Das Corbusier-Haus in Marseille
Nach dem Zweiten Weltkrieg baute der Architekt Le Corbusier in der französischen Stadt Marseille ein Gemeinschaftshaus. Die Bewohner nahmen es schnell an, die restliche Bevölkerung fremdelte lange mit dem futuristischen Hochhaus.
Es ist ihr kleines Ritual. Jeden Morgen trifft sich eine Handvoll Frauen für ein Stündchen im Licht durchfluteten Restaurant mit dem hellen Eichenholz, um die letzten Neuigkeiten auszutauschen. Kaffeeklatsch unter Nachbarn im Corbusier-Haus, sagt Joelle Broquer, die seit mehr als 30 Jahren hier wohnt.
"Es ist wundervoll hier. Jedes Mal, wenn wir darüber nachgedacht haben, auszuziehen, hat es uns entsetzlich traurig gemacht. Was sollen wir in einer Wohnung, wo kein Leben drum herum ist, wo sich die Leute nur sehr wenig begegnen. Hier herrscht wirklich ein besonderes Leben, das Außenstehenden schwierig zu erklären ist."
Viele Marseiller nannten es lange Zeit einfach nur das "Haus des Verrückten", "la maison du Fada". Denn schon von außen sieht das quaderförmige Hochhaus futuristisch aus. Es ist aus rohem, hellgrauem Beton gebaut und steht auf massiven Stützen. Auf dem Dach ragen Schornsteine asymmetrisch in den Himmel.
Auf neun Doppeletagen reihen sich kastenförmige, bunt angestrichene Loggias mit einer hohen Fensterfront übereinander. Gut 1000 Personen wohnen in 337 Wohnungen. Der Schweitzer Architekt Le Corbusier, realisiert hier zum ersten Mal seine Ideen einer bis heute revolutionären Art zu Wohnen, erklärt Jean-Lucien Bonillo, Professor für Architekturgeschichte:
"Die Bewohner sollten dort alles vorfinden, was sie zum Leben brauchen: Geschäfte, ein Hotel, eine Schule, eine Dachterrasse, wo man Sport und kulturelle Aktivitäten ausüben kann. Seine Idee war, dass sie dort völlig autonom in einer Gemeinschaft leben und das Gebäude selbst verwalten würden."
Ein großer Wohnbereich mit einer Fensterfront
Die Wohnungen sind fast alle gleich aufgebaut. Sie erstrecken sich von der Ost- bis zur Westseite über die gesamte Etage, mit jeweils einem Balkon.
Hinter einem winzigen Eingangsflur eröffnet sich ein großer Wohnbereich, der sich im hinteren Teil fast fünf Meter nach oben hin öffnet, mit einer flächendeckenden Fensterfront. Vorne an der Seite eine offene Einbauküche. Eine massive Eichentreppe verbindet die beiden Etagen der Wohnung.
Die Architektin Anne Michel wohnt seit mehr als 20 Jahren mit ihrer vierköpfigen Familie in der 100 Quadratmeter großen Wohnung des "Corbu", wie es hier alle nennen.
"Nach Corbusiers Idee schliefen die Eltern in dem zum Wohnbereich offenen Zwischengeschoss. Hinten sind die beiden Kinderzimmer."
In allen Zimmern gibt es Einbauschränke und dennoch fehlt es an einem:
Emmanuel: "In dieser großen Wohnung gibt es letztendlich doch nicht viel Platz. Daher räumen wir immer gut auf, denn wenn es unordentlich ist, fühlt man sich schnell eingeengt."
Anne und Emmanuel schätzen das Gebäude und die Leuten, die hier wohnen.
Emmanuel: "Le Corbusiers Ideen zeigen, dass ihm die Bewohner wichtig waren. Im Flur ist es zum Beispiel dunkel, aber es gibt kleine Lampen, die ein sanftes Licht verbreiten. Dadurch signalisiert man: Leise! Hier wohnen Leute. Und dass man sein Brot im 3. Stock kaufen kann oder sein Kind in den Kindergarten im 8. Stock bringt, erleichtert einem den Alltag."
Oben auf dem Dach spielen rund 40 Kinder der Vorschule des Corbusier-Hauses grade Verstecken hinter Betonwänden und fangen sich in dem blaugekachelten Planschbecken, in dem sie im Sommer baden können. Die Dachterrasse ist seit jeher einer der wichtigsten Treffpunkte der Bewohner. Rundherum führt eine 300 Meter lange Joggingstrecke und es gibt eine Bühne für Theaterstücke. Vor vier Jahren hat dort der französische Künstler Ora Ito in der ehemaligen Sporthalle ein Kunstzentrum eröffnet, mit wechselnden Ausstellungen.
Die 91-jährige Suzanne l’Herisson war eine der ersten Bewohner des Corbusier-Hauses. Kurz nach ihrem Einzug im Herbst 1952 gründete sie mit Nachbarn einen Verein, um gemeinsam ihr Leben hier zu gestalten.
"Wir haben Vorträge und private Filmevorführungen veranstaltet, berühmte Schriftsteller eingeladen. Le Corbusier hat für uns eine Wäscherei und Geschäfte vorgesehen, aber nicht alles hat funktioniert, weil die Franzosen noch nicht bereit waren für ein solch kooperatives Leben."
Viele Geschäfte gibt es nicht mehr
Von der einst belebten Geschäftszeile in der 3. Etage ist heute nur noch das Restaurant mit angrenzendem Hotel, ein Buchhandel und die Konditorei übrig geblieben.
Viele Bewohner vergleichen das Corbusier-Haus jedoch immer noch mit einem Dorf. Geburtstage werden zusammengefeiert, man trifft sich zum gemeinsamen Kinoabend, zum Konzert oder Flohmarkt. Möglich ist dies auch durch Gemeinschaftsräume, die Corbusier zwischen den Etagen vorgesehen hat.
Eric Broquer leitet die Bibliothek und findet, dass Le Corbusiers Vision einer autonomen Gesellschaft eine Utopie ist, die sich aber teilweise erfüllt hat.
"Auch wenn sich heute viele Leute lieber auf sich zurückziehen, ermöglicht der Corbusier noch ein Leben in der Gemeinschaft. Das Gebäude provoziert Begegnungen. Und die Leute, die im Corbusier wohnen, ziehen selten aus, man bleibt hier, weil man an dieser Lebensweise hängt."