Wohl oder Verderben
Jede neue Technik birgt ihre spezifischen Risiken und niemand weiß, was aus ihr einmal werden wird. Eine Garantie, dass kommende Technologien katastrophenfrei sind, gibt es nicht. Dennoch besteht Anlass zu Optimismus, meint Ulrich Woelk.
"Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand", giften drei Hexen voller Schadenfreude in Theodor Fontanes Gedicht "Die Brücke am Tay", einer Ballade, die Fontane unter dem Eindruck einer Eisenbahnkatastrophe in Schottland geschrieben hatte. Dort war am 28. Dezember 1879 eine neu errichtete Brücke nach nur anderthalb Jahren bei der Überfahrt eines Zuges eingestürzt und hatte 75 Menschen mit sich in den Tod gerissen.
Weit über hundert Jahre ist das nun her, doch die Hexen – von Fontane dem Shakespeare'schen Schotten-Drama "Macbeth" entlehnt – haben sich noch keineswegs zur Ruhe gesetzt: Sei es der Untergang der Titanic, der Absturz der Hindenburg, die Explosion der Challenger, das ICE-Unglück von Eschede, oder – jüngstes Beispiel – die Katastrophe von Fukushima: welche Technik auch immer zum Einsatz kommt – der zugehörige GAU lässt nicht lange auf sich warten.
Was kommt also noch alles auf uns zu? Der Absturz eines Megaliners mit fast tausend Passagieren an Bord? Ein Crash der weltweiten Datennetze aufgrund eines winzigen Kurzschlusses? Ein superresistenter Krankheitserreger aus den Gen-Labors der Pharmaindustrie?
Und wer garantiert uns, dass all die wundersamen heutigen und zukünftigen Technologien nicht in falsche Hände geraten und für terroristische Anschläge genutzt werden oder zum Führen von Kriegen? Dass sie nicht, statt dem Wohl der Menschheit zu dienen, ihr Verderben herbeiführen? Und dass wir den Geistern, die wir gerufen haben, auch wirklich gewachsen sind?
Die Antwort ist ernüchternd: niemand. Es gibt keine Garantie dafür, dass alles gut wird. Jede neue Erkenntnis und jede daraus resultierende Technik birgt ihre spezifischen Gefahren, und niemand ist in der Lage, diese von Anfang an zu erkennen.
Als Albert Einstein die allgemeine Relativitätstheorie aufstellte, gab es lediglich zwei winzige kosmische Effekte, die sich damit erklären ließen. Weder Einstein noch sonst jemand zu seiner Zeit konnte ahnen, dass eine derart hochspezielle Theorie jemals praktische Relevanz erlangen würde. Und doch ist sie heute ein fundamentaler Baustein aller Navigationssysteme, ganz gleich ob in unserem Privat-PKW, an Bord eines Ozeanriesens oder im Steuerungssystem einer Drohne oder einer Cruise Missile.
"Ich glaube, auf dem Weltmarkt besteht Bedarf für fünf Computer, nicht mehr", soll Thomas Watson, der Gründer von IBM, in den 40er-Jahren gesagt haben – zugegeben zu einer Zeit, als Lochkartenmaschinen und Röhrenkalkulatoren gerade mal die Grundrechenarten beherrschten und so groß waren wie Turnhallen.
Doch Tatsache ist nun einmal: Niemand weiß, was aus einer Technologie einmal werden wird. Technologien entwickeln sich nicht linear, sondern evolutionär. 1984 dachten viele bei der beginnenden Verkabelung und Vernetzung der Gesellschaft eher an den Überwachungsstaat. Dass soziale Netzwerke auch eine demokratisierende Wirkung haben können und von Diktatoren keineswegs begrüßt, sondern bekämpft werden, war damals noch nicht zu sehen.
Vielleicht erscheint dies manch einem zu optimistisch, aber im Grunde bin ich der Meinung, dass Technologien, die am Ende keinen echten Nutzen mit sich bringen, nicht weiter entwickelt werden. Bei der Kernkraft wird man sehen, wie es ausgeht. Zumeist haben Katastrophen die Entwicklung einer Technologie nicht aufhalten können. Dass nach der Hindenburg-Katastrophe die Entwicklung der Luftschifffahrt nicht weiter vorangetrieben wurde, lag weniger am Absturz selbst, als vielmehr an der aufkommenden Konkurrenz durch Verkehrsmaschinen, die als Lufttransportsystem schneller, flexibler und effizienter waren. Wenn regenerative Energien gegenüber herkömmlichen Kraftwerkstechnologien einen vergleichbaren Vorteil haben, werden sie sich auch durchsetzen. Doch wirklich voraussagen lässt sich das nicht. Und eine Garantie, dass irgendeine der kommenden Technologien gleichsam katastrophenfrei ist, gibt es schon gar nicht.
Die Shakespeare-Fontaneschen Hexen werden auch in Zukunft nicht ruhen. "Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand." Das stimmt. Ich kenne Fontanes Ballade übrigens schon lange, aber das Datum der zugrunde liegenden Eisenbahnkatastrophe habe ich für dieses Feuilleton ergooglet. Ja ja, die Technik ist Tand - aber manchmal ist sie doch auch ganz nützlich.
Ulrich Woelk, geboren 1960 in Köln, studierte Physik in Tübingen und Berlin. Sein erster Roman, "Freigang", erschien 1990 im S. Fischer Verlag und wurde mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Seit 1995 lebt Woelk als freier Schriftsteller in Berlin. Seine Romane und Essays sind unter anderem ins Chinesische, Französische, Englische und Polnische übersetzt. Zuletzt erschien "Joana Mandelbrot und ich".
Weit über hundert Jahre ist das nun her, doch die Hexen – von Fontane dem Shakespeare'schen Schotten-Drama "Macbeth" entlehnt – haben sich noch keineswegs zur Ruhe gesetzt: Sei es der Untergang der Titanic, der Absturz der Hindenburg, die Explosion der Challenger, das ICE-Unglück von Eschede, oder – jüngstes Beispiel – die Katastrophe von Fukushima: welche Technik auch immer zum Einsatz kommt – der zugehörige GAU lässt nicht lange auf sich warten.
Was kommt also noch alles auf uns zu? Der Absturz eines Megaliners mit fast tausend Passagieren an Bord? Ein Crash der weltweiten Datennetze aufgrund eines winzigen Kurzschlusses? Ein superresistenter Krankheitserreger aus den Gen-Labors der Pharmaindustrie?
Und wer garantiert uns, dass all die wundersamen heutigen und zukünftigen Technologien nicht in falsche Hände geraten und für terroristische Anschläge genutzt werden oder zum Führen von Kriegen? Dass sie nicht, statt dem Wohl der Menschheit zu dienen, ihr Verderben herbeiführen? Und dass wir den Geistern, die wir gerufen haben, auch wirklich gewachsen sind?
Die Antwort ist ernüchternd: niemand. Es gibt keine Garantie dafür, dass alles gut wird. Jede neue Erkenntnis und jede daraus resultierende Technik birgt ihre spezifischen Gefahren, und niemand ist in der Lage, diese von Anfang an zu erkennen.
Als Albert Einstein die allgemeine Relativitätstheorie aufstellte, gab es lediglich zwei winzige kosmische Effekte, die sich damit erklären ließen. Weder Einstein noch sonst jemand zu seiner Zeit konnte ahnen, dass eine derart hochspezielle Theorie jemals praktische Relevanz erlangen würde. Und doch ist sie heute ein fundamentaler Baustein aller Navigationssysteme, ganz gleich ob in unserem Privat-PKW, an Bord eines Ozeanriesens oder im Steuerungssystem einer Drohne oder einer Cruise Missile.
"Ich glaube, auf dem Weltmarkt besteht Bedarf für fünf Computer, nicht mehr", soll Thomas Watson, der Gründer von IBM, in den 40er-Jahren gesagt haben – zugegeben zu einer Zeit, als Lochkartenmaschinen und Röhrenkalkulatoren gerade mal die Grundrechenarten beherrschten und so groß waren wie Turnhallen.
Doch Tatsache ist nun einmal: Niemand weiß, was aus einer Technologie einmal werden wird. Technologien entwickeln sich nicht linear, sondern evolutionär. 1984 dachten viele bei der beginnenden Verkabelung und Vernetzung der Gesellschaft eher an den Überwachungsstaat. Dass soziale Netzwerke auch eine demokratisierende Wirkung haben können und von Diktatoren keineswegs begrüßt, sondern bekämpft werden, war damals noch nicht zu sehen.
Vielleicht erscheint dies manch einem zu optimistisch, aber im Grunde bin ich der Meinung, dass Technologien, die am Ende keinen echten Nutzen mit sich bringen, nicht weiter entwickelt werden. Bei der Kernkraft wird man sehen, wie es ausgeht. Zumeist haben Katastrophen die Entwicklung einer Technologie nicht aufhalten können. Dass nach der Hindenburg-Katastrophe die Entwicklung der Luftschifffahrt nicht weiter vorangetrieben wurde, lag weniger am Absturz selbst, als vielmehr an der aufkommenden Konkurrenz durch Verkehrsmaschinen, die als Lufttransportsystem schneller, flexibler und effizienter waren. Wenn regenerative Energien gegenüber herkömmlichen Kraftwerkstechnologien einen vergleichbaren Vorteil haben, werden sie sich auch durchsetzen. Doch wirklich voraussagen lässt sich das nicht. Und eine Garantie, dass irgendeine der kommenden Technologien gleichsam katastrophenfrei ist, gibt es schon gar nicht.
Die Shakespeare-Fontaneschen Hexen werden auch in Zukunft nicht ruhen. "Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand." Das stimmt. Ich kenne Fontanes Ballade übrigens schon lange, aber das Datum der zugrunde liegenden Eisenbahnkatastrophe habe ich für dieses Feuilleton ergooglet. Ja ja, die Technik ist Tand - aber manchmal ist sie doch auch ganz nützlich.
Ulrich Woelk, geboren 1960 in Köln, studierte Physik in Tübingen und Berlin. Sein erster Roman, "Freigang", erschien 1990 im S. Fischer Verlag und wurde mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Seit 1995 lebt Woelk als freier Schriftsteller in Berlin. Seine Romane und Essays sind unter anderem ins Chinesische, Französische, Englische und Polnische übersetzt. Zuletzt erschien "Joana Mandelbrot und ich".