Wo die Bahn hält, wird gebaut
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In Nordrhein-Westfalen entwickeln Land, Kommunen und die Bahn gemeinsam Wohnungsbauprojekte. Das Ziel: Wohnen in Bahnhofsnähe. Der Anschluss an die Schiene soll das Pendeln erleichtern - und so Innenstädte und Umwelt entlasten.
"Wir stehen hier am nördlichen Ende unseres großflächigen Entwicklungsgebietes Sechs-Seen-Wedau."
Bernd Wortmeyer steht inmitten eines riesigen Baufeldes im Duisburger Süden. Der Geschäftsführer der städtischen Wohnungsbaugesellschaft Gebag zeigt auf einen alten Wasserturm und ein verlassenes Gebäude in dunklem Backstein. Ansonsten befindet sich hier nichts – noch nichts.
"Südlich von uns werden auf 60 Hektar ungefähr 3000 Wohneinheiten entstehen, mit der Infrastruktur wie Kitas und Grundschulen. Direkt neben unserem Standort wird ein großes Nahversorgungszentrum errichtet werden. Da sind schon die allerersten Baumaßnahmen zu sehen."
Bauen auf dem Rangierbahnhofsgelände
Hier in Duisburg-Wedau, unweit der internationalen Regattastrecke, der Fußball-Arena und einer idyllischen Seenlandschaft, soll ein komplett neues Stadtviertel entstehen. Es liegt etwa fünf Kilometer vom Hauptbahnhof und gut eine Viertelstunde Autofahrt von Düsseldorf entfernt – auf dem Gelände eines ehemaligen Rangierbahnhofs, der jahrzehntelang zu den größten seiner Art in Deutschland gehörte und vor zwanzig Jahren stillgelegt wurde.
"Wir stehen hier wirklich an der Keimzelle von Duisburgs Zukunft, hin zu einer smarten, nachhaltigen, resilienten Stadtentwicklung, die wir von hier aus gestalten können", schwärmt der städtische Immobilienmanager Wortmeyer.
Eine solche Entwicklungsfläche – so groß wie 84 Fußballfelder – sei "ganz einmalig für Duisburg", und wahrscheinlich auch weit darüber hinaus. Denn wo gibt es das noch: städtische Brachflächen in dieser Größenordnung?
NRW-Programm "Bauen an der Schiene"
In Essen sitzt jemand, der es weiß: Henk Brockmeyer. "Wir sind bereits seit 2003 damit befasst, technisch verfügbare Liegenschaften der Deutschen Bahn AG zu entwickeln und eben einer sinnvollen städtebaulichen Nachnutzung zuzuführen", erklärt der Geschäftsführer der Bahnflächenentwicklungsgesellschaft Nordrhein-Westfalen, kurz BEG.
Die BEG gehört zur Hälfte der Deutschen Bahn und dem Land NRW. Auch hier, im bevölkerungsreichsten Bundesland, gebe es durchaus noch Wohnungsbau-Potenzial, sagt Brockmeyer, und zwar nicht nur im Ländlichen, auf der grünen Wiese.
Vor ein paar Jahren hatte das nordrhein-westfälische Bauministerium mehrere Programme ins Leben gerufen, um dieses Potenzial zu heben. Eines davon heißt "Bauland an der Schiene".
"Wie der Name schon sagt, nehmen wir vor allem die Haltepunkte der Schiene ins Visier und schauen in einem Umkreis von bis zu drei Kilometern: Welche Baulandpotenziale bestehen eigentlich an den heutigen ÖPNV-Achsen, also an den Verknüpfungspunkten?", erläutert Henk Brockmeyer. Geschaut wird also bei den Haltestellen des Öffentlichen Nahverkehrs, insbesondere der Bahn.
Entwicklungsgespräche in großer Runde
Mit dieser Frage haben sich das Ministerium und die BEG an mehr als 250 Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in Nordrhein-Westfalen gewandt und sie eingeladen, an entsprechenden Entwicklungsgesprächen teilzunehmen – in großer Runde.
"Wir haben gleich die Regionalplanung an den Tisch geholt, wir haben den Nahverkehrsverband an den Tisch geholt", erläutert Brockmeyer den Ansatz. "Wir haben die Deutsche Bahn mit an den Tisch genommen und eben auch Vertreter aus dem Bauministerium, dem Umweltministerium und dem Verkehrsministerium, um hier schon sicherzustellen, dass wir die richtigen Flächen in den Fokus nehmen."
Denn Flächenentwicklung ist kompliziert, vor allem, wenn sie durchdacht sein soll. Was nützt ein großes Neubaugebiet ohne Verkehrsanbindung, was ein Bahnhaltepunkt, an dem nur alle zwei Stunden ein Bummelzug hält. Industriebrachen müssen eventuell von Altlasten befreit, landwirtschaftliche Flächen in Bauland umgewandelt werden.
"An der Stelle sage ich immer gerne, dass Flächenentwicklung nicht die Sprint-, sondern eine Marathon-Distanz ist", verdeutlicht der BEG-Geschäftsführer.
Dennoch: 160 Orte wurden in den Gesprächen bereits identifiziert, "wo wir jetzt dabei sind, gemeinsam mit externen Planungsbüros und den Kommunen vor Ort zu schauen: Was lässt sich daraus ergeben?"
Umweltschonendes Pendeln
Natürlich sind die meisten Bauflächen bei Weitem nicht so groß wie das Duisburger Wedau-Areal. In der Stadt Jüchen zum Beispiel, südlich von Mönchengladbach und nicht weit entfernt von Düsseldorf und Köln, sind jüngst 30 Einfamilien- und Doppelhäuser entstanden, direkt an einer Bahnhaltestelle.
Zwar führt hier auch die Autobahn entlang, aber gerade die Nähe zu Bahnhaltepunkten machen solche Neubaugebiete attraktiv: Sie entlasten städtische Wohnungsmärkte und ermöglichen umweltschonendes Pendeln. "Insofern ist Wohnraum an der richtigen Stelle in integrierter Lage, mit entsprechenden Mobilitätsverknüpfungen, auch ein Beitrag, diese Mobilitätswende zu befördern."
Vor allem in städtischen Regionen Nordrhein-Westfalens, wie dem Rhein- und Ruhrgebiet, ist der Wohnungsmarkt seit Jahren angespannt, Wohnraum knapp, die Mietpreise hoch. Um dem entgegenzuwirken, müssen neue Wohnungen entstehen.
46.000 Wohneinheiten jährlich benötigt
NRW-Bauministerin Ina Scharrenbach, CDU, stellte vor ein paar Monaten eine von ihr in Auftrag gegebene Wohnungsmarkt-Prognose vor: "Danach brauchen wir in Summe bis 2040 jährlich rund 46.000 neue Wohneinheiten."
Laut den jüngsten Zahlen entstanden 2019 gut 48.000 neue Wohnungen, ein Jahr zuvor ähnlich viele – das Land liegt also im Soll. Mit der Initiative "Bauland an der Schiene" und anderen Programmen arbeitet Scharrenbach daran, dass das so bleibt – und zwar weitgehend bürger- und umweltverträglich.
"Wenn wir über Fläche reden, geht es natürlich auch um mehr als Wohnen. Es geht um Gewerbe, es geht um Freizeit und Stadtentwicklung", sagt Ina Scharrenbach. "Aber es geht auch um die Natur und Freiräume, und das wollen und haben wir alle miteinander in den Einklang zu bringen."
Megaprojekt an den Seen in Wedau
Das Megaprojekt "6-Seen-Wedau" soll all das in einem Gebiet vereinen. Im vergangenen Sommer kam die Ministerin zum Spatenstich: "Dieses Projekt Duisburg-Wedau ist das größte Wohnungsbauprojekt, das wir derzeit im Land Nordrhein-Westfalen laufen haben: Bis zu 3500 Wohneinheiten, bis zu 7000 Menschen sollen hier ein neues Zuhause bekommen."
Dazu kommen eine Grundschule, Einzelhandel, Grün- und Parkflächen und natürlich eine Seepromenade. Außerdem wollen Fakultäten der Uni Duisburg-Essen in einer alten Industriehalle forschen – auch ein Zentrum für Start-ups könnte entstehen.
"Insofern: alles richtiggemacht. Und jetzt freue ich mich gleich auf den Spatenstich", sagte Scharrenbach damals.
Jetzt, im Frühling 2021, freut sich der Chef der städtischen Wohnungsbaugesellschaft Gebag, Bernd Wortmeyer, dass das Projekt trotz Corona im Zeitplan liegt. Er zeigt auf eine etwa hundert Meter entfernte Bahnstrecke.
"Das ist tatsächlich eine der meistbefahrenen Nord-Süd-Verbindungsstrecken der Deutschen Bahn", sagt Wortmeyer. "Große Herausforderung, das Wohngebiet vor den Emissionen zu bewahren."
Lärmschutzwall und Internet fürs Homeoffice
Natürlich bedeutet die Nähe zu Bahnhaltepunkten auch, dass hier Züge fahren – und zwar zum Teil recht nah an neuen Wohnhäusern und, wenn das Pendeln später funktionieren soll, in hoher Taktung. Dafür entsteht jetzt ein bis zu 15 Meter hoher Lärmschutzwall.
Aktuell schaufeln Bagger das Erdfundament an. "Der besteht unten aus einem großen Erdball. Das ist jetzt weitgehend schon soweit eingeschüttet. Und darauf kommt dann noch ein Lärmschutzbauwerk obendrauf. Dann wird man auch keine störenden Geräusche von da mehr hören."
Das ist auch deshalb wichtig, weil Wortmeyer davon ausgeht, dass in Zukunft viel mehr Menschen häufiger im Homeoffice arbeiten werden. "Darauf muss der Wohnungsbau reagieren. Wir brauchen eine vernünftige IT-Anbindung, das steht unter dem Stichwort Smart City. Was wir hier natürlich überall mit umsetzen wollen."
Die schnelle ÖPNV-Anbindung zu den Hauptbahnhöfen Duisburg und Düsseldorf könnte außerdem dafür sorgen, dass vor Ort nicht mehr so viele Parkplätze gebraucht werden. Dadurch entsteht mehr Freiraum für Grün oder gemeinsame Quartiersplätze. Geplant ist, für die anzusiedelnden Uni-Fakultäten und sonstige Tagespendler die bereits bestehenden 10.000 Parkplätze am nahegelegenen Fußballstadion mit zu nutzen.
"Wir brauchen dann aber besonders innovative Möglichkeiten, um die Menschen von ihren parkenden Autos zum Campus Wedau zu transportieren. Nahpendeln haben wir das genannt. Das denken wir von Anfang an natürlich mit."
Gemischte Gefühle bei den Altanwohnern
Einige alteingesessene Anwohner des Viertels haben allerdings Angst, dass das Neubaugebiet ihre langjährige Lage am Wasser gefährdet – und sie aus ihren zwar verwitterten, aber dafür günstigen Nachkriegswohnungen vertrieben werden. Am Seeufer, dort, wo in ein paar Jahren eine Promenade die jetzige Wiese ersetzen soll, spaziert eine Rentnerin mit ihrem Hund.
"Ich bin hier geboren in Wedau, ich habe den ganzen Umbruch miterlebt." Sie habe nichts gegen schöne Neubauten in der Nachbarschaft. Wichtig sei ihr zum Einen, dass der Zugang zum Wasser offen bleibt – für alle. "Wenn das schön wird und wenn sie nicht hingehen, dass das alles abgesperrt wird und dass da keiner mehr laufen darf …"
Andererseits könne sie aber keine höhere Miete zahlen, nur weil die Nachbarschaft schicker wird. Bernd Wortmeyer versucht, die Sorgen ernst zu nehmen. "Die Sozialstruktur der Duisburger Bevölkerung wird sich dadurch verändern. Es wird ein Plus an Einkommenssteuer zahlenden Bürgerinnen und Bürgern hier geben."
Zehn Prozent sozialer Wohnungsbau
Das werde das Viertel aufwerten, davon könnten die Anwohner auch profitieren. Außerdem sollen zehn Prozent der neugebauten Wohnungen sozial gefördert sein – das ist zwar nicht viel, aber der städtische Immobilienmanager stellt auch klar, dass ein solch ambitioniertes Projekt anders nicht realisierbar wäre.
Immerhin: Nur an einer Stelle werde eine Seewiese zur Seepromenade umgebaut. "Ansonsten bleiben die Seen, so wie sie sind. Die freie Zugänglichkeit zu den Seen wird überall gewährleistet bleiben."