Den Beitrag hören Sie in einer im Vergleich zum Manuskript leicht gekürzter Fassung. (mkn)
"Les Espaces d’Abraxas" in der Banlieue von Paris
Ein "Versailles fürs Volk" wollte der katalanische Architekt Ricardo Bofill Anfang der 1980er Jahre in der Banlieue von Paris errichten. Seine postmoderne Wohnutopie "Les espaces d'Abraxas" diente schon oft als Filmkulisse. Heute ist die monumentale Wohnanlage stark heruntergekommen.
Besuch bei Maité Chambaud in der 14. Etage des Palacio. Die Fenster sind weit geöffnet – trotz Schmuddelwetter, für die atemberaubende Aussicht: Am Horizont, ganz in der Ferne, sind der Tour Montparnasse und der Eiffelturm zu erkennen. "Besonders abends ist das wunderbar, wenn Paris erleuchtet ist", schwärmt Maité Chambaud und führt durch die Wohnung. Zwei Etagen gibt es, unten sind die Schlafzimmer.
1983, als Ricardo Bofills "Räume des Abraxas" gerade fertig gebaut waren, sind die Chambauds hier eingezogen.
"Als ich hörte, dass Ricardo Bofill in Noisy-le-Grand baut – ich war damals Lehrerin am Gymnasium hier –, sagte ich sofort zu meinem Mann: "Das müssen wir sehen!" Und es hat uns gleich gefallen. Wir haben sofort zugeschlagen. Wie bei den meisten Leuten, die hier gekauft haben, war es Liebe auf den ersten Blick."
"Les Espaces d’Abraxas", die "Räume des Abraxas" mit ihren etwas mehr als 600 Wohnungen sind ein theatralischer Ort. Die drei monumentalen Betonblöcke in Form eines Palastes, eines Triumphbogens und eines halbrunden "Theaters" waren schon die Kulisse unzähliger Musikvideos – von Stéphanies 80er-Jahre-Pop bis zum Rap von heute. Auch Filmregisseure zog es immer wieder in den spektakulären Wohnkomplex: Der Science-Fiction-Klassiker "Brazil" wurde hier gedreht oder 2014 der letzte Teil der "Tribute von Panem"-Reihe.
Wohnen wie in einer Filmkulisse
Doch nicht als Filmkulisse, sondern als Wohnraum wurden die "Espaces d’Abraxas" von Ricardo Bofill entworfen: Mit antikisierenden Säulen an der Fassade, einem Amphitheaterplatz in der Mitte der Anlage und kleinen Renaissance-Tempietti aus Betonfertigteilen in den labyrinthischen Gängen des gigantischen "Palacio".
Seine Idee sei, sagte Bofill einmal, dass die Menschen dort leben sollten wie die Utopisten zur Zeit der Renaissance. Sind die "Räume des Abraxas" also vor allem dies – eine fantastische postmoderne Wohnutopie? Die Architekturhistorikerin Anne Kockelkorn ist skeptisch.
"Es hat viel mehr damit zu tun, ein realisierbares Immobilienprojekt zu bauen, das den Wohnungsbau als monumentale Großform für unterschiedlichste gesellschaftliche Schichten akzeptabel macht. Und dass in dieser Fassade, die man als eine hochherrschaftliche Fassade aber auch gleichzeitig als eine absurde und surrealistische Fassade bezeichnen kann, sich sowohl ein einfacher Arbeiter, ein Angestellter, aber auch ein sehr gut verdienender Ingenieur damit identifizieren kann und sagen kann: Hier möchte ich gerne wohnen! Da steckt wirklich ein Anliegen dahinter, eine Alternative zur heftig kritisierten Monotonie des französischen Grosswohnungsbaus zu entwickeln."
Die Wohnungsbaugesellschaft ging pleite
Statt Vorstadttristesse sollte die Abraxas-Anlage ein "Versailles fürs Volk" bieten. Doch die hochherrschaftliche Wohnkulisse verlor bald an Glanz. Der Unterhalt der aufwändig gestalteten Gebäude war teurer als gedacht, die Wohnungsbaugesellschaft des Palacios ging bereits kurz nach der Fertigstellung pleite, und auch die sozialen Probleme der Banlieue machten sich in den "Räumen des Abraxas" bemerkbar.
1995 zog Maité Chambaud mit ihrer Familie in ein Einfamilienhaus, die Wohnung im Palacio vermietet sie seither.
"Ab Anfang der 90er veränderte sich viel. Mein Mann ertrug die heruntergekommene Atmosphäre nicht mehr. Die Zigarettenkippen im Aufzug, es gibt Ratten; Einkaufswagen, die in den Fluren rumstehen... Na ja, die Verwahrlosung kam so nach und nach. Wie überall, wenn öffentliche Räume vernachlässigt werden, wird das mit der Zeit immer schlimmer."
Radikale Ideen gegen die Verwahrlosung
Und immer radikaler wurden auch die Ideen, wie die Verwahrlosung des spektakulären Wohnmonuments zu stoppen sei. Im Rathaus von Noisy-le-Grand gab es sogar Abrisspläne. Die labyrinthische Architektur der Anlage mit ihren vielen Laubenwegen und Treppen sei eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit, hieß es. Abraxas, eine No-Go-Area?
"Die Leute, die diese Architektur nicht mögen, behaupten ja immer, die verwinkelten Gänge seien schuld. Und, na ja, der Polizei ist dieses Labyrinth ein Graus. Für die Kriminellen, die hier wohnen und dealen, sind die schmalen Gänge ideale Fluchtwege. Die Polizei hat hier keine Chance. Aber ich habe auch mal einen Mieter gefragt, einen Architekturstudenten, der sagte knallhart: Im Palacio ist nicht die Architektur das Problem, sondern die Menschen!"
Maité Chambaud ist, auch wenn sie längst ausgezogen ist, ein Fan von Ricardo Bofills monumentaler Wohnutopie geblieben. Und selbst im Rathaus weht seit der letzten Kommunalwahl ein anderer Wind. Von Abriss ist keine Rede mehr. Im Gegenteil: Die "Räume des Abraxas" sollen bald, so verkündete es die neue Bürgermeisterin, der "schönste Ort von Noisy-le-Grand" sein.