Die Obdachlosen von Angela Merkel
Elisabeth, Jochen, Robert und Stefan wohnen im Zentrum der Macht: auf Holzbänken am Spreeufer zwischen Kanzler- und Bundespräsidialamt. Jogger, Touristen und auch Politiker im Anzug laufen vorbei - und schauen meist in eine andere Richtung. Die zentrale Lage bringt aber auch Einschränkungen mit sich.
Elisabeth sitzt im Zentrum der Macht - auf einer Holzbank unter einem breiten grauen Betonvorsprung, direkt hinter dem Fußweg am Spreeufer. Gegenüber das Forschungsministerium, im Rücken das Bundeskanzleramt, schräg dahinter der Reichstag, etwas weiter das Bundespräsidialamt. Auf dem Fluss fahren die Ausflugsschiffe. 1-A-Hauptstadtlage. Elisabeth wohnt hier. Seit fünf Jahren:
"Ich habe in der Zeit hier eben draußen gelebt und es ist mein Zuhause."
Die sechste Bank vom Hauptbahnhof aus gesehen. Auf der dritten wohnt Robert, auf der zweiten Stefan, der fünften Jochen, und auf der ersten - zumindest für heute Nacht - einer, den keiner kennt. "Wohl kein Flüchtling", meint Robert, "die kennen sich im Gegensatz zu uns ja auch nicht aus in der Stadt". Ins Mikrofon sprechen will Robert nicht. Er ist Rentner, ehemaliger Occupy-Aktivist und hilft tagsüber ehrenamtlich, zum Beispiel in Flüchtlingsprojekten. Nachts kommt er zum Schlafen hierher. Seit drei Jahren. Dass die vielen Flüchtlinge irgendwann im Winter zur Konkurrenz um Schlafplätze werden, befürchten er und die anderen hier nicht. Reden will aber nur Elisabeth:
"Die Flüchtlinge werden ja so ein bisschen kaserniert, während die Obdachlosen jetzt in so Wohnprojekte oder Wohnheime übersiedeln."
Winternächte im Schlafsack
Jedenfalls einige. Elisabeth, Robert und Stefan sicher nicht. Elisabeth hat graue kurze Haare, trägt einen roten Fleecepulli und noch keine Jacke, obwohl es abends schon ziemlich kalt ist. Auch Winternächte auf der Bank übersteht sie im Schlafsack:
"Ja, da gibt es heutzutage keine Begrenzungen. Da nimmt man dann zwei übereinander und dann hat man es wieder warm."
Auch wenn Elisabeth schon schläft, laufen Jogger, ganze Touristengruppen oder auch mal Politiker im Anzug auf dem Fußweg an ihrer Bank nahe dem Kanzleramt vorbei. Die meisten gucken ganz zufällig in eine andere Richtung. "Hauptsache die lassen uns in Ruhe", meint Stefan. Er hat einen festen Job und arbeitet als Fahrradmechaniker. Von seinem Gehalt könnte er sich eigentlich eine billige kleine Wohnung leisten, aber er findet keine in Berlin. Seit fast einem Jahr. Vielleicht wäre das mal ein Thema für die Politiker auf dem Fußweg? Aber Stefan winkt ab. Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner. Nächste Woche hat er wieder einen Besichtigungstermin, vielleicht klappt es diesmal. Bis dahin wohnt er eben hier. Ein guter Platz, findet Elisabeth, denn die Notübernachtung für Obdachlose ist direkt hinter dem Hauptbahnhof:
"Ja, die Pennerecke ist eben immer direkt um den Bahnhof und man weiß, es mischt sich alles in dieser Szene und wenn alle Stricke reißen, ob man nüchtern ist oder blau - zu jeder Tages - und Nachtzeit hat man da einen absoluten Notnagel."
Genug zu essen findet sich immer
Aber so groß ist die Not noch lange nicht, findet Elisabeth. In einem Eimer hinter ihrer Bank wäscht sie ein paar Klamotten mit Spreewasser. Ihr Hausstand liegt in blaue Plastiksäcke verpackt in einem alten Kinderwagen. In einer Tasche sind Bücher. Jeden Abend liest sie im Schein einer kleinen Kopflampe. An der Betonwand hinter der Bank hängt ein selbstgebastelter Geigenbogen. Selbstgebastelt. Sie hatte auch eine alte Mandoline und eine kleine Gitarre, aber die wurden ihr gestern geklaut, sagt sie. Ebenso das Zelt, das sie manchmal benutzt hat. Aber Not sei das nicht, genug zum Essen finde sich ja immer:
"Ich kauf mir jetzt was. Ich gehe Flaschen sammeln, oder ich gehe auch an die Container, ja, man nimmt, was man braucht."
Elisabeth ist 55 Jahre alt. Mit dem Traum von einem Bauernhof in Mecklenburg-Vorpommern ging sie kurz nach der Wende pleite. Dubiose Geheimdienste und auch irgendwie die Stasi waren schuld, glaubt Elisabeth bis heute.
"Wer sich ernsthaft mit diesen Fragen auseinandersetzt, kommt einfach um den Ost-West-Konflikt nicht herum. Viele Leute, die hier abhängen und die Penner sind einfach noch aus diesen Konflikten."
Verlierer der Wende, so hat sie das wohl gemeint. Vielleicht auch anders. Robert meint, ein bisschen psychologische Betreuung, vielleicht ein paar Medikamente, könnten Elisabeth schon helfen. Hochintelligent sei sie eigentlich. Sie mag ihn aber nicht besonders:
"Jeder unterstellt dem anderen halt gerne, dass er 'ne Macke hat und wir haben eben normalerweise schon nicht mehr die Kraft uns normal zu unterhalten, man wird richtig ein bisschen dämlich."
Einschränkungen durch die 1-A-Hauptstadtlage
Deshalb bewohnt Elisabeth eine Bank, von der aus man Robert nicht sehen kann. Der betont, dass er freiwillig hier sei. Warum sagt er nicht. Vielleicht sei es wie bei Jochen, der mit 59 seinen festen Job gekündigt hat und beteuert, dass er sich jetzt frei und glücklich fühle. Robert ist 70, lebt von seiner Rente, formuliert druckreif, ist gepflegt, die Klamotten sind gut und sauber, jeden Morgen rasiert er sich im Schutz einer großen Trauerweide an der Spree. Ab und zu säubert er sogar den Platz um die Bänke mit Wasser und Schrubber. Wenn Robert auf seiner Bank sitzt, guckt er auf das Bundesforschungsministerium und rechnet aus, wie viele Flüchtlinge man dort unterbringen könnte. Demnächst will er nach Indien. Denen helfen, denen es wirklich schlecht geht.
Und Stefan? Wenn er auch bald eine Wohnung findet, wären wieder zwei Bänke frei. 1-A-Hauptstadtlage. Mitten im Zentrum der Macht. Dass so eine Lage Einschränkungen mit sich bringt, findet Elisabeth in Ordnung.
"Das kommt immer, wenn ein Staatsbesuch ist, dann muss alles blank sein, dann muss eben geräumt werden. Dann kommen sie schon und sagen Bescheid, darum ist das alles mobil, das ist eben ein Kinderwagen und zwei Einkaufswägen, normalerweise ist das in einem Rutsch…, ist der ganze Kram weg."
Das letzte Mal als die Queen da war. Hätte ja sein können, dass sie aus Versehen nicht wegguckt.