Leben wir eigentlich in einer Marktwirtschaft? Das ist nur eine von etlichen fundamentalen Fragen, die Wolf Lotter umtreiben. Fragen, deren Antworten am Ende unbefriedigend ausfallen, was auch an der Form des Buches liegt. Aber dazu kommen wir noch. Fangen wir mit der Frage nach der Marktwirtschaft an.
Kritik an einem gelähmten, mutlosen Land
Wolf Lotter sagt, Deutschland werde im Zeitalter der Wissensgesellschaft mit den veralteten Mitteln der Industriegesellschaft verwaltet. Grundsätze, die gestern gültig gewesen seien, würden wie Glaubenssätze tradiert und dadurch unantastbar. Deshalb kämen Zukunftsthemen in diesem Land nicht an. Die Transformation von der Alten Welt in die Neue drohe zu scheitern. Das Land sei wie gelähmt: Unternehmerische und politische Mutlosigkeit gingen Hand in Hand.
Die Umweltpolitik etwa, man kann es am Beispiel der Elektromobilität erkennen, folgt den gesetzlichen Vorgaben. Das ist dann eben ein ökologisch-industrieller Komplex. Kein Mobilitätsanbieter rührt noch einen Finger, wenn es nicht Gesetze und Fördermittel gibt, die im Vorhinein das Tun absichern. Das ist im Grunde Planwirtschaft oder gar Kommandowirtschaft.
aus Wolf Lotter: "Unterschiede"
Den Begriff „ökologisch-industrieller Komplex“ benutzt der Autor in Anlehnung an den gebräuchlicheren Begriff militärisch-industrieller Komplex, der eine staatlich gelenkte Kriegswirtschaft beschreibt. Und weiter:
Das alles ist höchst antiaufklärerisch und antiemanzipatorisch. Wer gegen die Marktwirtschaft grundsätzlich agiert und nicht etwa versucht, sie zu verbessern, der handelt im Auftrag der Antiaufklärung. Wer Diversität will, aber Vielfalt ablehnt, hat entweder sein Wörterbuch verlegt oder ist schlicht ein Heuchler.
aus Wolf Lotter: "Unterschiede"
Wolf Lotter schlägt einen manchmal radikal klingenden, auf jeden Fall entschiedenen Ton an. Allerdings bezieht sich seine Radikalität nicht auf eine grundlegende Kritik des herrschenden Wirtschaftssystems. Er fordert eine effektivere Ausgestaltung der Marktwirtschaft. Er möchte nicht weniger Markt, sondern mehr Markt. Und vor allem: den richtigen.
Die falschen Leute an den Schalthebeln
Der Autor beklagt, dass die falschen Leute mit Weltbildern des 20. Jahrhunderts an den Schalthebeln der Macht säßen - und für ihre Art zu denken auch noch belohnt würden. Ergebnis: Die Volkswirtschaft trete auf der Stelle und werde innovationsimmun.
Märkte sind Ausdruck der Vielfalt, des Unterscheidbaren und Unterschiedlichen. Und Diversität ist die Normalität des Lebens, die sich in Märkten widerspiegelt. Deshalb müssen wir nach 250 Jahren Industrialisierung, vor allem vor dem Hintergrund eines zunehmend mechanistisch werdenden Managements und einer auf einfache Optimierungsmethoden gedrillten Betriebswirtschaft, die Frage stellen: Ist das überhaupt eine Marktwirtschaft, in der wir leben? Sieht man sich die zentrale Technik des Managements im 20. und 21. Jahrhundert an, das Benchmarking, dann ist das nicht der Fall.
aus Wolf Lotter: "Unterschiede"
Das Benchmarking hat die Optimierung bestehender Prozesse zum Ziel. Der Autor beklagt, dass dadurch die Übernahme eingefahrener Routinen belohnt werde. Bestraft würden hingegen Ideen, die aus dem Rahmen fallen oder Neues versuchen.
Um einen „identitären Mitläuferstaat“ mit seiner „Nachahmerkultur“ zu überwinden, dürften Eigensinn und Individualität nicht mehr als Abweichung und Bedrohung wahrgenommen werden.
Belohnt wird das bloße Verwalten
Eine Gesellschaft, die Diversität, also Verschiedenheit, anstrebe, profitiere von der Fülle der Talente jedes Einzelnen. Von Inklusion. Nur auf diese Weise werde Gleichmacherei beendet und Gerechtigkeit erreicht, und zwar, darum geht es Wolf Lotter in diesem Buch: Individualgerechtigkeit.
Inklusion bedeutet ja keineswegs, dass man zwei unterschiedliche Sachverhalte miteinander bis zur Unkenntlichkeit vermischt (...) Dieser Inklusionsbegriff ist von der Norm besessen, der Gleichmacherei, und damit menschenfeindlich und falsch. Denn er baut auf die Auflösung der Unterschiede. Was im Kleinen, bei der korrekt gegenderten Schreibweise, beginnt, setzt sich in der Firma fort, wo alle Meinungen geduldet werden, Hauptsache, sie befolgen den aktuellen Sprech des Managements oder der gerade federführenden Gruppe.
aus Wolf Lotter: "Unterschiede"
Lotter beklagt, dass in führenden Positionen Menschen zu finden seien, deren Fähigkeiten in erster Linie im Verwalten und Organisieren vorhandener Strukturen liegen. Was diesen Leuten fehle, seien Vorstellungen, wie Organisationen über sich hinauswachsen, wie sie sich grundlegend verändern können. Solche Ansätze würden nicht belohnt.
Deshalb leide die industrielle Gesellschaft unter einer déformation professionelle. Man könne, was man könne und was einen schließlich in herausragende Positionen gebracht habe. Für alles, was über den eigenen Karrierebogen hinausreicht, sei man nicht zuständig.
Trotz richtiger Fragen ein unbefriedigendes Leseerlebnis
Gerade in einer digitalen, von Algorithmen geprägten Zukunft sieht der Autor daher eine große Gefahr heraufziehen: die automatisierte Optimierung.
Wo automatisiert optimiert wird, gibt es keine Eigensinnigen mehr, die dagegen anreden und ankämpfen, weil diese Leute gar nicht mehr stören können. Sie sind nicht mehr im Entscheidungsprozess – denn der wird von Systemen getroffen. Dabei sind die Widerständigen und Neinsager die einzigen Garanten gegen die Kreislaufwirtschaft der Dummheit und des dazugehörigen Mittelmaßes, das Unterschiede und Komplexität (...) nicht ausstehen kann. Algorithmen arbeiten unermüdlich am neuen Durchschnitt, an einer Einheit, bei der Unterschiede nivelliert werden oder eben nur mehr in oberflächlichen Erscheinungsformen behandelt werden.
aus Wolf Lotter: "Unterschiede"
Dieses Buch provoziert eine fundamentale Frage: Wie verändert man eine Gesellschaft im laufendem Betrieb? Konkrete Beispiele teilt der Autor bedauerlicherweise nicht mit. Ihm genügt die Kritik am Status quo. Überdies ist das Buch viel zu lang. Alles Konkrete und Wichtige steht im vierten Kapitel, und das umfasst 60 Seiten, also ein Fünftel des Ganzen.
Diese inhaltliche wie formale Unwucht führt zu einem unbefriedigenden Leseerlebnis. Vermutlich gibt es eine Leserschaft für abstraktes Plaudern von Veränderung. Mein Fall ist das nicht.
Wolf Lotter: "Unterschiede – Wie aus Vielfalt Gerechtigkeit wird"
Edition Körber, Hamburg 2022
328 Seiten, 20 Euro