Wohlstandsverwahrlosung auf der Bühne
Es war der Skandalroman am Anfang dieses Jahres: In "Axolotl Roadkill" mischte Helene Hegemann popkulturelle Zitate mit drastischen Sexszenen. Diese Mischung macht den Roman mitunter schwer lesbar, auf der Bühne entfaltet sie eine ungewollte Komik.
"Ich bin sechzehn Jahre alt und momentan zu nichts anderem mehr in der Lage, als mich trotz kolossaler Erschöpfung in Zusammenhängen etablieren zu wollen, die nichts mit der Gesellschaft zu tun haben, in der ich zur Schule gehe und depressiv bin."
Helene Hegemann schreibt, wie Teenager eben schreiben: Sie verkompliziert einfache Sachverhalte, verbrämt banale Empfindungen und Erlebnisse mit möglichst hochgestochen klingenden Leerformeln und Fremdwörtern. Wer das für gute Literatur hält, verwechselt Künstlichkeit mit Kunst. Die Mischung aus Zitaten des kulturkritischen Diskurses und einem gewollt brutalen Scheiße-Kotze-Arsch-Jargon ist als Lesestoff schwer erträglich. Doch auf der Bühne entfaltet diese Behauptung eines Dramas seine ungewollte Komik. Regisseur Bastian Kraft nämlich macht gerade die Künstlichkeit des Buches zum Thema, indem er die Lebens- und Zitatversatzstücke zu einer schrillen Nummernrevue ordnet.
Es geht um Mifti, 16, vor drei Jahren nach Berlin gezogen. Damals nämlich ist ihre Mutter gestorben, Mifti kommt in die Obhut ihres Kultur schaffenden Vaters und lebt in einer Wohngemeinschaft mit ihren Halbgeschwistern. Ob Helene Hegemanns Mutter so viel gesoffen hat wie Miftis Mutter, ob Carl Hegemann, Dramaturg an der Volksbühne, so wenig für seine Tochter da ist wie Miftis Vater, wissen wir nicht. Fest steht, dass Helene Hegemann ihre eigene Lebensgeschichte zum Vorbild nimmt und sie mehr oder minder übersteigert.
Mifti schwänzt die Schule, nimmt Drogen und treibt ziellos durch die Techno-Szene. Alles nichts Besonderes, bloß dass dieses Kind – im Roman wie im Leben – in einer schicken Altbauwohnung am Prenzlauer Berg aufwächst und Geld kein Problem ist. Eine Haushälterin gibt es auch: "Wohlstandsverwahrlost" nennt Schwester Annika das. Sie hat sich eine führende Position in einer Marketingfirma erarbeitet und zieht mit einer riesigen Nagelfeile über die Bühne: Wie alle Figuren in "Axolotl Roadkill" feilt Annika unablässig an ihrer Persönlichkeit.
"Ziehen" ist dabei ganz wörtlich zu verstehen, oder eher: gezogen werden. Die fünf Miftis – Regisseur Bastian Kraft lässt die Hauptfigur von vier Frauen und einem Mann spielen – erzählen auf einem Zirkuspodest Episoden aus ihrem Leben, und diese Szenen ziehen in der Guckkastenbühne im Hintergrund in rascher Folge vorbei. Statt Drehbühne gibt es hier eine Fließbandbühne, auf ihr rauschen Familienszenen und Partybegegnungen von links nach rechts durch wie bei Rudi Carells Fernsehshow "Am laufenden Band". Die jeweilige Mifti kommentiert aus dem Vordergrund, ruft "Stop! Noch mal!" – doch letztlich kann sie nichts halten. Mifti probt unablässig die Inszenierung eines Lebens, das sie aus lauter kleinen Fetzen zusammenzusetzen versucht.
Dabei spielt es dann kaum noch eine Rolle, ob diese Fetzen "echt" sind oder geklaut. Die Debatte um die von Blogger Airen plagierten Textpassagen ist hier mit wenigen Sätzen abgehandelt – zwischen Mifti und ihrem Bruder Edmond. "Es kommt nicht darauf an, woher ich etwas nehme, sondern wohin ich es trage", sagt Edmond. "Dann ist das also gar nicht von dir?", fragt Mifti. "Nee, von so'm Blogger..." - Gelächter aus dem Publikum.
Bühnenbildner Peter Baur hat die egomane Kunst- und Vergnügungswelt, in der Mifti sich bewegt, mit überdimensionierten Luxusaccessoires ausgestattet und schafft ungemein einfallsreich mit wenigen skizzenhaften Strichen komplette Szenarien: Ein frauenkörperförmiger Stehtisch mit einem Rundaufsatz aus Glasbausteinen führt die komplette wollüstige und zugleich unterkühlte Einrichtung einer Technodiskothek vor Augen, um den Innenraum eines Taxis zu erschaffen, schnallt Darsteller Sebastian Zimmler sich einen Rückspiegel an den Kopf und nimmt ein Lenkrad zur Hand.
Kostümbildnerin Dagmar Bald hat Zimmler, den einzigen Mann in der Truppe, in eine weiße "Sergeant Pepper"-Phantasieuniform gesteckt. Die eine Mifti (Birte Schnöink) trägt wie den Ansatz eines Rokokorocks ein ausladendes Gestell um die Hüften, statt mit Pailletten übersät mit kleinen Ansteckern, die andere (Lisa Hagmeister) räkelt sich aufreizend in einer lila Korsage mit rosa Tutu. Jede versucht, die schrillste zu sein. Irgendwo hinter den Posen, den Masken muss die "echte" Mifti stecken, deren Hilfeschreie immer mal wieder zu hören sind in eher realistisch gehaltenen Szenen, beispielsweise wenn Schwester Annika die sich in den Kissen vergrabende in die Schule zu treiben versucht.
Doch jeder Ausruf der Schauspieler "Das ist mein Leben!" wird konterkariert von einer weiteren Umdeutung. Jede Empfindung seziert Mifti im Moment des Entstehens mit den Messern ihres Verstandes – und wird so zu einem haltlosen, richtungslosen, todunglücklichen Menschen. Sie erinnert an die tausende von Jugendlichen, die jede Samstagnacht sich in Vorortzügen mit Alkohol narkotisieren und die Diskotheken stürmen: Auch diese Inszenierung einer Feier bereitet längst keinen "echten" Spaß mehr, aber alle spielen weiter.
Das ist der ideale Stoff fürs Theater, das sich zwar von den realen Gefühlen und Körpern seiner Darsteller nährt, aber immer alles ins Spiel, in die Inszenierung wendet. Immer wieder reflektiert Regisseur Bastian Kraft diese Prozesse, bezieht mit kleinen Umdeutungen Helene Hegemanns Sätze auf den Theaterabend:
"Das wird im Rückblick die beste Zeit meines Lebens sein."
- "Und wie lange dauert die noch?"
"Noch fünfzehn Minuten."
- "Was, nur noch fünfzehn Minuten?"
Es ist schlichtweg genial, wie Bastian Kraft und sein Dramaturg Tarun Kade aus Hegemanns schwer verdaulichem Tagebuchnotizenwust eine Geschichte destilliert haben und wie die fünf Schauspieler diese präsentieren, schwankend zwischen überdrehter Pose und echter Verzweiflung.
Vor allem Victoria Trauttmansdorff, abwechselnd als die von Mifti angebetete Alice und als ihre Mutter auftretend, verleiht den verspielten, sich selbst widerlegenden Sätzen die nötige Dringlichkeit: Als die Älteste in der Truppe, vielleicht Mitte vierzig, macht sie deutlich, dass eben tatsächlich nicht unendlich viel Zeit bleibt, verschiedenste Leben und Posen auszuprobieren. Genau genommen nur noch fünfzehn Minuten.
So wird aus einem bescheuerten Text ein großartiges Theaterstück.
Axolotl Roadkill
Nach dem gleichnamigen Roman von Helene Hegemann
Textfassung von Tarun Kade und Bastian Kraft
Regie: Bastian Kraft
Uraufführung am 21.11.2010, Thalia-Theater Hamburg
Helene Hegemann schreibt, wie Teenager eben schreiben: Sie verkompliziert einfache Sachverhalte, verbrämt banale Empfindungen und Erlebnisse mit möglichst hochgestochen klingenden Leerformeln und Fremdwörtern. Wer das für gute Literatur hält, verwechselt Künstlichkeit mit Kunst. Die Mischung aus Zitaten des kulturkritischen Diskurses und einem gewollt brutalen Scheiße-Kotze-Arsch-Jargon ist als Lesestoff schwer erträglich. Doch auf der Bühne entfaltet diese Behauptung eines Dramas seine ungewollte Komik. Regisseur Bastian Kraft nämlich macht gerade die Künstlichkeit des Buches zum Thema, indem er die Lebens- und Zitatversatzstücke zu einer schrillen Nummernrevue ordnet.
Es geht um Mifti, 16, vor drei Jahren nach Berlin gezogen. Damals nämlich ist ihre Mutter gestorben, Mifti kommt in die Obhut ihres Kultur schaffenden Vaters und lebt in einer Wohngemeinschaft mit ihren Halbgeschwistern. Ob Helene Hegemanns Mutter so viel gesoffen hat wie Miftis Mutter, ob Carl Hegemann, Dramaturg an der Volksbühne, so wenig für seine Tochter da ist wie Miftis Vater, wissen wir nicht. Fest steht, dass Helene Hegemann ihre eigene Lebensgeschichte zum Vorbild nimmt und sie mehr oder minder übersteigert.
Mifti schwänzt die Schule, nimmt Drogen und treibt ziellos durch die Techno-Szene. Alles nichts Besonderes, bloß dass dieses Kind – im Roman wie im Leben – in einer schicken Altbauwohnung am Prenzlauer Berg aufwächst und Geld kein Problem ist. Eine Haushälterin gibt es auch: "Wohlstandsverwahrlost" nennt Schwester Annika das. Sie hat sich eine führende Position in einer Marketingfirma erarbeitet und zieht mit einer riesigen Nagelfeile über die Bühne: Wie alle Figuren in "Axolotl Roadkill" feilt Annika unablässig an ihrer Persönlichkeit.
"Ziehen" ist dabei ganz wörtlich zu verstehen, oder eher: gezogen werden. Die fünf Miftis – Regisseur Bastian Kraft lässt die Hauptfigur von vier Frauen und einem Mann spielen – erzählen auf einem Zirkuspodest Episoden aus ihrem Leben, und diese Szenen ziehen in der Guckkastenbühne im Hintergrund in rascher Folge vorbei. Statt Drehbühne gibt es hier eine Fließbandbühne, auf ihr rauschen Familienszenen und Partybegegnungen von links nach rechts durch wie bei Rudi Carells Fernsehshow "Am laufenden Band". Die jeweilige Mifti kommentiert aus dem Vordergrund, ruft "Stop! Noch mal!" – doch letztlich kann sie nichts halten. Mifti probt unablässig die Inszenierung eines Lebens, das sie aus lauter kleinen Fetzen zusammenzusetzen versucht.
Dabei spielt es dann kaum noch eine Rolle, ob diese Fetzen "echt" sind oder geklaut. Die Debatte um die von Blogger Airen plagierten Textpassagen ist hier mit wenigen Sätzen abgehandelt – zwischen Mifti und ihrem Bruder Edmond. "Es kommt nicht darauf an, woher ich etwas nehme, sondern wohin ich es trage", sagt Edmond. "Dann ist das also gar nicht von dir?", fragt Mifti. "Nee, von so'm Blogger..." - Gelächter aus dem Publikum.
Bühnenbildner Peter Baur hat die egomane Kunst- und Vergnügungswelt, in der Mifti sich bewegt, mit überdimensionierten Luxusaccessoires ausgestattet und schafft ungemein einfallsreich mit wenigen skizzenhaften Strichen komplette Szenarien: Ein frauenkörperförmiger Stehtisch mit einem Rundaufsatz aus Glasbausteinen führt die komplette wollüstige und zugleich unterkühlte Einrichtung einer Technodiskothek vor Augen, um den Innenraum eines Taxis zu erschaffen, schnallt Darsteller Sebastian Zimmler sich einen Rückspiegel an den Kopf und nimmt ein Lenkrad zur Hand.
Kostümbildnerin Dagmar Bald hat Zimmler, den einzigen Mann in der Truppe, in eine weiße "Sergeant Pepper"-Phantasieuniform gesteckt. Die eine Mifti (Birte Schnöink) trägt wie den Ansatz eines Rokokorocks ein ausladendes Gestell um die Hüften, statt mit Pailletten übersät mit kleinen Ansteckern, die andere (Lisa Hagmeister) räkelt sich aufreizend in einer lila Korsage mit rosa Tutu. Jede versucht, die schrillste zu sein. Irgendwo hinter den Posen, den Masken muss die "echte" Mifti stecken, deren Hilfeschreie immer mal wieder zu hören sind in eher realistisch gehaltenen Szenen, beispielsweise wenn Schwester Annika die sich in den Kissen vergrabende in die Schule zu treiben versucht.
Doch jeder Ausruf der Schauspieler "Das ist mein Leben!" wird konterkariert von einer weiteren Umdeutung. Jede Empfindung seziert Mifti im Moment des Entstehens mit den Messern ihres Verstandes – und wird so zu einem haltlosen, richtungslosen, todunglücklichen Menschen. Sie erinnert an die tausende von Jugendlichen, die jede Samstagnacht sich in Vorortzügen mit Alkohol narkotisieren und die Diskotheken stürmen: Auch diese Inszenierung einer Feier bereitet längst keinen "echten" Spaß mehr, aber alle spielen weiter.
Das ist der ideale Stoff fürs Theater, das sich zwar von den realen Gefühlen und Körpern seiner Darsteller nährt, aber immer alles ins Spiel, in die Inszenierung wendet. Immer wieder reflektiert Regisseur Bastian Kraft diese Prozesse, bezieht mit kleinen Umdeutungen Helene Hegemanns Sätze auf den Theaterabend:
"Das wird im Rückblick die beste Zeit meines Lebens sein."
- "Und wie lange dauert die noch?"
"Noch fünfzehn Minuten."
- "Was, nur noch fünfzehn Minuten?"
Es ist schlichtweg genial, wie Bastian Kraft und sein Dramaturg Tarun Kade aus Hegemanns schwer verdaulichem Tagebuchnotizenwust eine Geschichte destilliert haben und wie die fünf Schauspieler diese präsentieren, schwankend zwischen überdrehter Pose und echter Verzweiflung.
Vor allem Victoria Trauttmansdorff, abwechselnd als die von Mifti angebetete Alice und als ihre Mutter auftretend, verleiht den verspielten, sich selbst widerlegenden Sätzen die nötige Dringlichkeit: Als die Älteste in der Truppe, vielleicht Mitte vierzig, macht sie deutlich, dass eben tatsächlich nicht unendlich viel Zeit bleibt, verschiedenste Leben und Posen auszuprobieren. Genau genommen nur noch fünfzehn Minuten.
So wird aus einem bescheuerten Text ein großartiges Theaterstück.
Axolotl Roadkill
Nach dem gleichnamigen Roman von Helene Hegemann
Textfassung von Tarun Kade und Bastian Kraft
Regie: Bastian Kraft
Uraufführung am 21.11.2010, Thalia-Theater Hamburg