Wolfgang Benz (Hrsg.): "Streitfall Antisemitismus – Anspruch auf Deutungsmacht und politische Interessen"
Metropol Verlag, Berlin 2020
328 Seiten, 24 Euro
Kühle Argumente in aufgeheizter Debatte
08:35 Minuten
Was ist Kritik an der Politik des Staates Israel – und was ist Antisemitismus? Diese Frage wird heftig und oft polemisch diskutiert. Ein Sammelband des Historikers Wolfgang Benz bemüht sich um Orientierung – ein wichtiges Buch zum richtigen Zeitpunkt.
Das Buch "Streitfall Antisemitismus" will eine Orientierungshilfe bieten im aktuellen Diskurs über Antisemitismus in Deutschland: Orientierung in gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen, die Wolfgang Benz und die von ihm eingeladenen Autoren als problematisch empfinden. Benz forscht und veröffentlicht seit Jahrzehnten zum Thema und gilt als international anerkannte Autorität. Versammelt hat er 15 Beiträge namhafter Autorinnen und Autoren, darunter Wissenschaftler und Publizisten wie Katajun Amirpur, Micha Brumlik und Moshe Zimmermann.
Das Problem: Im Grunde ist der Kampf gegen Antisemitismus ja ein zutiefst liberales, aufklärerisches Projekt - wird aber zunehmend von illiberalen Kräften für ihre Zwecke politisch instrumentalisiert. Darunter, um Beispiele zu nennen, rechtspopulistischen Kreisen um die AfD, die sich als Philosemiten und Israelfreunde geben, um ihre Muslimfeindschaft zu legitimieren. Aber auch der Netanjahu-Regierung, die sich auch in Deutschland immer wieder einmischt, um ihre Lesart zum Nahost-Konflikt durchzusetzen. Etwa beim Eklat um die Jerusalem-Ausstellung des Jüdischen Museums, die 2019 zum Rücktritt von Direktor Peter Schäfer geführt hat. Solchen Ansinnen stellt sich das Buch entgegen. Auf klare, unpolemische Weise will es informieren, aufklären und Wege aus der allgemeinen Verwirrung aufzeigen.
Was genau ist überhaupt Antisemitismus?
"Wegweiser für die Verwirrten" lautet denn auch der Titel des ersten Textes, den der ehemalige israelische Botschafter in Deutschland Simon Stein und der Historiker Moshe Zimmermann gemeinsam verfasst haben. Der Titel ist ein Meisterstück: Im ersten Moment wirkt er vielleicht wie sanfter Spott, bis man sich erinnert, dass er auf ein Werk des jüdischen Philosophen Moses Maimonides aus dem Mittelalter anspielt, auf den "More Nevuchim", meist übersetzt als "Führer der Unschlüssigen".
Damit öffnen die Autoren einen immensen Bedeutungskontext, der an dieser Stelle gar nicht auszuschöpfen ist. In aller Kürze: Maimonides’ "Verwirrte" waren philosophisch belesene Juden, die dadurch mit dem Glauben in Konflikt gerieten. Stein und Zimmermann meinen uns Heutige, Juden wie Nicht-Juden, die das Phänomen der Judenfeindschaft verstehen und überwinden wollen und dabei Gefahr laufen, zwischen politischen Interessen zerrieben zu werden. Nicht umsonst bildet dieser Text den Auftakt eines Buches, das sich insgesamt als eine solche Orientierungshilfe versteht.
Es handelt dabei von ganz grundsätzlichen Fragen, zum Beispiel: Darf man Antisemitismus mit anderen Formen des Rassismus vergleichen? Die leidenschaftliche Antwort: Man darf nicht nur, man muss, wenn man das Ziel hat, "wirksame Strategien gegen […] alle Formen der Dämonisierung, Verachtung, Unterdrückung [von Minderheiten] zu finden" (Benz).
"Antisemitismen" statt "Antisemitismus"
Oder noch grundsätzlicher: Was genau ist überhaupt Antisemitismus?
Die Beantwortung dieser Frage ist hier vor allem die Aufgabe des Politikwissenschaftlers Michael Kohlstruck. Er unterzieht den Begriff einer genauen, semantischen Analyse und zeigt, warum die Wissenschaft eher von "Antisemitismen" als "dem Antisemitismus" als quasi einem Substanzbegriff spricht. Ein sehr wichtiger Text. Aber auch die anderen Autoren steuern ihre Überlegungen bei.
Sehr verkürzt lassen sie sich so zusammenfassen, dass wir zwischen drei Definitionen zu unterscheiden haben. Erstens: gewissermaßen "traditionellen" Antisemitismen, die sich mit ihren mal mehr, mal weniger plumpen Stereotypen als Hass und Gewalt gegen Juden ausdrücken. Zweitens: der gegen den Staat Israel gerichtete Antisemitismus, der das Existenzrecht Israels leugnet. Drittens, und hier wird es problematisch: ein neuer oder erweiterter Antisemitismusbegriff, der sich aus einer "Arbeitsdefinition" ableitet, die die International Holocaust Remembrance Alliance vor vier Jahren veröffentlicht hat. Kohlstruck arbeitet heraus, dass es mit dieser Definition möglich wird, "auch menschenrechtlich begründete Kritik an der Politik des Staates Israel als antisemitisch erscheinen zu lassen". Folge ist die eingangs erwähnte Verwirrung gerade auch unter eigentlich Wohlmeinenden, die zu einer denunziatorischen, anti-aufklärerischen Atmosphäre in der Gesellschaft führt. Davor warnt besonders eindringlich Micha Brumlik, der darin einen direkten Weg in eine "illiberale" Demokratie sieht. Sein Beitrag schließt mit den Worten: "Wehret den Anfängen!"
Das richtige Buch zur richtigen Zeit
Das ist kein Alarmismus. Der Versuch, zwischen Antisemitismus und Kritik an der Politik des Staates Israel genau zu unterscheiden, hat dem Buch bereits den Vorwurf eingebracht, Antisemitismus zu verharmlosen. Ein Vorwurf, der eigentlich nur zeigt, auf was für einem bedenklichen Niveau der Diskurs bei uns angekommen ist. Herausgeber Benz hat sich sein Leben lang gegen Antisemitismus, Rassismus, Gewalt gegen Minderheiten und für tolerante, demokratische Positionen eingesetzt. Gerade weil seine Integrität außer Frage steht – was übrigens ebenso für die anderen Autoren gilt – kann das Buch es sich leisten, Probleme und Gefahren zu benennen, die ansonsten vielleicht ihrerseits verschwiegen oder verharmlost würden.
"Streitfall Antisemistismus" erscheint daher zur richtigen Zeit. Ein Buch für alle, die sich des Themas außerhalb der medialen Empörungsdynamik mit Ruhe und Konzentration annehmen möchten. Einerseits um gegenüber der öffentlichen Debatte einen eigenen, wohl informierten Standpunkt zu finden. Andererseits - und das ist vielleicht sogar das wichtigste – um ihre innere Haltung überprüfen zu können. Denn es wird ja bei all dem medialen Lärm, der entstehen kann, gern mal vergessen, dass es für uns als je Einzelne - gerade hier in Deutschland – vor allem darum geht, unsere eigenen Verengungen immer wieder zu erkennen und zu überwinden. Ja, es gibt die öffentliche Debatte, und sie ist wichtig. Aber sie muss geführt werden auf dem Boden nicht von Pflichteifer oder politisch opportunen Lippenbekenntnissen, sondern einer ständigen Gewissensprüfung, die der Offenheit und Toleranz verpflichtet bleibt.
Mit anderen Worten: unbedingt lesen!