarischer Helfer oder gar Lebensretter für aktuell verfolgte Menschen. Wem sollte von wem geholfen werden? Zu Zeiten des Kalten Krieges war das politisch eindeutig, wenn auch moralisch zweifelhaft: Linke Solidaritätskomitees unterstützten die Opfer rechter Militärdiktaturen in Lateinamerika; rechte Hilfsorganisationen setzten sich für die Freilassung von Dissidenten in der Sowjetunion ein. Und einzig "amnesty international" bewies hartnäckig seine politische und religiöse Neutralität im Namen aller Verfolgten. Heute ist der "Bedarfs-Feststellungsplan" für Solidarität unübersichtlicher geworden.
"Es kann nicht sein, dass wir Menschen unterstützen, die aus Dummheit oder Selbstverschulden heraus sich etwas einbrocken, was ihnen dann nachher zum Nachteil wird. Es ist schon ein sehr wichtiges Kriterium, dass das Ganze sich auf den christlichen Glauben bezieht. Aber wir wissen ja, dass es in kommunistischen Ländern und natürlich noch viel stärker auch in islamischen Ländern der Fall ist, dass Christen für manche eine Bedrohung darstellen und dass sie deswegen gehindert werden, ihren Glauben frei auszuleben."
Theologin und Menschenrechtsaktivistin Margret Maier aus Kelsterbach bei Frankfurt organisiert Hilfsgütertransporte für die Angehörigen inhaftierter Christen in Nordkorea. Das ist im stalinistischen Hunger-Gulag rund um Pjöngjang eine für beide Seiten – Überbringer und Empfänger - knifflige Unternehmung, weil außer Lebensmitteln, Medikamenten und Elektrogeräten vor allem Bibeln und koreanische Literatur nachgefragt werden.
"Weil man ja nicht einfach mit dicken Paketen in das Land reisen kann, ist der Transfer in das Land hinein wirklich gefährlich. Ich kann Ihnen natürlich jetzt nicht sagen, wie das geschieht, aber ich weiß, dass sehr mutige Menschen das Risiko auf sich nehmen, weil ihnen die Menschen so sehr am Herzen liegen, dass sie sagen: Ich bin bereit, das Risiko zu tragen. Ich solidarisiere mich und hoffe einfach auf den Schutz und die Hilfe Gottes, dass das alles gut geht. Wir wissen, dass einige an der Grenze erwischt worden sind und das war für sie nicht nur das Aus des Dienstes, sondern das bedeutete für einige den Tod und für andere, dass sie ins Arbeitslager gekommen sind."
Margret Maier war selbst schon in Nordkorea und weiß, dass auch Atheisten, Buddhisten oder Taoisten gute Gründe haben, gegen das Terror-Regime des Kim Jong Il zu sein. Sie weiß, dass selbst bei den Katholiken, Protestanten und Evangelikalen des Landes möglicherweise ein Mosaik aus verschiedenen Motiven vorliegt, warum sie sich dem Totalitätsanspruch der Kommunistischen Partei verweigern. Trotzdem hält sie daran fest, die ihr zur Verfügung stehenden Spendengelder zuerst denjenigen zukommen zu lassen, die wegen ihres Christseins und wegen nichts sonst verfolgt werden.
"Ich bin davon überzeugt, dass die meisten, auch wenn es Mischmotive sein mögen, dennoch wissen, wofür sie sterben. Also sich nur aufzulehnen gegen das Regime, wenn es sie dann das Leben kostet, wäre ihnen wahrscheinlich nicht Grund genug. Regimekritiker werden in der Regel sofort erschossen, damit sich das gar nicht erst verbreitet, während wir herausgefunden haben, dass gerade die Christen, die als Märtyrer sterben, sich oft gar nicht um die Politik groß scheren."
Gleichwohl ist die heikle Gratwanderung solcher "Märtyrer-Solidarität" offensichtlich: Wer darf von ihr profitieren und wer wird als "nicht verfolgt" eingestuft? Wem hilft es und wen gefährdet es, wenn er aus dem Ausland unterstützt wird? Und: Ermutigt Hilfe von außen die Unterdrückten zu nur noch radikalerem Widerstand oder raten die Helfer auch mal zu Rückzug und Kompromiss? Das sei, sagt Margret Meier, von Nordkorea über China bis nach Pakistan und Saudi-Arabien natürlich von Fall zu Fall verschieden. Grundlegend und prinzipiell aber fühlt sie sich dem Grundgedanken des "weltweiten Leibes Christi" verpflichtet:
"Der Leib ist ja ein sehr schönes Bild, das deutlich macht, dass da alle Glieder, alles, was zum Körper gehört, aneinandergebunden sind und einfach eins sind. Wir beten alle das Vaterunser und in dieser Tatsache des Leibes Christi steckt einfach auch automatisch die Solidarität untereinander, die Verbundenheit und damit auch die Verantwortung. Ich übernehme für die Glieder am Leib Christi, die Verantwortung, die Schmerzen haben, die unter Bedrohung stehen, die gefoltert werden, die im Gefängnis sitzen, da wo ich die Möglichkeiten habe."
Ob jemand, der für seine politische oder religiöse Überzeugung zu sterben bereit ist, als heiliger Märtyrer geehrt oder als verblendeter Radikaler geächtet wird, entscheiden die Geschichte, das nachfolgende Kulturschaffen und der jeweils eigene weltanschauliche Blickwinkel. Ob überhaupt und wofür es sich zu sterben lohnt, auch das mag eine individuelle Frage sein. Judaistik-Experte Professor Matthias Morgenstern gibt aber zu bedenken:
"Das ist eine Frage, die jeder Mensch für sich selbst beantworten muss. Für mich selbst würde ich sagen: Wenn es gar nichts gibt, wofür es sich zu sterben lohnt, dann gibt es wahrscheinlich auch nichts, für das es sich zu leben lohnt."
"Um Menschen wachzurütteln."
"Womit denn?"
"Indem ich mich verbrannte. Ich weiß nicht, es ist möglich, dass wir bald mehr sein werden… das tut zunächst sehr weh, das bringt Schmerzen, aber…"
Der Prager Student Jan Palach, wenige Stunden vor seinem Tod am 19. Januar 1969.
"Glaubst Du, andere müssten auch so leiden wie Du?"
"..auf dem Scheiterhaufen bleiben…"
"Was?"
"…auf dem Scheiterhaufen bleiben, bis die Zensur abgeschafft ist und das Verbot, Berichte zu verbreiten. Letztendlich müssen die Partei und der Staat jetzt Stellung beziehen, davon hängt alles ab."
"Aber wurde nicht schon genug gelitten? Müssen das andere immer weiter machen?!"
"Sie machen weiter, sie machen weiter! Wir dürfen nicht unbescheiden sein. Ich hab immer gesagt, es wird schlechter, in Vietnam haben sie kleine Kinder verbrannt. Auch dagegen muss man sein. Jetzt ist es genug."
Am 16. Januar 1969, nach der gewaltsamen Niederschlagung des sogenannten Prager Frühlings durch Panzer der Warschauer-Pakt-Staaten, übergoss sich der 21-jährige Jan Palach auf dem Wenzelsplatz in Prag mit Benzin und zündete sich an. Ein Straßenbahnschaffner löschte die Flammen mit seinem Mantel. Im Krankenhaus nahm Hautärztin Frau Dr. Zdena Kmunizkova dieses Gespräch auf. Vermutlich für den tschechischen Geheimdienst. Jan Palach erlag seinen Verbrennungen am drei Tage später.
"Da unser Land davor steht, der Hoffnungslosigkeit zu erliegen, haben wir uns entschlossen, unserem Protest auf diese Weise Ausdruck zu verleihen. Unsere Gruppe Freiwilliger ist dazu bereit, sich für unser Anliegen selbst zu verbrennen. Die Ehre, das erste Los zu ziehen, ist mir zugefallen."
Diesen Abschiedsbrief fand man in Jan Palachs Aktentasche, den Wortlaut klebten Bürgerrechtler Nacht für Nacht an die Hauswände. Obwohl der Text bluffte: Weder gab es eine Gruppe selbstmordgewillter Studenten, noch war irgendjemand ausgelost worden. Für Leonid Breschnjew in Moskau und seine Marionettenregierung in Prag war Jan Palach ein bedauernswerter Wirrkopf. Rund 200.000 Tschechen strömten vor der Karlsuniversität zusammen – heute "Jan-Palach-Platz" genannt – dennoch bewirkte sein Tod politisch 20 Jahre lang zunächst gar nichts. Erst seit der "samtenen Revolution" von 1989 gilt Jan Palach als Märtyrer der Demokratie-Bewegung, als Ikone der Befreiung Tschechiens vom sozialistischen Joch. Wer also verleiht den Ehrentitel "Märtyrer"? Der Getötete sich selbst ? Seine Anhänger ? Die vorherrschende Religion oder Ideologie ? Oder einzig und allein die Geschichte ?
"Märtyrer, wortgeschichtlich vom griechischen "Martys", Zeuge, und "Martyrion", Zeugnis, her kommend, sind Menschen, die um des Bekenntnisses ihres Glaubens willen einen gewaltsamen Tod erleiden, in der erweiterten Bedeutung auch Personen, die für ihre politische Überzeugung Verfolgung und Tod erdulden."
So heißt es, erstaunlich gleichlautend, in den gängigen Lexika. Aber reicht diese Definition aus? Es gibt den Märtyrer, der sein Bekenntnis durch den Freitod bedeutungsvoll macht. Es gibt das wehrlose, unschuldige Opfer politischer oder religiöser Verfolgung. Es gibt den Kämpfer, der im Krieg für seine politischen oder religiösen Werte den Tod findet. Weil in den meisten Begriffsbestimmungen aber von "erleiden" und "erdulden" die Rede ist, meint man landläufig wohl nur den zweiten Typus des wehrlosen Opfers.
"Keine außerchristliche Religion – das Judentum ausgenommen – forderte von ihren Anhängern Bekenntnis und Bekenntnistreue. Kein anderer Kult beanspruchte völlige Hingabe seiner Gläubigen. Der griechischen Religiosität zum Beispiel ist die Existenz und das Wirken der Götter so evident, dass sie weder des Glaubens noch des Zeugnisses bedürfen. Der Tod des Sokrates, der den ihm dargereichten giftigen Schierlingsbecher trank, darf deshalb nicht als Märtyrertod gewertet werden, weil ihm kein Zeugnischarakter zukommt."
Sagt das renommierte Standardlexikon "Religion in Geschichte und Gegenwart." Aber stimmt das? Hatte sich Philosoph Sokrates in Athen im Jahre 399 vor Christus nicht deshalb vergiften lassen, weil er seiner Überzeugung treu blieb, es sei besser, Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu tun?
Der griechische Denker Epiktet und die philosophische Schule der Stoiker lehrten, in der inneren Haltung der "Ataraxie", der vornehmen Gleichgültigkeit gegenüber Lust oder Schmerz, müsse ein Stoiker anstreben, dass seine Worte mit seinen Taten übereinstimmen. Und koste es das Leben.
"Worte, Wünsche, Anordnungen und Verfügungen gewinnen dadurch Gewicht, dass sie ein Sterbender sagt, dass es "letzte Worte" sind. Dafür gibt es in der Bibel eine Fülle von Beispielen, dass in der Todesstunde eines Gottesmannes in besonderer Weise eine Wahrheit aufblitzt, wenn man will, kann man das so sehen, ja."
Matthias Morgenstern, Professor für Judaistik und Religionswissenschaften an der Universität Tübingen, verweist auf einen Grundgedanken, der sich von Jakob über Mose bis zu Homer und Cicero, bei Juden, Griechen und Römern gleichermaßen findet: In der Todesstunde werde die Seele von irdischen Irrtümern frei, sähe also eine - den Lebenden noch teilverborgene - Wahrheit plötzlich ganz und vollkommen. Nachvollziehbar bis heute ist diese Vorstellung, wenn wir dem schriftlichen "letzten Willen" eines Sterbenden mehr Ehrfurcht und Gehorsam entgegenbringen als seinen Einkaufszetteln zu Lebzeiten. Umgekehrt heißt das aber: Ich kann meinem Zeugnis und Bekenntnis das ultimative Gewicht, die größtmögliche Bedeutung verleihen, indem ich meine physische Existenz in die Waagschale werfe.
"Es begab sich aber, dass sieben Brüder samt ihrer Mutter auf Veranlassung des Königs mit Peitschenhieben gezwungen werden sollten, Schweinefleisch zu essen. 'Lieber sterben wir, als die Satzungen der Väter zu treten' sagte einer von ihnen, der das Wort führte. a ergrimmte der König, heizte Tiegel und Kessel an, ließ dem Wortführer die Zunge abschneiden, die Kopfhaut samt den Haaren abziehen und die Gliedmaßen abhacken, während seine Mutter und die übrigen Brüder zusehen mussten. Dann ließ er ihn, ganz und gar verstümmelt, aber noch lebend, über dem heißen Tiegel rösten."
So steht`s im 2. Buch Makkabäer, Kapitel 7. Der rausame griechische König hieß A'tiochus IV, in den Jahren 175 bis 164 v. Chr. verbot er sämtliche jüdische Sitten und Riten, opferte dem Zeus Olympos im Jerusalemer Tempel und entweihte ihn damit. Juden mussten öffentlich ihrem Glauben abschwören und zum Beweis ihrer erfolgreichen Zwangs-Hellenisierung einen Opfertest bestehen.
Der Aufstand gegen Antiochus IV begann übrigens damit, dass ein Priester namens Matatias zuerst den griechischen Beamten erschlug, der das Frevelopfer verlangte und dann einen Mitjuden, der dazu nur all zu gern bereit gewesen war. Nach außen – gegenüber den Verfolgern – ist der Märtyrer ein Kronzeuge der Verteidigung seines Glaubens. Nach innen aber – gegenüber den Mitgliedern der eigenen Volksgruppe oder Religion – ist er ein Zeuge der Anklage. Ein Radikaler, dessen Tod die Gemäßigten tadelt, die feigen Angsthasen beschämt, die lauwarmen Kompromissler diszipliniert oder sogar die Verräter bestraft.
Die Radikalität eines Menschen, der seine Überzeugung mit dem eigenen Leben besiegelt, macht verstehbar, wenn auch nicht entschuldbar, dass aus ehemals Verfolgten recht bald Verfolger wurden. Nachdem 164 v. Chr. der griechische Tyrann Antiochus besiegt und der Tempel wieder gereinigt und geweiht worden war – daran erinnert das Chanukkafest zur Weihnachtszeit – eroberte ein Enkel der Aufständischen, Hasmonäerkönig Hyrkan, große Gebiete in der Umgebung und zwangsbekehrte die dort lebenden Samaritaner und Idumäer zum Judentum. Vielleicht auch deshalb wurden die bluttriefenden Geschichten vom Aufstand der Makkabäer nicht in den Talmud, die Sammlung glaubensverbindlicher jüdischer Schriften, aufgenommen. Wohl aber das Martyrium des Rabbi Akiba, als der römische Kaiser Hadrian im Jahre 132 n.Chr. an die Stelle des zerstörten Jerusalemer Tempels eine heidnische Kultstätte errichten ließ, die Beschneidung verbot und jegliche religiöse Erziehung unter Strafe stellte.
"Er hat dennoch unterrichtet, wurde festgenommen, hingerichtet. Seine Jünger stehen um die Hinrichtungsstätte ein Kontrapunkt zur Passion, die Jünger Jesu sind weggelaufen! – hier stehen die Jünger da und führen einen Dialog bis zum letzten Augenblick mit dem Meister. Und einer fragt: 'So weit soll die Treue gehen, Meister?'"
Joel Berger, pensionierter Landesrabbiner von Württemberg und Dozent für Kulturwissenschaften an der Universität Tübingen, erinnert an eine Handbewegung beim Beten, die sich im Judentum 1900 Jahre lang gehalten hat:
"Und Akiba antwortet: 'Ein Leben lang hab ich mich gegrämt, dass ich die Worte von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Vermögen sollst Du den Herrn lieben…so, und jetzt, wo ich die Gelegenheit habe, soll ich diese vielleicht nicht erfüllen?' Er starb mit den letzten Worten von 'Sch'mah Israel', mit dem jüdischen Glaubensbekenntnis auf seinen Lippen, bis ihm vor Augen dunkel wurde. Bis zum heutigen Tag wird dieser Akt jeden Tag, in jeder Synagoge oder im Privathaus, wo Juden beten, wiederholt. Bei 'Sch'mah Israel' verdeckt man die Augen. Die Erinnerung an das Martyrium von Rabbi Akiba!"
3Joel Berger wurde 1937 in Budapest geboren, sein Vater überlebte die KZ Bergen-Belsen und Theresienstadt, rund 40 Mitglieder seiner Familie wurden ermordet. Sind für ihn alle sechs Millionen Opfer des Naziterrors "Märtyrer"? Auch jene, die sich zum Beispiel als säkularisierte oder ausgesprochen atheistische Juden verstanden?
"Für meine Erinnerung als Überlebender des Holocaust ? Ja ! Schon deshalb, weil ich weiß: Viele traditionstreue, gesetzestreue Juden, die selbst in die Waggons eingestiegen sind und haben gesagt: 'Kommt, wir gehen dem Messias
entgegen.' Ich kann heute schwer auch darüber ohne Regung nachdenken, aber diese Menschen haben diesen Tod selbst auf sich genommen als Gottes Fügung. Sie sind Märtyrer."
Der Märtyrerbegriff lässt sich also von seiner religiösen Bedeutung trennen und auf ethnisch und politisch Verfolgte anwenden. Sieht man das im offiziellen Judentum, sieht das die Mehrheit der Rabbiner weltweit auch so? Dazu Professor Morgenstern:
"Von einem 'offiziellen Judentum' zu sprechen ist deswegen etwas schwierig, weil es keine jüdische 'Kirche' gibt, keine offizielle Instanz, die für alle religiösen Juden spricht. Der Staat Israel, als säkularer Staat, ehrt natürlich alle Opfer des Holocaust, aber der Staat Israel ehrt sie nicht auf Grund ihres Glaubens, sondern er ehrt sie deswegen, weil diese Getöteten, Ermordeten, Teil des jüdischen Volkes waren."
Das leuchtet ein, aber - müssten so verstanden nicht die Opfer aller Völkermorde "Märtyrer" heißen? Von den Indianern Nordamerikas bis zu den Tutsis in Ruanda ? Die Unvergleichlichkeit der Schoah bliebe davon ja unberührt, aber: Es würde den Gedanken populärer machen, dass ein Märtyrer nicht nur "für" etwas Zeugnis ablegt, sondern auch "gegen" etwas Zeugnis ablegt. Gegen die Barbarei, den Rassismus und die ideologische Verblendung seiner Verfolger.
"Wir sollten aus Bruder Brüsewitz weder einen Helden noch einen Märtyrer noch einen Heiligen und erst recht nicht einen Verrückten machen. Er wollte, so hat es unsere Kirchenleitung gesagt, ein Zeuge Jesu Christi sein. Irrend, wie jeder von uns irrend sein kann."
Das sagte der evangelische Bischof Werner Krusche auf dem regionalen Kirchentag in Halle im September 1976. Was war passiert?
"Liebe Brüder und Schwestern, es ist mir schmerzlich, Euch allen diese Schande zuzumuten. In wenigen Stunden soll ich erfahren, dass mein Erlöser lebt."
"Nachdem er diesen Abschiedsbrief geschrieben hatte, fuhr Oskar Brüsewitz, 47, evangelischer Pfarrer in Rippicha/DDR, am 18. August 1976 in das Städtchen Zeitz vor die dortige Michaeliskirche und stellte zwei Plakate auf das Dach seines Wartburg-Pkw: 'Funkspruch an alle : Die Kirche in der DDR klagt den Kommunismus an wegen Unterdrückung in Schulen, an Kindern und Jugendlichen.'"
Noch bevor herbeieilende Stasi-Mitarbeiter die Plakate herunterreißen konnten, hob der Mann im Talar eine große Milchkanne über seinen Kopf, übergoss sich mit rund 20 Litern Benzin und zündete sich an. Oskar Brüsewitz starb am 22. August 76 im Krankenhaus Halle-Dölau. Die SED-Führung ließ keinen einzigen Angehörigen zu ihm. Die Parteizeitung "Neues Deutschland" verhöhnte ihn als psychopathischen Verleumder des Arbeiter- und Bauernparadieses DDR. "Kein Märtyrer, kein Heiliger!", beteuerte auch die Kirchenleitung eilfertig und distanzierte sich von seinem Selbstmord, von der propagandistischen Instrumentalisierung seines Fanals in den West-Medien der Bundesrepublik und – leise, aber unüberhörbar - auch von Oskar Brüsewitz selbst.
"Im Kreiskirchenrat, dessen Vorsitzender ich nun war, hatten wir in fast jeder Sitzung mit irgendwelchen Problemen zu tun um Oskar Brüsewitz. Der Rat zum Wechsel - fälschlich oft dargestellt als Versetzung - noch mal irgendwo neu anzufangen, das ist ja für manchen Menschen auch gut in seiner beruflichen Situation. Nur – wo er auch hingekommen wäre – er wäre überall ein problematischer Mensch gewesen."
Da ist sich sein ehemaliger Vorgesetzter Joachim Hildebrandt mit vielen Weggefährten und vor allem mit der Tochter aus Oskar Brüsewitz` erster Ehe einig. Was westdeutsche Konservative nicht hinderte, 1977 in Bonn ein "Oskar-Brüsewitz"-Dokumentations-Zentrum für die Opfer der SED-Diktatur zu gründen. Es gibt ein "Oekumenischen Heiligenlexikon", das für den 18. August Oskar Brüsewitz als verehrungswürdigen Heiligen empfiehlt. Offenbar kann kein Märtyrer verhindern, dass sein Fanal ideologisch vereinnahmt wird. Oder ist jegliche Märtyrer-Verehrung schon per se eine posthume Instrumentalisierung?
Anders als bei den Opfern des Holocaust und den Millionen Ermordeten politisch motivierter Genozide hinterlässt mancher Märtyrer des Christentums ein ambivalentes Gefühl bei der Nachwelt. Eine leise Skepsis, derer man sich aber sofort schämt. Es ist die Frage: "War sein Tod wirklich nötig oder wäre er vermeidbar gewesen? Hat der Unterdrückte durch seine Dickköpfigkeit nicht manche diplomatische Lösung verhindert?" Niemand sollte aus der warmen Wohnstube heraus den Heldentod bemäkeln. Keiner sollte ignorant und überheblich die Gewissensnöte und politischen Zwänge einer konkreten historischen Situation gering schätzen. Erlaubt sein muss die Frage trotzdem.
"Christen wurden gesteinigt, erschlagen, enthauptet, ertränkt, über Felsklippen gestürzt, skalpiert, mit dem Kopf nach unten gekreuzigt oder erhängt, Raubtieren zum Fraß hingeworfen, von Zugpferden gevierteilt, in siedendes Öl oder kochendes Wasser gesteckt, in Teig umhüllt und gebacken, lebendig begraben oder, noch im 20. Jahrhundert auf Borneo, gegrillt und verspeist."
So lautet die lexikalische Zusammenfassung der Todesarten, die Christen erlitten haben. Und das waren noch die kürzeren Leiden, denn Frauen konnten ins Bordell und Kinder als Sklaven in ferne Länder verbannt werden. Zehn der zwölf ersten Nachfolger des Jesus von Nazareth starben keines natürlichen Todes. Bis der christliche Glaube zur Staatsreligion erhoben wurde durch Kaiser Konstantin im Jahre 313 nach Christus hatten seine Amtsvorgänger Nero und Caligula, Decius und Diokletian die christliche Minderheit als Paspartout-Erklärung für jeglichen Missstand im Reich entdeckt, wie Kirchenvater Tertullian klagt :
"Ob der Tiber sich in die Mauern ergießt oder der Nil nicht über die Äcker steigt – ob Flut oder Dürre, immer heißt es: Christen vor die Löwen, Christen vor die Löwen!"
"Als Polykarp Gott dankte, dass er ihn gewürdigt hatte, dieses Martyrium zu erleben, da loderte das Feuer des Scheiterhaufens zwar mächtig auf, doch es rührte ihn nicht an. Es machte einen Bogen über den Heiligen wie ein vom Wind aufgeblasenes Segel. Sein Fleisch verbrannte nicht, sondern war anzusehen wie Gold und Silber und dabei verbreitete sich ein Wohlgeruch von Weihrauch und Kräutern im Stadion. Schließlich befahl der Richter, dass der Henker käme und ihm mit dem Schwert den Tod gäbe. Was auch geschah."
Je spektakulärer die Foltermethoden und Hinrichtungsarten der römischen Verwaltung wurden, desto populärer wurden die recht bald aufgezeichneten "Gesta Martyrium", die meist mirakulös gefärbten Legenden vom Tode der Märtyrer. Außerdem hatte bereits um 110 nach Christus Ignatius von Antiochien ein Briefzitat des Apostels Paulus an die Gemeinde in Korinth zu einer ganzen Märtyrertheologie weiterentwickelt:
"Denn wie die Leiden Christi überaus reichlich über uns kommen, so ist durch Christus auch unser Trost reichlich. Ja, wir haben den Bescheid erhalten, den Tod erleiden zu müssen, damit wir unser Vertrauen nicht auf uns setzen, sondern auf Gott, der die Toten auferweckt und uns aus solchem Tod erretten wird."
Obwohl im Neuen Testament weder der Begriff "Blutzeuge" noch "Bluttaufe" vorkommen, popularisierten Polykarp und Ignatius den Gedanken, es gäbe einen Dreischritt: Taufe mit Wasser, Taufe mit dem Heiligen Geist, Taufe mit Blut.
Verhöre und Urteilsbegründungen im alten Rom fanden öffentlich statt, was den Angeklagten Gelegenheit gab, noch eine flammende Predigt zu halten, bevor der Scheiterhaufen entflammt wurde. Ihr "Blutzeugnis" wurde durch das "Wortzeugnis" im vorhinein gedeutet, ihre Tapferkeit beeindruckte selbst hartgesottene Heiden und so ging – zumindest für Rom - der Schuss nach hinten los: Christliche Flüchtlinge verbreiteten den Glauben im ganzen Reich, ihre Gemeinden wuchsen explosionsartig, die öffentliche Stimmung kippte zugunsten der Verfolgten. "Das Blut der Märtyrer ist der Same der Kirche", predigte Kirchenvater Tertullian. Kaiser Konstantins Instinkt für Machterhalt spürte das rechtzeitig. Aber: Stimmt der Satz auch heute noch?
"In gewisser Weise könnte man sagen: Einschüchterung zum Teil funktioniert! Dieser Aspekt, dass das Blut der Märtyrer Same der Kirche ist – das können wir im Glauben einfach annehmen im Blick auf die Geschichte. Das führt zur Reinigung der Gemeinde Jesu. Da überlegen sich Leute tiefer: Will ich das? Und die, die dann dabeibleiben, sind dann mit ganzem Herzen dabei."
Im Klartext: Mehr Christen sind wir nicht geworden, aber die Verbliebenen sind es jetzt bewusster. Wolfgang Häde ist mit einer Türkin verheiratet und lebt in einer türkischen Stadt. 0,15 Prozent der 72 Millionen Türken sind keine Muslime, sondern armenische oder griechisch Orthodoxe. Neben21.000 Katholiken bilden rund 3000 Protestanten die kleinste Minderheit innerhalb dieser Minderheit. Wolfgang Hädes Schwager, Necati Aydin, arbeitete in einem protestantischen Verlag. Am 18. April 2007 schnitten ihm fünf Männer die Kehle durch.
"Man hatte sich vorher schon ein paar Mal kurz getroffen und die Männer sagten, dass sie Interesse hätten am christlichen Glauben, man hat Tee zusammen getrunken. Dann kamen noch drei andere Freunde dieser zwei dazu. Aber alle waren vorbereitet gewesen, hatten Messer mitgebracht, Stricke zum Fesseln, Handschuhe und Schreckschusspistolen. Und dann haben sie eben angefangen, plötzlich diese Christen zu fesseln, zu knebeln, sie dann zu foltern und plötzlich schrecklich umzubringen, indem jeweils die Halsschlagader aufgeschnitten wurde."
Drei Verlagsmitarbeiter wurden ermordet, darunter ein Deutscher. Die Täter wurden gefasst, aber die Witwen der Opfer wurden nicht von der Polizei informiert. Für eine Beerdigung fanden sich keine Totengräber; die Überführung des toten Necati Aydin nach Izmit lehnte die Fluggesellschaft ab, weil der Sarg nicht durch den Röntgenapparat der Sicherheitsschleuse passe. Ministerpräsident Erdogan verurteilte das Verbrechen in den Fernsehnachrichten, bedauerte aber so penetrant den Tod des einen Deutschen, dass die Hinterbliebenen der zwei ermordeten Türken sich nur einen Reim drauf machen konnten: Für abtrünnige Muslime, für christliche Konvertiten, hält sich das Mitleid nun mal in Grenzen.
"Schon vor dem Prozess sickerten Vernehmungsprotokolle an die türkischen Medien durch, wo die Mörder zu Protokoll gegeben hatten, dass sie eigentlich, nach den Morden von Malatya, auch mich hätten töten wollen in Izmit, weit entfernt davon."
Sollte Wolfgang Häde dies als fürsorgliche Warnung oder als Drohung lesen? Auf dem Papier ist die Türkei ein säkularer Staat, der Religionsfreiheit gewährt. Volkes Stimmung aber ließ sich schon früher nicht von Paragrafen und politischen Sonntagsreden steuern.
"Das hat dazu geführt, dass damals in unserer kleinen Gemeinde in Izmit nahezu im Wochenrhythmus Fensterscheiben kaputt geworfen wurden, Molotow-Cocktails geworfen wurden und wir persönlich auch einen Drohbrief erhalten hatten, wo uns angedroht wurde, uns auch zu ermorden, falls wir das Land nicht verlassen würden. 2006 wurde ein katholischer Priester in Trapson am Schwarzen Meer erschossen, eben auch ganz eindeutig, weil er Vertreter der Kirche war."
Ganz so eindeutig ist das freilich erst dann, wenn der Mörder dies auch als Motiv nennt. Zum Märtyrer wird man durch den Tod und dessen nachträgliche Deutung. Zum Martyrium aber kommen religiöse Minderheiten schon viel früher und subtiler. In modernen Staaten bisweilen so subtil, dass die Beschwerde darüber leicht als Verfolgungswahn oder Selbstmitleid abgetan werden könnte. Als Wolfgang Hädes Frau Semse und ihr Bruder Necati nach dem Erdbeben vom 17. August 1999 am Marmara-Meer Katastrophenhilfe leisteten, indem sie unter den rund 44.000 Verletzten Lebensmittel verteilten und Campingklos aufstellten, brach währenddessen daheim die Polizei einen Gottesdienst ab und verhaftete alle Anwesenden.
"Das war zum Beispiel damals schon sehr eigenartig, dass die Fernseh-Teams gleich mit der Polizei zusammen kamen."
"Die Festgenommenen wurden auf der Polizeistation höflich behandelt und bald wieder freigelassen. Aber: Wenn man in der Türkei als Kirchgänger im Fernsehen zu sehen war, kann das den Verlust der Familie bedeuten. Und wenn man in Handschellen zu sehen war, den Verlust der Arbeitsstelle."
Georg Friedrich Händels dramatisches Handlungs-Oratorium über die christliche Märtyrerin Theodora – nach nur drei Aufführungen im Jahre 1750 abgesetzt – war bei den Händel-Festspielen in Halle und Salzburg im Sommer 2009 eine Art "Publikums-Hit". Das literarisch erzählte, kunstvoll inszenierte Martyrium standhafter Christinnen und Christen darf man getrost als eine der Hauptquellen der gesamten europäischen Kulturgeschichte bezeichnen.
Neben die neutestamentlichen Bibel-Texte, die das Konzil von Nicäa 347 nach Christus festgelegt hatte, trat eine Flut mündlich überlieferter Märtyrergeschichten, die man zu den Geburts-, Namens- und Todestagen des Betreffenden erzählte, vorlas oder auf Marktplätzen nachspielte. Die mitleidsvolle Ergriffenheit des geneigten Publikums ließ sich leicht in Hass auf die Verfolger ummünzen, wenn man zum Beispiel deklamierte, warum der erste christliche Märtyrer, Stephanus, gesteinigt worden war. Apostelgeschichte, Kapitel 7:
"Stephanus aber, voll Heiligen Geistes, sah auf gen Himmel und sah die Herrlichkeit Gottes und Jesus stehen zur Rechten Gottes und sprach: 'Siehe, ich sehe den Himmel offen und Jesus stehen zur Rechten Gottes!' Da schrien sie laut und stürmten auf ihn ein, stießen ihn zur Stadt hinaus und steinigten ihn."
"Da Stephanus, wie die meisten Jünger von Jesus, Juden waren, könnte man sagen: Stephanus war eigentlich ein jüdischer Märtyrer. Er ist gestorben, weil er in der Jesus-Anhängerschaft stand. Lukas, der Historiker, von dem wir den Bericht über Stephanus haben, führt den Begriff 'Christen' ja erst einige Kapitel später ein. Also gab es 'Christen' zu der Zeit noch gar nicht."
Was Judaistik-Professor Matthias Morgenstern vorsichtig ausdrückt, nennt Rabbiner Joel Berger kurz und spöttisch "Märtyrer-Leasing":
"Märtyrer-Leasing betreiben wir auch. Stephanus war unser Märtyrer, er war Jude. Und ein anderer Jude, Shaul, hat dazu beigetragen, dass er Märtyrer wurde. Ich könnte heute fragen die Kirche: Was geht es Euch an, was damals vor 2000 Jahren Juden mit Juden gemacht haben?! Haben wir Euch je gefragt: Warum habt Ihr die Hugenotten umgebracht, warum habt Ihr die St.-Bartolomäus-Nacht veranstaltet?"
Denn: Auch im Christentum wurden aus den Verfolgten von gestern die Verfolger von morgen. Karl der Große massakrierte die Sachsen, mittelalterliche Stadtväter zettelten Judenpogrome an, Kreuzritter führten Krieg gegen Muslime, Dominikanermönche verbrannten die Katharer, katholische Eroberer vernichteten die südamerikanische Inkas, ihre Bischöfe schickten derweil europäische Protestanten auf die Scheiterhaufen. Lutheraner und Reformierte wiederum töteten tausende von Wiedertäufern und deren theologische Erben beteiligten sich als Missionare an den Kolonialkriegen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Kurz: Die meisten Märtyrer hat das Christentum anderen Religionen und – paradoxerweise - sich selbst beschert.
Dass es oft Richtungs- und Flügelkämpfe innerhalb der eigenen Religion waren, die die meisten Märtyrer hervorbrachten, das hat – ebenfalls paradoxerweise - nicht etwa zu einer Inflation und damit Abwertung des Märtyrertodes geführt, sondern zu seiner fortwährenden Stilisierung. In Gemälden, Gebäuden, Skulpturen, Hymnen und Gedichten, Oratorien und Romanen. Nach den Erzählungen kamen die Bilder: Für eine 1500 Jahre lang weitgehend analphabetische Christenheit mussten die Helden-Epen gemalt werden. Die "biblia pauperi", die Bücher der Armen, gab es als Altar- und Fensterbilder, an Weg-Kreuzungen und Pilgerstationen zu lesen beziehungsweise anzuschauen. Ob hauswandbreit oder amulettklein, ob als gigantisches Deckenfresko in einer Kuppelkathedrale oder als Votiv-Täfelchen in der Hosentasche – die jahrhundertelange Popularität von Folter- und Sterbeszenen christlicher Märtyrer erklärt der atheistische Philosoph Herbert Schnädelbach ganz unschmeichelhaft so :
"Seit dem späten Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert ist die christliche Ikonographie eine Welt von Blut und Wunden. Die Maler und Bildner können sich gar nicht genug tun in der möglichst grausigen Darstellung der physischen Leiden Christi und der unzähligen Märtyrer, so als suchten sie sich darin ständig zu übertreffen. Das Christentum kann sich Glaube-Liebe-Hoffnung nicht ohne Blut vorstellen. Je blutiger, desto authentischer. Woher nähme sonst der von zahlreichen Pfeilen durchbohrte heilige Sebastian seinen verklärten Blick? Sicher wäre es überzogen, die religiöse Bilderwelt mit den Gewaltvideos unserer Tage zu vergleichen. Die Vermutung aber, diese Ikonographie habe auch der mentalen Vorbereitung auf die Grausamkeiten im Namen Christi gedient, lässt sich nur schwer abweisen."
Oder dient derlei Märtyrer-Ikonographie auch dem Vergessenmachen christlicher Grausamkeiten? Der Film "Ben Hur" mit Charlton Heston räumte 1959 elf Oscars ab. Für seine Rolle als Christenverfolger Nero im Film "Quo Vadis" erhielt Peter Ustinov 1952 den "Golden Globe". Und Mel Gibsons religiöse Folter-Orgie "Die Passion Christi" blieb zwar undekoriert, rauschte aber immerhin hoch beachtet durch den Blätterwald. Atheist Herbert Schnädelbach schickt dem religiös pathetischen Kulturschaffen noch einen bitteren Stoßseufzer hinterher:
"Nur die Geschichte der Märtyrer des Humanismus - die muss wohl noch geschrieben werden."
Das stimmt fürs Theater und für die Literatur der letzten 50 Jahre nicht mehr und auch im streng historischen Sinne nur bedingt: Frühe "Aufklärer" wie Galileo Galilei oder Leonardo Da Vinci verstanden sich zeitlebens als gläubige Christen. Giordano Bruno wird mitten in Rom mit einem Denkmal geehrt. Die Vordenker humanistisch-demokratischer Ideale in den USA – von William Penn und Thomas Jefferson bis zu Henry David Thoreau – waren ebenso freigeistig wie fromm. Die Kämpfer gegen Sklaverei und Rassismus - von William Wilberforce bis Martin Luther King- - begründeten dies mit ihrem christlichen Glauben. Jeder hingerichtete Vertreter der Aufklärung ist ganz sicher als "Zeuge gegen" die Barbarei und den Gesinnungsterror der Kirche gestorben - als "Zeugen für" einen modernen Atheismus jedoch starben sie deshalb nicht immer. Sollten auch hier Märtyrer-Ehrung und ideologische Vereinnahmung dicht nebeneinander liegen?
Politische Oppositionelle, die für den Humanismus und die demokratischen Grund- und Menschenrechte zu Märtyrern werden, berufen sich gegenüber ihren Unterdrückern auf ein für sie geltendes, höheres Moralgesetz. Alle religiösen Dissidenten tun das, das taten schon Petrus und Johannes, zwei der ersten Jünger des Jesus von Nazareth, vor jüdischen und römischen Gerichten:
"Urteilt doch selbst, ob es richtig wäre, E u c h mehr zu gehorchen als Gott. Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen!"
Martin Luther vor Kaiser Karl V. auf dem Reichstag zu Worms - "Hier stehe ich, ich kann nicht anders" – hat unseren Applaus, die Widerstandskämpfer im Dritten Reich vor Richter Roland Freisler sowieso, die ermordete Tschetschenien-Reporterin Anna Politkowskaja ebenfalls. Erst wenn russlanddeutsche Evangelikale gegen die allgemeine Schulpflicht verstoßen und ihre Kinder zu Hause unterrichten; erst wenn muslimische Schwarzafrikaner ihre Töchter beschneiden oder anatolische Muslime sich in Ehe- und Erziehungsfragen auf die Scharia berufen, wird die Sache unangenehm und hochemotional. Nein, westliche Demokratien sind keine Unterdrückungssysteme, aber, nun ja, von manchen werden sie trotzdem so empfunden. Schlechte Karten hat in der Öffentlichkeit das historische Verständnis des Begriffes "Märtyrer" im Islam:
"Es gab den heiligen Krieg nicht nur gegen die Kreuzzügler, da gab es später den heiligen Krieg gegen die imperialistischen Bewegungen. Dann, im 20. Jahrhundert, gab es den heiligen Krieg gegen den britischen Kolonialismus, gegen den Zionismus. Und dabei starben auch Kämpfer und die wurden als islamische Märtyrer angesehen."
Joseph Croitoru aus Freiburg ist Historiker und Journalist bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Buchautor und Islamexperte. Neben dem tragisch zum Freitod Gezwungenen und dem wehrlosen Opfer von Pogromen hat ab dem 7. Jahrhundert der Islam einen Märtyrertypus Nr. 3 populär gemacht: Den Menschen, der im "Jihad", im aktiven Kampf für seinen Glauben, ums Leben kommt.
Anders als es in hitzigen Diskussionen bisweilen historisch vereinfacht wird, haben nämlich nicht erst katholische Kreuzritter im Hochmittelalter den Muslimen einen Verteidigungskrieg aufgezwungen, sondern fanden vorher und 400 Jahre lang schon arabische Expansionskriege statt – gegen die Bürger von Medina, gegen die Kopten in Ägypten, gegen die Anhänger des Zaratustra im alten Persien. Die Kämpfer werden in der islamischen Geschichtsschreibung als "Märtyrer" verehrt.
"Die christlichen Märtyrer waren solche, die von anderen getötet wurden. Die islamischen Märtyrer, die chronologisch einfach darauf folgten, waren die Schlachtfeld-Märtyrer. Es waren dann nicht nur Menschen, die von anderen getötet wurden, sondern auch andere töteten. Da gab es also den ersten grundsätzlichen Unterschied zwischen Islam und Christentum."
Anders als im Christentum, ähnlich wie im Judentum, entscheiden im Islam drei Kriterien, wer als Märtyrer geehrt wird: Die Popularität des Getöteten, der weitere Verlauf der Geschichte und – die Selbstinterpretation des Toten, meint Joseph Croitoru.
"Die Selbstinterpretation des eigenen Martyriums ist im Islam nicht nur zulässig, sondern sie ist Teil der islamischen Tradition. Denn Menschen, die in den ersten Jahrhunderten der Expansion des Islams zum Kampf aufgebrochen waren, hatten irgendeine Äußerung zu hinterlassen, für die Nachwelt, über ihr bevorstehendes Martyrium, für den Fall, dass sie auf dem Schlachtfeld umkommen. "
Das war und ist bei den Märtyrern aller Religionen so und hat sich bis ins 21. Jahrhundert erhalten:"Mein Leben und Sterben gehört Allah", schrieb Mohammed Atta auf das Deckblatt einer Examensarbeit an der technischen Universität Hamburg-Harburg. Er steuerte das erste Flugzeug in die Türme des World Trade Centers in Manhattan.
"Die Attentäter des 11. September sind nach gängiger islamischer Auffassung durchaus Märtyrer gewesen. Viele in der islamischen Welt sehen sie als Märtyrer, auch wenn sie von anderen wiederum als Verbrecher betrachtet werden. Manche mögen sie bewundern, andere verurteilen sie, aber sie sind auf Grund der Spektakularität dieser Attentate sozusagen die Promis unter den islamischen Selbstmordattentätern."
Die Idee des Selbstmord-Attentats stamme freilich weder aus dem Islam noch sei sie überhaupt islamisch zu begründen, schreibt Joseph Croitoru in seinem Buch "Der Märtyrer als Waffe", sondern war nachweislich ein Import der Ideologie shintoistischer japanischer Kamikaze-Piloten im Zweiten Weltkrieg, von denen sich 1972 palästinensische Terroristen inspiriert fühlten. Historiker Joseph Croitoru aus Freiburg verabscheut mit der überwältigenden Mehrheit der Muslime und mit allen Juden, Christen und Atheisten den Selbstmordattentäter, der ja nicht nur unschuldige Andersdenkende, sondern auch Mitglieder der eigenen Religion in den Tod reißt. Seine Forschungen über die nachträgliche Deutung und Bewertung eines Märtyrertodes aber laden zu einem ketzerischen Gedankenspiel ein: Was wäre, wenn in 50 oder 100 Jahren palästinensische Nationalisten, ägyptische Konservative oder iranische Schiiten in Hamburg-Harburg in der Marienstraße jenes Haus kauften, in dem Mohammed Atta bis zum 11.September 2001 gewohnt hatte und eine Gedenktafel anbringen wollten?
"Es ist ja nicht im Sinne einer bürgerlichen Ordnung, die nach einer Verfassung eingerichtet wurde, an Verbrecher zu erinnern. Und deshalb könnte, wollte und dürfte man auch nicht an eine Person wie Mohammed Atta in einer deutschen Stadt öffentlich erinnern."
"Stell Dir eine Welt vor, in der es nichts mehr gibt, wofür es sich zu sterben oder zu töten lohnt" – John Lennons Wunsch aus dem Jahre 1971 ist nicht in Erfüllung gegangen, im Gegenteil. Einer Kommission aus 130 Kirchenhistorikern und Theologen wurden auf Anregung von Papst Johannes Paul II nicht weniger als 12.692 Märtyrer des 20. Jahrhunderts gemeldet, von denen 700 römisch-katholische in ein sogenanntes "Martyrologium des 20. Jahrhunderts" aufgenommen wurden. In den 26 Jahren seines Pontifikats sprach Johannes Paul II 1.338 Katholiken "selig" und 482 "heilig". Mehr als alle Päpste in fast 1800 Jahren zusammen. Die Evangelische Kirche Deutschlands veröffentlichte im März 2006 eine wissenschaftliche Dokumentation von rund 500 Einzelschicksalen getöteter Christinnen und Christen und – da muss man Atheist Herbert Schnädelbach recht geben – eine offizielle Liste der Märtyrer des religionslosen Humanismus steht noch aus.
Die Frage, welcher Religion oder Konfession ein Märtyrer "gehört", ist keine akademische Spitzfindigkeit. Sie hat konkrete Auswirkungen auf die Zuständigkeit solidarischer Helfer oder gar Lebensretter für aktuell verfolgte Menschen. Wem sollte von wem geholfen werden? Zu Zeiten des Kalten Krieges war das politisch eindeutig, wenn auch moralisch zweifelhaft: Linke Solidaritätskomitees unterstützten die Opfer rechter Militärdiktaturen in Lateinamerika; rechte Hilfsorganisationen setzten sich für die Freilassung von Dissidenten in der Sowjetunion ein. Und einzig "amnesty international" bewies hartnäckig seine politische und religiöse Neutralität im Namen aller Verfolgten. Heute ist der "Bedarfs-Feststellungsplan" für Solidarität unübersichtlicher geworden.
"Es kann nicht sein, dass wir Menschen unterstützen, die aus Dummheit oder Selbstverschulden heraus sich etwas einbrocken, was ihnen dann nachher zum Nachteil wird. Es ist schon ein sehr wichtiges Kriterium, dass das Ganze sich auf den christlichen Glauben bezieht. Aber wir wissen ja, dass es in kommunistischen Ländern und natürlich noch viel stärker auch in islamischen Ländern der Fall ist, dass Christen für manche eine Bedrohung darstellen und dass sie deswegen gehindert werden, ihren Glauben frei auszuleben."
Theologin und Menschenrechtsaktivistin Margret Maier aus Kelsterbach bei Frankfurt organisiert Hilfsgütertransporte für die Angehörigen inhaftierter Christen in Nordkorea. Das ist im stalinistischen Hunger-Gulag rund um Pjöngjang eine für beide Seiten – Überbringer und Empfänger - knifflige Unternehmung, weil außer Lebensmitteln, Medikamenten und Elektrogeräten vor allem Bibeln und koreanische Literatur nachgefragt werden.
"Weil man ja nicht einfach mit dicken Paketen in das Land reisen kann, ist der Transfer in das Land hinein wirklich gefährlich. Ich kann Ihnen natürlich jetzt nicht sagen, wie das geschieht, aber ich weiß, dass sehr mutige Menschen das Risiko auf sich nehmen, weil ihnen die Menschen so sehr am Herzen liegen, dass sie sagen: Ich bin bereit, das Risiko zu tragen. Ich solidarisiere mich und hoffe einfach auf den Schutz und die Hilfe Gottes, dass das alles gut geht. Wir wissen, dass einige an der Grenze erwischt worden sind und das war für sie nicht nur das Aus des Dienstes, sondern das bedeutete für einige den Tod und für andere, dass sie ins Arbeitslager gekommen sind."
Margret Maier war selbst schon in Nordkorea und weiß, dass auch Atheisten, Buddhisten oder Taoisten gute Gründe haben, gegen das Terror-Regime des Kim Jong Il zu sein. Sie weiß, dass selbst bei den Katholiken, Protestanten und Evangelikalen des Landes möglicherweise ein Mosaik aus verschiedenen Motiven vorliegt, warum sie sich dem Totalitätsanspruch der Kommunistischen Partei verweigern. Trotzdem hält sie daran fest, die ihr zur Verfügung stehenden Spendengelder zuerst denjenigen zukommen zu lassen, die wegen ihres Christseins und wegen nichts sonst verfolgt werden.
"Ich bin davon überzeugt, dass die meisten, auch wenn es Mischmotive sein mögen, dennoch wissen, wofür sie sterben. Also sich nur aufzulehnen gegen das Regime, wenn es sie dann das Leben kostet, wäre ihnen wahrscheinlich nicht Grund genug. Regimekritiker werden in der Regel sofort erschossen, damit sich das gar nicht erst verbreitet, während wir herausgefunden haben, dass gerade die Christen, die als Märtyrer sterben, sich oft gar nicht um die Politik groß scheren."
Gleichwohl ist die heikle Gratwanderung solcher "Märtyrer-Solidarität" offensichtlich: Wer darf von ihr profitieren und wer wird als "nicht verfolgt" eingestuft? Wem hilft es und wen gefährdet es, wenn er aus dem Ausland unterstützt wird? Und: Ermutigt Hilfe von außen die Unterdrückten zu nur noch radikalerem Widerstand oder raten die Helfer auch mal zu Rückzug und Kompromiss? Das sei, sagt Margret Meier, von Nordkorea über China bis nach Pakistan und Saudi-Arabien natürlich von Fall zu Fall verschieden. Grundlegend und prinzipiell aber fühlt sie sich dem Grundgedanken des "weltweiten Leibes Christi" verpflichtet:
"Der Leib ist ja ein sehr schönes Bild, das deutlich macht, dass da alle Glieder, alles, was zum Körper gehört, aneinandergebunden sind und einfach eins sind. Wir beten alle das Vaterunser und in dieser Tatsache des Leibes Christi steckt einfach auch automatisch die Solidarität untereinander, die Verbundenheit und damit auch die Verantwortung. Ich übernehme für die Glieder am Leib Christi, die Verantwortung, die Schmerzen haben, die unter Bedrohung stehen, die gefoltert werden, die im Gefängnis sitzen, da wo ich die Möglichkeiten habe."
Ob jemand, der für seine politische oder religiöse Überzeugung zu sterben bereit ist, als heiliger Märtyrer geehrt oder als verblendeter Radikaler geächtet wird, entscheiden die Geschichte, das nachfolgende Kulturschaffen und der jeweils eigene weltanschauliche Blickwinkel. Ob überhaupt und wofür es sich zu sterben lohnt, auch das mag eine individuelle Frage sein. Judaistik-Experte Professor Matthias Morgenstern gibt aber zu bedenken:
"Das ist eine Frage, die jeder Mensch für sich selbst beantworten muss. Für mich selbst würde ich sagen: Wenn es gar nichts gibt, wofür es sich zu sterben lohnt, dann gibt es wahrscheinlich auch nichts, für das es sich zu leben lohnt."