Leben wie in Käfighaltung
An der Wohnsituation lässt sich in Hongkong die massive gesellschaftliche Ungleichheit ablesen. Die Verlierer der südchinesischen Finanzmetropole leben in kleinen Wohnboxen, die oft nicht größer als zwei Quadratmeter sind - und dennoch für Arme kaum bezahlbar.
Im Hongkonger Stadtteil Mongkok leben die Menschen dicht an dicht. So eng wie auf kaum einem anderen Flecken der Welt: Über 100.000 teilen sich hier einen Quadratkilometer Fläche zum Wohnen – in Deutschland sind es durchschnittlich 226 Menschen.
Die Sozialarbeiterin Sze Lai Shan von der Hilfsorganisation Soco betritt einen unscheinbaren Hauseingang. Ein Concierge grüßt, an einer Wand hängen unzählige Metallbriefkästen. Wie im Flur eines gewöhnlichen Mietshauses.
Normale Apartments gibt es hier auch, aber Sze Lai Shan kommt zu Besuch in die Cage-Homes, die sogenannten Käfigwohnungen. Das sind umgebaute Appartements, in denen Holzverschläge vermietet werden. Zweistöckig ziehen sie sich rechts und links eines schmalen Korridors entlang – hier schlafen bis zu 20 Menschen auf 50 Quadratmetern. Jede Schlafbox ist gerade mal zwei Quartmeter groß. Aus einer flackert das fahle Licht eines alten Röhrenfernsehers.
Der 61-jährige Mr. Täm hockt darin und starrt auf den Bildschirm. Vor drei Jahren sind seine letzten Familienangehörigen verstorben. Alleine konnte er die Wohnung nicht mehr halten. Mit seinem Gehalt als Tellerwäscher in einem Restaurant hat er auf dem freien Wohnungsmarkt in Hongkong keine Chance.
"Überall hier gibt es diese Probleme. Daran lässt sich nichts ändern. Die einen werden immer arm sein und die anderen werden immer reich sein. Seit einem Jahr warte ich jetzt auf eine Sozialwohnung von der Stadt, aber es wird schwieriger in Hongkong. Es ist zu teuer hier, die Besitzer der Wohnung erhöhen die Miete jedes Jahr."
1700 Hongkong-Dollar zahlt er im Monat Miete. Das sind 200 Euro, also 100 Euro pro Quadratmeter. Dazu gibt es nur ein heruntergekommenes Gemeinschaftsbad mit einer Toilette für elf Personen. Die Sozialarbeiterin Sze Lai kommt regelmäßig vorbei und verteilt Essengutscheine oder hilft bei der Antragstellung auf eine Sozialwohnung. Die Wohnungsnot hat sich in Hongkong in den vergangenen Jahren extrem verschärft, erzählt sie.
"Die Anzahl der Cage-Homes ist weiter angestiegen. Vor allem die so genannten doppel- und dreistöckigen Sarg-Wohnboxen. Die sind winzig, etwa zwei Quadratmeter groß. Viele dieser Käfigwohnungen haben keine Genehmigung von der Regierung und sind deshalb illegal. Und die Cage Homes werden immer teurer."
Armut und bleiernde Langeweile
Rund 200.000 Menschen in Hongkong leben in solchen unsichtbaren Slums. In Cage-Homes, in kleinen Hütten auf Hochhausdächern oder in aufgeteilten Wohnungen.
Fernsehen bleibt oft die einzige Ablenkung, um die bleierne Langeweile zu vertreiben. Tageslicht kann nur durch ein kleines Fenster einfallen. Schräg gegenüber von Mr. Täm wohnt der 40-jährige Sam. Seine schmale Matratze passt genau in die Box. Auf dem kleinen Regal ein paar Habseligkeiten, Zahnpasta und eine aufgerissene Packung mit Instant-Nudeln.
Zehn Jahre lang hat er als Wachmann bei einer Security-Firma gearbeitet. Dann hat seine Gesundheit nicht mehr mitgemacht. Jetzt ist er arbeitslos und bezieht Sozialhilfe.
"Ich gehe viel raus, um der Enge zu entkommen. Dann schaue ich mir in den Geschäften die neusten Smartphone-Modelle an. Leisten kann ich mir die sowieso nicht, also bleibt es beim Schaufensterbummel. Man muss psychisch schon ziemlich stark sein, um das Leben hier auszuhalten. Ich versuche, nur zwei Mahlzeiten am Tag zu essen. So kann ich jeden Monat ein wenig Geld sparen. Um einen Job am anderen Ende der Stadt annehmen zu können, brauche ich zunächst ein wenig, um die täglichen Fahrtkosten mit der U-Bahn bezahlen zu können."
Ein Teufelskreis, der nur schwer zu durchbrechen ist. Viele der so genannte Cage People hoffen irgendwann auf eine der von der Stadt subventionierten Sozialwohnungen – aber das kann Jahre dauern.
"Die Anträge auf bezahlbare Sozialwohnungen haben sich in den letzten 10 Jahren mehr als verdoppelt. Zurzeit warten etwa 285.000 Menschen."
Teurer als New York und Tokio
Mit den astronomischen Mietpreisen auf dem freien Wohnungsmarkt zählt Hongkong noch vor New York oder Tokio zu den teuersten Städten der Welt. Deshalb lebt fast jeder dritte Bürger der Sieben-Millionenmetropole in einer Sozialwohnung in den gigantischen Hochhaussiedlungen rund ums Stadtzentrum.
Für viele Immobilieneigentümer hingegen ist die Not zu einem lukrativen Geschäft geworden, erzählt die Sozialarbeiterin Sze Lai Shan.
"Durch das Aufteilen der Wohnungen bekommen die Eigentümer letztlich mehr Miete, als wenn sie die Wohnung einfach an eine einzige Familie vermieten würden. Deshalb mögen es die Wohnungsbesitzer auch nicht, wenn wir hierher kommen – sie haben Angst, dass wir ihnen das Geschäft kaputt machen, wenn wir den Leuten helfen, eine Sozialwohnung zu bekommen. Wir versuchen also möglichst, nicht die Vermieter zu treffen. Manche können nämlich ziemlich böse werden, uns anschreien oder sie drohen damit, die Polizei zu rufen."
Vor allem alleinstehende Männer leben in den Käfigboxen. In diesen Wohngemeinschaften kann man sich seine Mitbewohner nicht aussuchen. Auch wenn er sich mit seinen Nachbarn hier recht gut verstehe, sei die Enge oft nur schwer auszuhalten, erzählt Mr. Täm
"Dann versuche ich, möglichst viel Zeit draußen zu verbringen, oder ich träume von einem eigenen Haus mit Pool und Garten im Hongkonger Villenviertel Kowloon Tong."
Sozialarbeiterin Sze Lai Shan kennt viele der Bewohner schon jahrelang. Die Frau mit den langen Haaren und dem sanften Lächeln wird von den Leuten hier akzeptiert. Bringt ein bisschen Abwechslung und Zuwendung im sonst tristen Alltag. Doch nach einer Stunde muss sie wieder weiter – zu ihrem nächsten Termin in eine andere Käfigwohnung.
Wandlungsreiche 32 Quadratmeter
Im Osten von Hongkong Island liegt der ehemalige Arbeiterstadtteil Sai Wan Ho. Hierher verirren sich keine Touristen. Ein klassisches Wohnquartier, keine Attraktionen. Doch inmitten dieser Hochhausschluchten mit tausenden unscheinbaren Apartments hat hier EINE Wohnung viel Ruhm und Beachtung in der internationalen Architekturszene erlangt.
Mit einem Fingerabdruckscanner öffnet der Hongkonger Architekt Gary Chang die Tür zu seinem Apartment. Warmes Licht, glatte Wände und Oberflächen. Ein 32 Quadratmeter großer Raum in schlichtem Design. Das Besondere: alle Regale und Wohnelemente hier lassen sich verschieben und verbergen.
"Die meisten Wände meiner Wohnung können sich bewegen – auf Schienen in der Decke. Wenn ich diese Wand mit dem Fernseher und den Regalen nach vorne ziehe, verbirgt sich dahinter meine Küche. Aber ich benutze die Küche nicht den ganzen Tag, also kann ich sie in der Zwischenzeit verschwinden lassen, so nimmt sie nur ein Minimum an Platz ein."
Fast lautlos zieht Gary Ghang die schwere Regalwand durch den Raum. Dahinter Geschirrspüler, Herd und Espressomaschine. Innerhalb von Sekunden hat sich das Wohnzimmer in eine komplette Küche verwandelt.
Mit einem weiteren Knopfdruck fährt ein Doppelbett aus der Wand. Noch ein Handgriff und Gary Chang steht plötzlich in seinem Arbeitszimmer. Der 52-jährige Architekt hat seine eigene Wohnung zum Langzeitexperiment und Showroom gemacht. Sein "Domestic Transformer", wie er sie nennt, ist eine Blaupause für zukünftiges urbanes Wohnen auf kleinstem Raum: Die 32 Quadratmeter lassen sich in über 15 Räume und Wohnszenarien transformieren.
"Ich maximiere hier nicht nur den Raum, in gewisser Weise maximiere ich auch die Zeit. Ich mache ja immer nur eine Sache auf einmal. Dafür brauche ich in diesem Augenblick auch nur ein Wohnszenario. Aber anstatt dass ich mich wie ein einem gewöhnlichen Apartment durch verschiedene Zimmer bewege, verwandelt und bewegt sich meine Wohnung um mich herum. So nutze ich immer den kompletten Raum, also kommt es mir auch nicht klein vor."
Jeder Quadratmeter ist verplant
Nicht unbedingt gemütlich, aber hocheffizient! Jeder Quadratzentimeter ist in diesem Mikro-Apartment verplant. Aus europäischer Perspektive mag der "Domestic Transformer" befremdlich wirken, doch Changs pragmatische Wohnkonzepte werden von immer mehr Hongkonger Bauentwicklern und Stadtplanern nachgefragt.
Die Sieben-Millionen-Einwohner Stadt leidet aufgrund des begrenzenden Territoriums an akuter Platznot. Jeder Bewohner hat durchschnittlich 13 Quadratmeter zum Leben. 40 Prozent der Stadtfläche steht unter Naturschutz und ein Großteil der Hügellandschaft ist nicht bebaubar.
"Alle sprechen über die superhohen Miet- und Immobilienpreise in Hongkong. Und darüber, dass unsere Wohnungen wahnsinnig klein werden. Aber ganz ehrlich, diese Größe ist wirklich noch ziemlich komfortabel. Vor kurzem habe ich für ein Bauprojekt 15-Quadratmeter-Singlewohnungen entworfen. Das ist weniger als die Hälfte von meiner Wohnung. Und das wird immer normaler in Hongkong."
Der Wohnungsmarkt in der Finanzmetropole Hongkong ist in den vergangenen Jahrzehnten zum entfesselten Zocker- und Abzocker-Paradies von Spekulanten geworden. Die Grundstücke, die noch genutzt werden können, sind in der Hand weniger Immobilien-Giganten, die dort meist luxuriöse Hochhausriesen in den Himmel ziehen.
Familien, die eine größere Wohnung brauchen oder gar in einem eigenen Haus leben wollen, müssen raus aus Hongkong in die nördlich gelegenen Gebiete der New Territories. Oder sie ziehen auf die vorgelagerten Outlying Islands der Stadt. Vor allem die Insel Cheung Chau ist ein beliebter Rückzugsort, um der Enge der Metropole und den horrenden Mietpreisen zu entfliehen.
Vom Pier im Stadtteil Central fahren den ganzen Tag über Fähren nach Cheung Chau. Der Ausblick von Bord ist beeindruckend: Auf der linken Seite die im Licht schillernde Skyline von Hongkong Island – rechts ziehen Kowloon und der Containerterminal vorbei. Am Horizont ein paar Ozeanfrachter, die gerade in den Hafen einlaufen.
Aus den alten Lautsprechern auf dem Außendeck krächzt eine Stimme, die die Sicherheitsregeln verliest. Nach einer knappen Stunde ist eine kleine Bucht mit unzähligen bunten Fischerbooten zu sehen: Der Hafen von Cheung Chau.
Im Ortskern fallen sofort die unzähligen Fahrradfahrer auf – die Insel ist autofrei. Von hier aus braucht man zu Fuß nur wenige Minuten, um zu den Stränden auf der Westseite der Insel zu gelangen. Am Kwun Yam Wan Beach liegt das Cheung Chau Windsurfing Center, hier arbeitet der 34-jährige Kah.
Er trägt kurze Hose und T-Shirt, seine langen schwarzen Haare hat er zu einem Zopf zusammengebunden. Vor einem halben Jahr ist der junge Chinese von Downtown auf die Insel gezogen. Immer mehr Hongkonger entdecken langsam die Vorzüge des Lebens auf den ruhigen und idyllischen Inseln. Auch aus ökonomischen Gründen, erzählt Kah.
"Es ist ruhig hier und viel günstiger als in Hongkong Central. Trotzdem dauert es nur 45 Minuten, um nach Downtown zu kommen. Deshalb versuchen mittlerweile viele Leute eher hier als auf Hongkong Island oder in Sai Wan eine Wohnung zu suchen. Ich würde sagen, dass die Mieten auf Cheung Chau nur halb so teuer sind wie dort. Mindestens 30.000 Menschen leben auf der Insel. Die Fährverbindungen sind sehr gut, deshalb pendeln viele Leute täglich zur Arbeit nach Hongkong-Central."
Die Flucht auf die Insel
Cheung Chau umgibt der unaufgeregte Charme eines in die Jahre gekommenen Seebads. Die Uhren ticken langsamer. Und genau das mögen die Leute. In letzter Zeit ist Anzahl der Hongkonger, die hier bezahlbaren Wohnraum suchen, rapide angestiegen. Die Lebensqualität ist hoch auf Cheung Chau.
"Natürlich mag ich es, hier zu wohnen. Ich liebe es, weil ich hier in der Natur wandern und joggen gehen kann. Auf der Insel kann man ziemlich gut entspannen. Solche Orte im Zentrum von Hongkong Island zu finden, ist wirklich nicht leicht."
Die 29-jährige Law kommt gerade von ihrer regelmäßigen Laufrunde am Meer zurück. Sie arbeitet in einer Marketingfirma im Centrum von Hongkong und pendelt täglich mit der Fähre zur Arbeit. Doch durch das verstärkte Pendleraufkommen sind die Fähren nach Hongkong mittlerweile oft stark überlastet. Vor allem die Schnellfähre in der Rushhour am frühen Morgen.
Vom Strand auf Cheung Chau blickt man auf die Wohnhochhäuser auf der Südseite Hongkong Islands. Nur zehn Kilometer Luftlinie – und trotzdem unglaublich weit weg: vom Lärm, den überfüllten U-Bahnen und den verheerenden Lebensbedingungen in den Cage Homes.
Wohnverschläge wie Hundezwinger
Mit der U-Bahn fährt die Sozialarbeiterin Sze Lai Shan zur letzten Käfigwohnung an ihrem heutigen Arbeitstag. Durch einen schäbigen Seiteneingang geht es mit dem Aufzug in den zweiten Stock.
An den Wänden des Raums stehen doppelstöckige Drahtkäfige. Sie sehen aus wie Hundezwinger. An den Gittern hängen Plastiktüten und ein paar Kleidungsstücke. Ein Ventilator wälzt die muffige Luft um. Durch die offenen Fenster dröhnt der Straßenlärm in den Raum. Der 70-jährige Mr. Leung sitzt im Unterhemd auf seiner Matratze.
"Es ist hart in Hongkong zu überleben. Aber ich habe keine Wahl, ich bin hier geboren und muss damit klar kommen. Ich habe keine Pläne mehr für die Zukunft. Ich warte, bis ich sterbe".
Die Wartezeit für die Sozialwohnungen beträgt für Alleinstehende im schlimmsten Fall bis zu zehn Jahre – da schwindet die Hoffnung. Auf diesen zwei Quadratmetern im Käfig ist für einige Endstation.