Einhegen ohne auszurotten

Das Wolfsdilemma

30:33 Minuten
Ein einzelner europäischer grauer Wolf (Canis lupus) läuft durch grünes Gras.
Vor gut 20 Jahren schwammen einige Wölfe aus Polen durch Oder und Neiße und gründeten erste Rudel. Heute leben hierzulande knapp 1200 Wölfe. © Getty Images / Universal Images / Arterra / Sven-Erik Arndt
Von Lutz Reidt |
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Viele feiern die Rückkehr der Wölfe als Erfolgsgeschichte des Artenschutzes. Doch Hirten sind alarmiert. Denn ihre Weidetiere sind leichte Beute. Sie werden gerissen, angefressen oder in Panik versetzt. Kann es einen wirksamen Schutz für beide geben?
Die Hirtenwelt scheint wieder heil zu sein am Südhang des Wank, einem 1780 Meter hohen Berg oberhalb von Garmisch-Partenkirchen.
Zutraulich schmiegen sich Werdenfelser Bergschafe mit ihrer dichten Herbstwolle an Hans Hibler und Joseph Grasegger. Die Schafhalter stehen vor der imposanten Kulisse des Wettersteingebirges mit dem dominanten Zugspitz-Massiv im Westen. Bayerische Schäferidylle unter schiefergrauem Himmel.
Doch Mitte August war das anders. Der Wolf war nämlich da, davon ist Hans Hibler überzeugt, an der Gießenbachalm, oberhalb seines Heimatdorfes Farchant bei Garmisch-Partenkirchen.
„Es waren ja drei, vier Almen im Umkreis betroffen, und da hat es auch schon Risse gegeben. Wir haben dann noch ein bisschen mehr aufgepasst. Da ist jeden Tag einer von unseren Hirten dann aufgekommen und hat geschaut; und an dem Tag, wo dann wieder mal Übergriffe waren - also, du kommst ja da hin, die Tiere sind ja noch nicht tot, die waren ja angefressen, man hat die nachher droben erlöst.“

Viele Tiere angefressen, etliche in Panik gestürzt

Rund 40 Tiere sind diesen Angriffen insgesamt zum Opfer gefallen. Kaum eines wurde vollständig vertilgt. Etliche waren nur angefressen. Oder sind panisch geflohen und dabei über die Felswände gestürzt: Nicht alle davon wurden sofort gefunden.
„Was da oben auf den Almen vorgeht, da sind ja viele Schafe, die leben nach zwei, drei Tagen noch. Also, die sind von hinten angefressen - es ist ein Bild! Damit muss man leben lernen. Also, die Hirten, die wir da haben, die gehen in der Früh mit Magengrimmen zum Nachschauen; und wenn das ein Dauerzustand wird, dann werden wir auch keine Hirten mehr kriegen, die unsere Almen da behirten.“
Joseph Grasegger ist Vorsitzender des Landesverbandes Bayerischer Schafhalter. Er lässt seinen Blick übers Tal schweifen, mit den Bäumen im bunten Herbstlaub, dann hinüber zum imposanten Bergpanorama mit der Zugspitze im Westen und der Alpspitze im Osten.
Dahinter, im Reintal, grasen im Hochsommer die Bergschafe bis in 2600 Meter Höhe. Die Schafthalter möchten sich nicht ausmalen, dass dort im nächsten Sommer die Wölfe einfallen könnten.
Schäfer mit Herde auf einer Weide vor Bergkulisse im bayerischen Werdenfels
Machen sich wegen der Wölfe Sorgen um ihre Tiere: Schäfer mit Herde auf einer Weide vor Bergkulisse im bayerischen Werdenfels.© Lutz Reidt
Durch die bayerischen Alpen streifen derzeit nur vereinzelte Wölfe – Rudel wie im Osten und Norden von Deutschland gibt es noch keine.
Vor gut 20 Jahren schwammen einige Wölfe aus Polen durch Oder und Neiße und gründeten erste Rudel in der Lausitz - im Grenzgebiet von Sachsen und Brandenburg. Nach rund 150 Jahren war Deutschland wieder Wolfsland. Heute leben hierzulande knapp 1200 Wölfe - insgesamt gut 160 Rudel sowie einige Dutzend Paare und Einzelwölfe. Vor allem von der Lausitz über Sachsen-Anhalt bis nach Niedersachsen, wobei Wölfe längst auch andere Bundesländer erreicht haben.

Wölfe als Symbol für Wildnis

Viele feiern die Rückkehr als Erfolgsgeschichte im Artenschutz. Der Wolf als Symbol für ein Stück Wildnis, ein Hauch von Yellowstone, der wieder durch das dichtbesiedelte Europa wabert.
Doch nicht überall ist der Wolf willkommen: vor allem auf dem Land nicht. Tierhalter sorgen sich um ihre Schafe und Ziegen, Jäger um ihre Rehe und Hirsche.
Nur: Ist die Sorge überhaupt berechtigt? Ist der Wolf nicht von Natur aus scheu?
„Ja, das ist eine weit verbreitete Meinung, dass der Wolf von Natur aus scheu ist. Das ist er überhaupt nicht! Der Wolf ist ein Spitzenprädator, ein Tier, das nie eine Scheuheit ausprägen musste vor anderen Tieren oder auch vor den Menschen, solange ihm nicht nachgestellt wurde.“
Wolfgang Schröder lebt in der Nähe von Murnau in Oberbayern. Der Wildbiologe sitzt auf einer Bank am Rande einer eingezäunten Weide. Sanft fällt das Grün ins Tal ab, braune und beigefarbene Rinder grasen darauf - Mutterkühe mit ihren Kälbern. Weiter unten blinkt der Riegsee als schmales, silbernes Band durch die kühle Herbstluft, dahinter die Zugspitze, der Gipfel verborgen unter einer dichten Wolkendecke.

Schiefes Bild vom scheuen Wolf

Während seiner Studienjahre in Nordamerika hat der Forscher das dort übliche Wildtiermanagement kennengelernt. Diesen Ansatz hat er später als Professor für Wildbiologie an den Münchener Universitäten über Jahrzehnte gelehrt.
„Ich kenne ja die Wölfe aus der kanadischen Wildnis und weiß diese Situationen zu schätzen. Ich habe mich jedes Mal ungemein gefreut, wenn ich dort Wölfe, junge Wölfe gesehen habe am Rendezvous-Platz, die gewartet haben auf die Alten, die mit Nahrung zurückkommen; oder Wölfe gesehen habe, die über der Waldgrenze als Rudel gejagt haben. Das ist für mich ein Spitzenerlebnis, wie ich kaum eines erlebt habe.“
Wolfgang, genannt „Wolf“ Schröder ist fasziniert von den intelligenten Raubtieren. Und er versucht, schiefe Bilder gerade zu rücken - wie eben jenes vom scheuen Wolf.
„Nun, dieses Bild hat sich gefestigt, nachdem der Wolf Jahrhunderte lang nachgestellt wurde und wirklich nur die raffiniertesten Wölfe überlebt haben, weil die anderen gefangen oder geschossen oder vergiftet wurden; und dieses Bild hat sich einfach in der heutigen Gesellschaft gefestigt.“
Wolfgang Schröder an einer Weide oberhalb von Murnau. Ein paar Rinder stehen nahe am Zaun.
Wolfgang Schröder an einer Weide oberhalb von Murnau. Er lehrte jahrzehntelang als Professor für Wildbiologie an den Münchener Universitäten.© Lutz Reidt
Über Jahrhunderte hinweg hatte der Mensch den Wolf erbarmungslos verfolgt - bis dieser in Mitteleuropa ausgerottet war. In Osteuropa jedoch, in Italien und auch auf dem Balkan, haben Wölfe in abgeschiedenen Bergen und weitläufigen Wäldern überleben können.
„Das hat mit Sicherheit eine genetische Komponente. Aber es hat in allererster Linie eine Verhaltenskomponente: Die Wölfe haben einfach gelernt, den Menschen zu meiden. Und was wir heute sehen, wenn dem Wolf nicht mehr in der gleichen Art und Weise nachgestellt wird, dann ändert er relativ rasch wieder sein Verhalten, wird vertraut, er meidet den Menschen nicht mehr in der gleichen Art und Weise und nutzt auch die Gelegenheit, auf den Menschen zuzugehen, wenn er ihn mit Nahrung verbindet.“

Leichte Beute auf Weiden

Weniger scheu heißt nicht automatisch „aggressiv“ - zumindest nicht in Bezug auf Menschen. Nur dreister könnten Wölfe schon werden, sagt Wolfgang Schröder. Problematisch wird es vor allem, wenn sie die Wälder verlassen und leichte Beute auf den Weiden wittern. Schafe und Ziegen vor allem, aber auch Fohlen und junge Rinder wecken den Jagdinstinkt.
Hier rät Wolfgang Schröder, entschieden gegenzusteuern. Jetzt ist seine Kernkompetenz gefragt: Wildtiermanagement. Das bedeutet unter anderem, Konflikte zwischen Mensch und Wildtieren zu lösen. Oder zumindest zu mildern und zwar: bevor die Sache zu entgleiten droht.
Schöne Erinnerungen an die Wolfsromantik in der kanadischen Wildnis helfen da nicht weiter.
„Für mich ist die Situation in den Alpen, wo auch Menschen mit ihren Tieren durch den Wolf so unter Druck geraten, eine völlig andere. Da ist diese Freude am Wolf alleine nicht ausreichend; und da bin ich als Fachmann natürlich auch gefordert, mitzudenken: Wie denn Maßnahmen aussehen können, die die Schäden eingrenzen?“
Wolfgang Schröder hält inne. Die Mutterkühe und Kälber, die eben noch auf der Weide weit verstreut grasten, haben sich am Zaun versammelt. Einträchtig nebeneinander stieren sie hinüber zum Forscher auf der Bank. Die Szenerie wirkt wie ein Auditorium unter freiem Himmel für wissbegierige Vierbeiner.
Wolfgang Schröder steht auf und stellt sich zu seiner widerkäuenden Studentenschaft an den Zaun.
„Das ist eine gemischte Herde: eine Mutterkuh mit einem Kalb und ein paar halbwüchsige Kühe. Davon sind einige in einer Größenordnung, die Wölfe sofort reißen würden. Und sie sind nicht ausreichend geschützt. Da ist eine Litze Elektrozaun und auf der anderen Seite überhaupt kein Elektrozaun gezogen. Da kann der Bauer heute noch ruhig schlafen, denn die Wölfe sind relativ selten. Wir haben in der Gegend schon einzelne Wölfe, aber die sind noch selten.“
Die Wölfe, die nach Bayern eingewandert sind, stammen zum einen aus Nordostdeutschland. Zum anderen aus der Schweiz. Dort leben mittlerweile zwischen 200 und 300 Wölfe. Tendenz: Stark steigend.

Großes Wolfsaufkommen in Graubünden

"Wir haben ein Wachstum in der Schweiz von etwa 30 Prozent pro Jahr, und über die Hälfte der Wölfe lebt im Kanton Graubünden. Und hier haben wir derzeit eine Verdopplung alle zwei Jahre; und das hat auch im laufenden Jahr dazu geführt, dass wir bereits über 500 gerissene Nutztiere haben."
Marcel Züger arbeitet als Landschaftspfleger in Salouf. Als Inhaber einer kleinen Firma pflegt der Biologe Wiesen und Wälder vor der atemberaubenden Kulisse der Graubündner Bergwelt.
Schon als Achtjähriger hat er die Entwicklung von Kaulquappen dokumentiert, verbrachte unzählige Nächte an Tümpeln und viele Stunden mit der Erforschung von Fledermäusen. Später engagierte er sich in den Schweizer Naturschutzorganisationen „Pro Natura“ und „Birdlife“ und kartierte während seines Biologiestudiums die Lebensräume von Libellen, Fischen und Vögeln.
Stationen in der Musterkarriere eines Naturschützers also, gestützt durch das akademische Fundament von der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich.
Anfangs hat Marcel Züger - ganz Biologe und Naturschützer - die Rückkehr des Wolfes in die Alpen gespannt verfolgt, fast freudig. Doch inzwischen ist das Ganze gekippt. Irgendwann muss der Wolf nach seiner Rückkehr in die Schweizer Bergwelt falsch abgebogen sein. Zwar frisst er viele Hirsche - was zu erwarten war. "Dennoch gibt es ständig und fast überall Übergriffe auf Nutztiere; und allein im Kanton Graubünden sind es derzeit 13 Rudel und Paare, und davon sind gerade mal zwei, die unauffällig sind, die das ganze Jahr kein einziges Nutztier gerissen haben."
Ein Jungwolf, gesichtet in der Region Beverin - Safien - Heinzenberg im Kanton Graubünden
Ein Jungwolf, gesichtet in der Region Beverin - Safien - Heinzenberg im Kanton Graubünden© picture alliance / KEYSTONE / Standeskanzlei Graubuenden
Hirten versuchen ihre Weidetiere vor Wölfen zu schützen. Standard sind Elektrozäune, bei denen ein Maschengeflecht unter Strom steht, oder ein Verbund aus mehreren Drähten - so genannten Litzen. Als Grundschutz hat sich das meistens bewährt, zumindest im nordostdeutschen Tiefland.
Doch Wölfe sind lernfähig und geben ihre Erfahrungen an die Nachkommen weiter. Im Guten - aus Sicht des Menschen - wenn sie Elektrozäune meiden lernen. Aber eben auch im Schlechten. Nämlich dann, wenn sie herausfinden, dass sie diese Barrieren überwinden können, sagt Albert Reif von der Universität Freiburg
"Bei vielen Wolfsattacken und vielen Wolfsindividuen wird es irgendwann mal passieren, dass ein Wolf es gelernt hat - sei es durch einen günstigen Sprungstandort von außen - den Zaun zu überspringen. Und wenn er das mal gemacht hat, wenn er es einmal gemacht hat, dann hat der verhaltensbiologisch auch gelernt, wie man das macht und würde es wieder tun."
Häufig brauchen die Wölfe die Elektrozäune gar nicht erst zu überwinden. Oft brechen die Herdentiere nämlich in Panik aus und werden zu leichter Beute. Einer Untersuchung in Sachsen zufolge wurden Schafe in zwei Dritteln der Fälle außerhalb der Gatter gerissen.

Schutz durch Elektrozaun - ein Mythos?

Marcel Züger ist überzeugt: Es ist ein Mythos, dass Elektrozäune vor Wölfen schützen – was allzu oft verbreitet wird. Zumindest in Graubünden waren anfängliche Erfolge nicht von Dauer. Aus einem simplen Grund.
"Der Herdenschutz ist so gut wie der Herdenschutz des Nachbarn schlecht ist“, sagt Marcel Züger. „Am Anfang gab es ein paar Zäune oder ein paar Herdenschutzmaßnahmen. Dann sind die Wölfe halt einfach zu den Nachbarn gegangen, und haben sich da bedient, wo kein Herdenschutz war. Und mittlerweile sind die meisten Schafe sehr gut geschützt, dennoch sind sie ja attraktiv, um gerissen zu werden; und dann schaffen es die Wölfe, auf alle mögliche Arten und Weisen, diesen Herdenschutz zu umgehen oder zu überwinden."
Der Biologe beobachtet ein Wettrüsten zwischen Hirten und Wölfen. Und die Hirten sieht er auf der Verliererstraße. Teils kilometerlange Elektrozäune, Herdenschutzhunde, Einpferchen der Schafe über Nacht, Hirten rund um die Uhr im Einsatz - auf Dauer nutzt das alles nichts.
„Mittlerweile ist es sogar so, dass wir doppelt und dreifach Herdenschutzmaßnahmen haben. Mit Hirten, Zäunen und Herdenschutzhunden. In einem Fall, da wurden zehn Kilometer Zäune gestellt; es waren zwar zwei Hirten da, vier Herdenschutzhunde und einer der Hirten hat jede Nacht bei der Herde geschlafen; und dennoch hatten sie über 60 vom Wolf getötete Schafe, bis dann die Hirten noch vor dem Albende eigentlich wirklich die Flinte ins Korn geworfen hatten. Die waren physisch und psychisch komplett am Ende."
In Bayern ist die Gefahr für Schafe weniger groß als in Graubünden – noch jedenfalls. Denn Hans Hibler schwant nichts Gutes. Was ist, wenn Nachkommen dieser Schweizer Wölfe bis ins Wettersteingebirge vordringen? Schließlich haben sie sich auf den Riss von Nutztieren spezialisiert und der Weg durch Tirol ist nicht weit für einen Wolf. Und Herdenschutzhunde zur Abwehr kommen in den Bayerischen Alpen nicht in Frage.
„Das sind ja Freiweidegebiete, die sich über Hunderte von Hektar erstrecken, und wir sind in einer Tourismusregion, jeden Meter geht irgendein Tourist vorbei; und wer weiß, was ein guter Herzschutzhund macht, der weiß, dass dies nicht zusammenpasst, diese beiden Sachen. Also, der packt ja die Touristen mit deren Hunden genauso an - wenn es ein guter ist! Und ein schlechter bringt nichts."
Außerdem ist die Schafhaltung für Hans Hibler und seine Kollegen nur ein Nebenerwerb. Die meisten Halter haben nur wenige Dutzend Schafe - da lohnt sich der Aufwand eines Herdenschutzhundes nicht. Und er wäre im kurzen bayerischen Almsommer ohnehin nur ein Saisonarbeiter, den man über den Winter nicht monatelang zu den Schafen in die Ställe pferchen könnte.

Aufwand für Elektrozäune in Almregionen zu hoch

Also doch Elektrozäune? Auch das funktioniert nicht auf den steilen Bergalmen, sagt Hans Hibler. Er kennt das Gelände im Wettersteingebirge, über dem Reintal grasen im Hochsommer viele der Werdenfelser Bergschafe.
„Es sind Felsen, es sind Berge, es sind Gräben, es sind Bäche, also es ist gar nicht die Möglichkeit zum Zäunen. Also, da brauchen wir gar nicht anfangen, weil das wird sowieso nichts. Und da brauchte jetzt auch nicht irgendeiner kommen und sagen: Da könnt ihr einen Zaun aufstellen und da nicht. Der Mensch, der kann da wahrscheinlich gar nicht alleine gehen, ohne dass er irgendeinen Zaun macht. Es ist mitten im Sommer, dass es mal schneit, dann bricht der ganze Zaun, den drückt es darnieder, das kann im Juli, August, das kann das ganze Jahr über sein. Also, es ist nicht möglich, wir brauchen da gar nicht anfangen.“
Joseph Grasegger nickt zustimmend. Auch die Bayerische Staatsregierung hat inzwischen weitläufige Almregionen ausgewiesen, in denen solch ein Herdenschutz mit vertretbarem Aufwand schlichtweg nicht möglich wäre. Um den Aufwand zu verdeutlichen, hat er einmal ausgerechnet, wie lang die Elektrozäune sein müssten, „und bin dabei nur für die Almbereiche, also nur für Garmisch-Partenkirchen, auf circa 300 Kilometer gekommen; das ist eine Strecke bis nach Nürnberg. Diese Zäune müssten jedes Jahr aufgestellt werden und im Herbst wieder abgebaut werden. Einmal unmöglich, weil es arbeitstechnisch nicht machbar ist, finanziell überhaupt nicht zu bewältigen ist; und mit diesen Zäunen würden wir auch die kompletten Wälder durchschneiden. Das Wild würde von den Wasserquellen oder Bachläufen abgeschnitten, und das ist auch nicht im Interesse unseres bayerischen Staatsforstens."
Ein Elektrozaun sichert eine Weidewiese für Schafe in Schermbeck - Gahlen im Kreis Wesel.
Schafhaltung im Wolfsgebiet: Ein Elektrozaun sichert eine Weidewiese - doch es gibt auch Argumente gegen den Einsatz dieser Schutzmaßnahme.© IMAGO / Funke Foto Services / Markus Weissenfels
Doch das Aufstellen von Elektrozäunen ist oft nicht nur ein technisches Problem. Es geht auch darum: Welche Folgen hat es, wenn Elektrozäune die Kulturlandschaft zerschneiden? Untersucht hat das bislang niemand eingehend, bedauert der Ökologe Albert Reif von der Universität Freiburg. Auch im Schwarzwald haben die Wölfe bereits Spuren hinterlassen.*
"Der Wolf hat auch - wenn auch seltener - die Fähigkeit, Jungrinder oder gar Pferde auf der Weide zu reißen. Also in Bernau hat er fünf Jungrinder auf einer Weide gerissen - im Schwarzwald am Feldberg, in Nähe des Feldbergs. Und die Auflagen für die Haltung von Rindern, die sind nicht so streng wie bei der Schafhaltung. Also wenn nun alle Rinderweiden im Schwarzwald jetzt auch noch wolfssicher gezäunt werden müssten, dann hätte das ganz gravierende Auswirkungen auf die Landschaft, auf die Wanderungsfähigkeit von Tieren durch die Landschaft, aber auch auf die Zugänglichkeit der Landschaft für die Menschen - hat auch enorme Kosten zufolge."

Zäune auch für kleinere Tiere ein Problem

Gäbe es eine Prüfung, wie umweltverträglich Elektrozäune wären – es stünde vermutlich schlecht um den technischen Herdenschutz. Denn wenn solche Barrieren einen großen Wolf abhalten, sind sie für kleinere Tiere erst recht ein Problem.
Marcel Züger hat dies in Graubünden beobachtet: „Dachse, Hasen, Marder, Igel usw. - die können da nicht drüber, die gehen meist auch nicht in den Zaun rein, dass sie darin sterben, aber da wird einfach der Lebensraum zerschnitten. Im Extremfall kann das sein, dass sie vom Tagesversteck, also dem Ruhelager am Tag, nicht mehr nachts zum Nahrungsplatz wechseln können; dann verliert der Lebensraum komplett seine Bedeutung für diese Tiere.“
Die Qualität des Lebensraumes schwindet, wenn er zerstückelt wird. Gravierend sind auch die Folgen für kleinere Tiere. Während ein Elektrozaun einem Wolf einen schmerzhaften Schlag beibringt, ist der für Amphibien meist tödlich.
"Es gibt Kleintiere, die dann in Kontakt mit den Drähten kommen und einen starken Stromschlag bekommen. Das sind Amphibien, Reptilien, also Schlangen, Frösche, Kröten, die sterben an diesem Schlag. Das ist wirklich eine unmittelbare Todesgefahr, und es gibt dann auch die größeren Tiere, vor allem Hirsche und Rehe, die sich mit dem Geweih darin verfangen, zum Teil auch die Tiere ohne Geweih, die sich da verheddern und dann auch mit dem Strom, der da ständig kommt dann zu Tode kommen."
Die Kosten-Nutzen-Analyse einer weitläufigen Elektrozäunung dürfte ernüchternd ausfallen, meint der Biologe. Im schlechtesten Fall häufen sich die Kollateralschäden bei kleinen und größeren Wildtieren und deren Lebensräumen, ohne dass die Wölfe davon abgehalten werden, Nutztiere zu reißen.

Ohne Weidetiere keine Almwiesen

Und dann sind da noch die Almbauern, die um ihre Existenz bangen müssen: Was geschähe denn, wenn Schafe, Ziegen und Rinder aus der Schweizer Bergwelt verschwänden?
"Also, wenn wir keine Tiere mehr halten würden, bräuchten wir auch kein Heu! Und gerade diese bunten Magerwiesen mit dieser Blütenpracht aus allen Farben, die beherbergen ja gerade diese summende schwirrende Vielfalt aus allerlei Schmetterlingen, von Bienen und anderen Insekten“, sagt Marcel Züger.
Wertvoll sind vor allem die Alpweiden, oberhalb der Waldgrenze, wo Rinder, Schafe und Ziegen im Hochsommer grasen. Sie sind weit mehr als nur das Sinnbild einer vermeintlich heilen Schweizer Bergwelt.
"Wo man dem Enzian begegnet, die blauen Glockenblumen, die lilafarbenen Prachtnelken; dort wo Murmeltiere, Schneehasen, und Birkhühner leben - das sind klassische Weiden, wo nur geweidet werden kann, wo wegen Steinen und wegen der Steilheit auch keine Mähmaschine hinkommt. Da ist man darauf angewiesen, dass die Tiere die Landschaftspflege übernehmen und in den Mooren, da gibt es zahlreiche gefährdete Arten, fleischfressende Pflanzen wie der Sonnentau, das Wollgras mit den weißen Blüten, die wie kleine Wattebäusche aussehen, oder eine große Zahl von auffälligen, manchmal pinken und violetten Orchideen."
Auch im Schwarzwald und anderen Mittelgebirgen gibt es diese schützenswerten Lebensräume: Flachmoore, Magerwiesen und Trockenrasen lassen sich nur bewahren, wenn Schafe, Ziegen und Rinder darauf weiden.
Den Gesetzesrahmen liefert die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie zur Wiederherstellung, Erhaltung und Förderung der biologischen Vielfalt in den Ländern der Europäischen Union. Und genau diese Richtlinie schützt auch den Wolf. So entsteht ein klassischer Zielkonflikt, sagt Ökologe Albert Reif.
„Der Naturschutz begrüßt natürlich diese Rückkehr des Wolfes. Ich auch irgendwie! Wir sind in einem Dilemma. Wir wollen den Wolf schützen, aber auf der anderen Seite: Es gibt auch Kulturlandschaftslemente, die ebenfalls durch die FFH-Richtlinie geschützt sind, nämlich Offenlandbiotope, Offenlandarten, Magerrasen und die es gilt ebenfalls zu erhalten. Dilemma - das bedeutet: Wir machen immer einen Fehler, egal wie wir uns entscheiden! Entweder wir schützen den Wolf oder wir werden auch einige durch die Beweidung erhaltene Lebensräume verlieren."
Die Diskussion ist im vollen Gange, ob der Wolf wirklich noch so bedroht ist. Mittlerweile befasst sich auch ein EU-Gremium mit der Frage, ob die FFH-Richtlinie von 1992 angepasst werden muss. Damals gab es weder in Nordostdeutschland noch in den Alpen ein Wolfsrudel, allenfalls wurden Einzeltiere gesichtet - und meist auch sofort abgeschossen. Insofern war der Schutz der Tiere damals zwingend erforderlich.
Doch mittlerweile leben europaweit mindestens 17.000 Wölfe, Russland nicht mit einbezogen. In einigen Regionen wächst der Bestand um 30 Prozent pro Jahr. Die Schere zwischen gesetzlichem Schutzstatus und tatsächlicher Bestandsgröße klafft in vielen Regionen immer weiter auseinander. Gleichzeitig geraten erhaltenswerte Lebensräume in die Bredouille.

Erneute Ausrottung verhindern

Entweder - oder? Wolf oder Trockenrasen? Diese Frage stellt sich für Wolfgang Schröder nicht. Die Mutterkuhherde, die eben noch seinen Worten zu lauschen schien, grast wieder friedlich auf der Weide oberhalb des Riegsees bei Murnau.
Der Wildbiologe hat sich zurück auf die Bank gesetzt. Er will das eine tun, ohne das andere zu lassen. Wolfgang Schröder möchte, dass die Hirten weiterhin ihre Rinder, Schafe und Ziegen im Sommer auf die Almen treiben können, ohne dass der Wolf wieder verschwindet.
Eine erneute Ausrottung gilt es zu verhindern. Gerade in Österreich wächst der Widerstand, gewilderte Wölfe sind dort schon zuhauf auf der Strecke geblieben. Klassische Fälle von Selbstjustiz, die es zu vermeiden gilt.
Es braucht also ein Wildtiermanagement, das den Wolf als Art in den Alpen dauerhaft erhält - aber eben nicht jedes einzelne Tier, noch nicht einmal jedes einzelne Rudel.
„Wer Ja sagt zum Wolf muss auch zum Abschuss der Wölfe ja sagen. Wolfsschutz ohne den Abschuss der Wölfe ist undenkbar! Und ich sage ganz deutlich Abschuss. Alle anderen Maßnahmen wie Fangen oder Vergrämen, die sind nicht ausreichend zielführend. Der Abschuss ist schon deshalb wichtig, weil nur über den Abschuss können Sie auch auf das Verhalten der Wölfe Einfluss nehmen und sie einigermaßen scheu halten.“
Bislang gelingt das nicht. Abgeschossen werden dürfen derzeit nur sogenannte Problemwölfe. Das sind Tiere, die wiederholt Weidevieh reißen, obwohl Herdenschutzmaßnahmen sie eigentlich daran hindern sollten.
Das Problem ist nur, diese Wölfe später zu identifizieren. Die Gefahr ist groß, dass die Kugel den falschen Wolf trifft. Deshalb haben Klagen von Naturschutzverbänden gegen Abschussgenehmigungen häufig Erfolg.

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Wolfgang Schröder plädiert deswegen für den so genannten Defensiv-Abschuss direkt am Weidezaun. „Also, wenn problematische Wölfe getötet werden, geschossen werden, dann macht es natürlich Sinn, dass dies im unmittelbaren Feld der Tat stattfindet, dass die Wölfe - und es wird ja nicht jeder Wolf geschossen, sondern die anderen Wölfe, die das Schauspiel miterleben, lernen, dass es gefährlich ist, sich den Herden und den Hirten zu nähern.“
Diese Schutzjagd allein wird jedoch nicht reichen, um die Probleme zu lösen, meint Wolfgang Schröder. Erfolgsorientiertes Wildtiermanagement funktioniere nicht allein, indem Einzeltiere abgeschossen werden. Nötig sei ein Konzept für den gesamten Alpenraum und über Ländergrenzen hinweg. Denn Wölfe machen bei ihren weitläufigen Wanderungen nicht an Grenzpfählen halt.
„Es zeigt sich, dass dort oder da schon ausgeklügelt wird, unter welchen Bedingungen man einen problematischen Wolf schießen kann. Wir haben aber noch keine großräumigen Managementstrukturen, die über die Häufigkeit von Rudeln, die flächenmäßige Ausdehnung von Wölfen nachdenken. Da müssen mehrere Länder grenzüberschreitend zusammenarbeiten. Ein Grundsatz: Da geht´s um Konfliktlösungen; und das funktioniert nur, wenn die Betroffenen mit beteiligt werden.“
Alpenweit müssen Wissenschaftler, Naturschützer, Tierhalter und Jäger überlegen, wo Wölfe dauerhaft leben können. Und wo Konflikte mit der Almwirtschaft zu groß wären. Es wird Bereiche geben, wo noch nicht einmal ein einzelner Wolf toleriert werden kann. Und es wird auch Almen geben, wo keine Tiere mehr weiden können, weil die Wölfe Vorrang haben. Kompromissbereitschaft auf allen Seiten wird nötig sein. Und der gesetzliche Rahmen für solch ein alpenweites Wolfsmanagement muss auch erst noch geschaffen werden.

Entschädigung für vom Wolf gerissene Tiere

Oberhalb von Garmisch-Partenkirchen steht Joseph Grasegger an der Seite von Hans Hibler bei dessen Bergschafen. Sie unterhalten sich über die Entschädigung, die der Freistaat zahlen will für die Schafe, die an der Grießbachalm vom Wolf gerissen wurden oder abgestürzt sind.
„Die Entschädigungssumme wird für nachweislich gerissene Tiere durch Wolf ausbezahlt. So, wie es bei uns ausschaut, auch für die, die nicht mehr auffindbar sind. Das ist eine Sonderlösung, die nicht überall praktiziert wird. Ich selber sehe das als ‚Blutgeld‘ - also, keiner wird seine Schafe oder seine Rinder zur Verfügung stellen, damit er sie auf die Almen treibt und dem Wolf zum Fraß vorwirft.“
Der Wolf ist eindeutig die größte Gefahr für die Schafe, sagt Joseph Grasegger. Und nicht etwa der Luchs, der schon seit vielen Jahren hier durch die Wälder schleicht - stets auf der Suche nach seiner Hauptbeute, dem Reh. Und auch nicht jener Bär, der seit drei Jahren unscheinbar durchs Ammergebirge streift.
„Der Beutegreifer wie unser Bär, den wir da haben, der wird akzeptiert! Nur Beutegreifer, die übergriffig werden, die muss man entnehmen, das ist eine ganz eindeutige Forderung des Landesverbandes Bayerischer Schafhalter. Wir fordern, in nicht schützbaren Gebieten Weideschutzzonen; und dort sollte Bestandsjagd und Schutzjagd möglich sein. Also, wir brauchen dringlichst die Reduzierung von großen Beutegreifern, um die Möglichkeit der freien Weidewirtschaft, die Fortführung zu gewährleisten."
Doch bislang hat sich in den bayerischen Alpen noch nicht mal ein Rudel Wölfe zusammengefunden. Rechtlich dürfte es also schwierig werden, auf Wolfsjagd zu gehen. Nur: Wie sonst soll es gelingen, den Wolf auf Dauer von Mensch und Weidetieren fernzuhalten? Bis ein alpenweites Wolfsmanagement greift, können die Werdenfelser Schäfer nur hoffen: Möglichst unauffällig sollen sie bleiben, die Beutegreifer. „Ein unauffälliger Wolf, der ist für uns genauso kein Problem wie ein unauffälliger Bär.“

Autor: Lutz Reidt
Sprecherin und Sprecher: Katharina Pütter und Ole Lagerpusch
Regie: Roman Neumann
Technik: Hermann Leppich
Redaktion: Martin Mair

*Redaktioneller Hinweis: Wir haben das Wort „Schweizer“ gestrichen, da die angesprochenen Wölfe nicht aus der Schweiz in den Schwarzwald eingewandert sind, sondern vermutlich ursprünglich aus Norddeutschland.
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