Wolfgang Emmerich: "Nahe Fremde. Paul Celan und die Deutschen"
Göttingen, Wallstein Verlag, 2020
400 Seiten, 24 Euro
Deutsch als Sprache, nicht als Nationalität
06:54 Minuten
Heute vor 50 Jahren starb Paul Celan – einer der bedeutendsten deutschsprachigen Dichter der Nachkriegszeit. Sein zeitlebens problematisches Verhältnis zu Deutschland beleuchtet jetzt Wolfgang Emmerich in einem neuen Buch.
Die Juden der Bukowina waren nach dem Ende des Ersten Weltkrieges noch lange Zeit die Bewahrer der deutschen Sprache und Kultur. Der Dichter Paul Celan stammt von dort, "einer Gegend", wie er selbst formulierte, "in der Menschen und Bücher lebten". 1920 im damals rumänischen Czernowitz geboren, starb Celan vor fünfzig Jahren in Paris.
Deutschland, das springt ins Auge, bietet für seine Biografie keine Eckdaten – doch für sein Leben war es bestimmend. Jüdisch und Deutsch, das schien eine Zeit lang zueinander zu passen. Deutsch war Celans Muttersprache, die kulturelle Prägung. Doch dann kam es zur "Zäsur": Deutsch wurde zur Mördersprache, Celans Eltern starben im KZ, der Sohn überlebte die Schoah in einem Arbeitslager.
Bukarest – Wien – Paris
Danach lebte Celan als Rumäne in Bukarest, als Staatenloser in Wien und – in der zweiten Lebenshälfte – als Franzose in Paris. Er sprach mehrere Sprachen fließend und übersetzte aus ihnen. Doch Sprache seiner Dichtung blieb das Deutsche. Deutschland war sein Bezugspunkt, dort wollte er reüssieren. Und doch, betont der Literaturwissenschaftler Wolfgang Emmerich, kommt das Wort Deutschland in seinem ganzen lyrischen Werk nur zweimal vor. Celan hielt sich in Deutschland immer nur kurz auf, leben konnte und wollte er dort nicht – obwohl sich dazu durchaus die Möglichkeit bot.
In seiner vorzüglichen Studie "Nahe Fremde" stellt Emmerich entlang der Biografie Paul Celans dessen Verhältnis zu Deutschland äußerst fundiert und hervorragend lesbar dar. Celan will gewürdigt und (an)erkannt sein, erlebt aber immer wieder Unverständnis und Befremdung. Emmerich beschreibt unter diesem Aspekt nicht nur feinfühlig äußere Begebenheiten, wie beispielsweise die Beziehung des Dichters zu Ingeborg Bachmann, die Kontakte zur "Gruppe 47", Freundschaften mit Dichterkollegen, die von Claire Goll verleumderisch angezettelte Plagiatsaffäre, die Begegnung mit Martin Heidegger, krasse oder subtile Konfrontation mit deutschem Antisemitismus, sondern auch viele von Celans Gedichten. Deren Ausdeutungen sind klug und erhellend.
Sie bringen uns Celan als Menschen ebenso nah wie seine Lyrik, denn Emmerich zeigt überzeugend, auf welch enge, mitunter traumatische Weise Dichtung und Erfahrung bei Celan sich verbinden.
Kränkung und Anerkennung
Deutlich wird: Celans Verhältnis zu Deutschland und den Deutschen ist fragil, weil dauerhaft geprägt von der Schoah. Weder im persönlichen Kontakt noch beim Gebrauch der deutschen Sprache ist sie für Celan auszublenden. In Deutschland fühlt sich Celan daher immer wieder als Fremder, gekränkt und missverstanden, bei gleichzeitiger Anerkennung seiner Dichtung. Denn die Deutschen, wie Celan sie erlebt, wollen oder können in ihrer Mehrzahl sein Dasein nicht verstehen. Zu stark sind deutsche Nachkriegsgesellschaft und Literaturbetrieb von Wehrmachtsvergangenheit und Antisemitismus, abwehrenden Schuldgefühlen und Verdrängung kontaminiert. Und selbst die Rebellion der studentischen Jugend 1968 sieht der Jude Paul Celan kritisch, nimmt er doch sofort wahr, wie viel Antisemitismus im Antizionismus der "Linksnibelungen" steckt.
Es ist ein Vorzug dieses Buches, dass es über Celans Lebenszeit auch hinausweist, dass es das Werk des Dichters nicht bloß literaturhistorisch betrachtet, sondern als eines lesbar macht, das bis heute den Kern des deutsch-jüdischen Verhältnisses berührt.