Die Demokratisierung des Wohnens im "Neuen Frankfurt"
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In den 1920-Jahren reformierte der Architekt Ernst May in Frankfurt den Städtebau. Mit seinen Reihenhäusern wollte May die Großstadt wieder zur "wahren Heimat" der Menschen machen – und wurde so zum Vorkämpfer einer modernen Wohnkultur.
"Die UFA-Wochenschau besuchte den weltbekannten Architekten Professor Dr. Ernst May in seinem Haus in Hamburg-Othmarschen. Ein Blick in das Heim des bedeutensten deutschen Städtebauers dokumentiert die neuzeitliche Einstellung des Hausherrn. Die Einrichtung ist eine überzeugende Kombination schlichter Schönheit mit nüchterner Zweckmäßigkeit."
Die Kamera ist zu diesem Text aus einer Wochenschau von 1957 auf die kleine Küche im Privathaus von Ernst May gerichtet.
Der Weg von der Küche ins Esszimmer ist kurz – so war es schon in den 1920er Jahren, als Ernst May in Frankfurt am Main 12.000 Wohnungen bauen ließ. Als Stadtbaumeister des sogenannten "Neuen Frankfurt."
"Ich darf sie grade bitten, eben zu warten, wegen der Alarmanlage…"
Vor der Tür des zweistöckigen Ein-Familien-Reihenhauses im Stadtteil Römerstadt in Frankfurt am Main muss ich zunächst warten, bis Christina Treutlein die Alarmanlage ausgeschaltet hat. Denn es ist ein ganz besonderes Haus, in das ich wenige Augenblicke später hineingeführt werde: Es ist ein fast im Originalzustand erhaltenes Wohn-Reihenhaus von Ernst May, das parallel zum Bauhaus in den 20er-Jahren das Wohnen revolutionieren wollte:
Das "Neue Frankfurt" ist nicht Bauhaus
"Genau! Das 'Neue Frankfurt' ist nicht Bauhaus. Das Bauhaus, das war eine Kunstgewerbeschule in den 1920er-Jahren. 1919 von Walter Gropius gegründet und seine Idee war es, dass die Konsumgüter, mit denen man sich alltäglich umgibt, in der Fabrik hergestellt werden. 'Industrielle Revolution' war da das Stichwort. Und dafür mussten die Produkte neu gestaltet werden. Und am Bauhaus hat man überlegt, wie Produkte maschinengerecht geformt werden können. Das hat man nicht nur am Bauhaus überlegt, das hat man auch hier in Frankfurt überlegt."
Die Kunsthistorikerin Christina Treutlein ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Ernst-May-Gesellschaft in Frankfurt am Main. Zu Fuß führt sie mich durch die Römerstadt im Nord-Westen der Main-Metropole. Die Reihenhäuser sind unter der Federführung des damaligen Stadtbaurates Ernst May in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre aus Fertigbauteilen entstanden: "Man hat die Grundrisse typisiert und in Serie hergestellt", erklärt Treutlein. "Und das sieht man hier, wenn man durch die Straßen geht, jedes Haus sieht aus wie das Nachbarhaus. Und das ist eben das Ergebnis dessen, die Demokratisierung des Wohnens."
Nachbarschaft aufgewertet
In der UFA-Wochenschau aus dem Jahr 1957 erklärt Ernst May selbst, welche Idee seinen Städtebauprojekten bereits 30 Jahre zuvor zugrunde lag:
"Ich sehe die Aufgabe des modernen Städtebaus in erster Linie darin, die unübersehbaren Häusermeere, wie sie vorwiegend im Zeitalter der Industrialisierung entstanden, aufzulockern. Wir gliedern sie in Nachbarschaften von 5000 bis 10.000 Menschen. Dabei gilt es selbstverständlich, die Werte des Großstadtlebens zu erhalten. Der Städtebauer von heute hat in erster Linie seine Aufgabe darin erblickt, wieder das soziale Zusammengehörigkeitsgefühl des Menschen zu wecken. Erst dann wird die Großstadt wieder eine wahre Heimat des Menschen werden."
Wie in einer großen Familie
Christina Treutlein promoviert aktuell zum Architekten Karl-Hermann Rudloff, einem Mitarbeiter von Ernst May: "Das neue Frankfurt wird gerne dem Ernst May alleine unterstellt. Aber wenn man sich mal überlegt, dass er innerhalb von nur 5 Jahren 12.000 Wohnungen gebaut haben soll plus viele Einzelgebäude dazu, wird einem schnell klar, dass das ein Architekt nicht alleine gemacht haben kann."
Ein Team von 50 Architekten und Designern war mit der Konzeption und dem Bau des "Neuen Frankfurt" in den Jahren 1925 bis 1930 beschäftigt. Ernst May erinnert sich dreißig Jahre später an den Geist, der in seinem Team herrschte: "Ich muss sagen, meine Mitarbeiter und ich, wir lebten wie in einer großen Familie zusammen. Da gab es keinerlei Differenzen. Wir sahen uns alle als gemeinsame Kämpfer in einem großen Streit für eine zeitgemäße Kultur an. Und haben unter Hinwegsetzung über Dienstzeiten und Normalstunden und so weiter unser Äußerstes herzugeben, was die Frankfurter in der ganzen Welt bekannt machte."
Großer Kommunikator
Der Frankfurter Stadtbautrat Ernst May sei wie Walter Gropius vom Bauhaus auch ein großer Kommunikator gewesen, betont die Kunsthistorikerin Treutlein. Doch während Gropius im US-Exil seine Ideen im "New Bauhaus" gut weitertragen konnte, emigrierte Ernst May während der NS-Zeit in das damalige Tanganjika in Ostafrika – dem heutigen Tansania.
Zuvor war May seit 1930 in der Sowjetunion tätig: "Und dort hat er einfach nicht die Möglichkeit gehabt, sein Werk so weiter zu präsentieren und zu bewerben, wie das Gropius gemacht hat. Und so hat man das heute ein bisschen vergessen. Und so hat sich umgangssprachlich der Begriff Bauhaus als Stilbegriff durchgesetzt. Aber im Grunde ist es nur der Name einer Kunstschule."
Prototyp der späteren Einbauküche
Das Frankfurter Ernst-May-Haus, das wir inzwischen betreten haben, ist beinahe noch im Originalzustand der 1920er-Jahre erhalten. Wie in den Bauhaus-Gebäuden ist auch in diesem Reihenhaus jedes Detail durchgeplant: Vom metallenen Handlauf an der Treppe zum Hauseingang, über das enge hölzerne Treppenhaus innen und die Design-Möbel im Wohnbereich bis zu den Vorratsbehältern in der sogenannten "Frankfurter Küche" – dem Prototyp der späteren Einbauküche, gleich neben dem Esszimmer.
"Das sind Originalmöbel", erklärt Christina Treutlein. "Da sieht man ganz gut: May hat nicht nur kleine Grundrisse entwerfen lassen, sondern er hat sich auch überlegt, wie die Leute in diesen Wohnungen wohnen können und hat eben auch entsprechendes Mobiliar dafür angeboten."
Peter Weizendorfer, der Bewohner eines Ernst-May-Hauses, bedauert es heute, dass die Original-"Frankfurter Küche" in seinem Reihenhaus nicht mehr vorhanden ist.
"Man ist heute noch begeistert, wenn man so eine Küche sieht. Es gibt noch einige Modelle. Vollholz, mit schönen Rollschubladen, Schiebetüren. Wenn man so ein bisschen Leidenschaft hat für Handwerkskunst, man ist begeistert."
Der Pensionär hat lange darauf gewartet, mit seiner Frau in eines der Häuser des "Neuen Frankfurt" zu ziehen, die der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft ABG gehören:
"Wir haben jahrelang, meine Frau und ich, meine Kinder sind schon groß, drum gebettelt und beantragt, dass wir doch in so ein Häuschen reinkommen. Weil wir einfach von der Form und von der Lage begeistert waren."
Vor vier Jahren hat es endlich geklappt. Vor allem den Garten, der hier zu jedem Reihenhaus gehört, genießen sie.
Flachdach als Dachterrasse
Ernst May hat in der Wochenschau von 1957 begründet, warum hier alle Häuser ein Flachdach haben: "Wie führten das Flachdach im Allgemeinen durch – nicht aus formal spielerischen Gründen, sondern weil wir das Dach ausnutzen, um den Menschen dort Dachterrassen zu geben, auf denen sie an schönen Tagen sitzen und eben den Blick in die freie Landschaft genießen konnten."
12.000 bezahlbare Wohnungen in fünf Jahren – das war die bis heute bewunderte Bilanz des Frankfurter Siedlungsdezernenten Ernst May und seinem Team.
In der Siedlung Römerstadt prägt neben den Reihenhäusern auch ein mehrstöckiger Rundbau das Siedlungsbild. Er wurde geschaffen, um neben Wohnungen im Erdgeschoss auch eine Geschäftszeile anzubieten. Es ist der kommunikative Siedlungskern.
"Wir nennen das die Banane, wir Frankfurter", sagt Peter Weizendorfer. "Das ist ein Mehrfamilienwohnhaus mit Erdgeschoss und zwei Stockwerken und Dach. Wobei jeder Wohnung eine Dachkammer zugewiesen worden ist, mit einem kleinen Balkon, also man kann rausgehen. Man hat damals, ich weiß nicht wer sich um Bauhaus und Ernst May kümmert und sich dafür interessiert, ganz moderne Ideen gehabt: Das Licht den Bewohnern zu geben."
Bad, Toilette, eigener Rundfunk
Die lichtdurchfluteten Gebäude des "Neuen Frankfurt" standen in den 1920-Jahren im besonders deutlichen Gegensatz zur damals noch nicht kriegszerstörten Altstadt am Mainufer: "Die Altstadt in Frankfurt war, so meine Mutter, die in Frankfurt großgeworden ist – das war eine schmutzige, dreckige Angelegenheit. So romantisch und idyllisch das alles im Nachhinein aussieht und klingt – es war ohne sanitäre Einrichtungen jeglicher Art."
Ganz im Gegensatz zum "Neuen Frankfurt": "Und das Moderne: Wenn man überlegt, diese Häuschen hatten schon vor knapp hundert Jahren schon ein Bad, eine Toilette, einen eigenen Rundfunk, das war ja was völlig neues. Und volle sanitäre Einrichtungen, voll unterkellert mit Waschraum und der Zuweisung zu einem Platz, wo man trocknen kann."
Wie viel Wohnraum benötigt jeder Einzelne wirklich?
Waschküchen und Gemeinschafts-Trockenböden werden heute vielfach nicht mehr gebraucht. Das weiß auch Mike Josef. Das ist der heutige, sozialdemokratische Planungsdezernent von Frankfurt am Main und damit einer der Nachfolger Ernst Mays, des Stadtbaurats in der Weimarer Zeit.
Von Ernst May lernen heißt für Mike Josef aber auch heute: Platzsparend und effektiv bauen, ohne dass man sich in der Wohnung beengt fühlt: "Wieviel Wohnraum benötigt eigentlich jeder Einzelne? Das finde ich eine berechtigte Frage. Wieviel Flächen brauchen wir, wieviel erlauben wir uns und wo beginnt eigentlich der Luxus in den Flächen, die wir brauchen?"
Peter Weizendorfer fühlt sich in seinem Ernst-May-Reihenhäuschen nicht als Luxusmieter. Dass er aber seinen Lebensabend im "Neuen Frankfurt" verbringen kann, verdankt er dem sozialpolitischen und architektonischen Aufbruchsgeist, den in den 1920er-Jahren Architekten wie Gropius oder Ernst May idealtypisch verkörperten.
Weizendorfer hebt diesen politischen Aspekt zum Abschluss des Gesprächs in der Siedlung Römerstadt noch einmal hervor: "Es war ja nicht nur das Bauhaus, es war die Zeit damals nach dem Krieg. Der Krieg war verloren, man musste was Neues machen. Die Ideen waren aber schon vorher da. Wenn sie nach Darmstadt gehen, Jugendstil, es bewegte sich was. Die Leute waren neugierig, sie wollten was Neues, in ihrem Sinne Schöneres machen. Das da viele nicht mitgegangen sind, das wissen wir ja leider. Die lieber konservativ gewählt haben und den bequemen Weg der Verantwortungslosigkeit. Leider ist das die Geschichte."