Wolfgang Engler: Bürger, ohne Arbeit

Von Jochen R. Klicker |
Wenn es so etwas wie Kultbücher auch unter den zeitgenössischen Sachbüchern gibt, dann hat der neue Band des Berliner Professors für Kultursoziologie und Ästhetik, Wolfgang Engler, das Zeug dazu, eines zu werden. Überall, wohin man schaut, rezensieren einfühlsame Prominente und weniger Prominente diese Streitschrift "für eine radikale Neugestaltung der Gesellschaft".
Nein, leider nicht. Ich halte es da wie unser Kollege Jens Bisky, der vor just einem Monat in der "Süddeutschen Zeitung" vermerkte, noch niemand sei es gelungen, ein überzeugendes Modell dafür zu entwickeln, wie Menschen ohne Arbeit in die westliche Kultur - in das denkerische und emotionale System des Abendlandes also - integriert werden könnten. Auch Engler will das nicht gelingen. Obwohl er beansprucht, mit seinem Buch eine neue große Utopie vorgelegt zu haben. Ich zitiere:

Wenn der Arbeitsgesellschaft die Erwerbstätigkeit allmählich ausgeht, schlägt die Stunde der Utopie befreiter Arbeit. Wenn die Fron zu Ende ist, geht es mit dem Arbeiten erst richtig los.

Ehrenwert ist die Absicht Englers. Er will nämlich das uns allenthalben immer noch zuhandene ideologische Gerüst zum Einsturz bringen, das von dem Kernsatz ausgeht, "jede Arbeit sei besser als keine Arbeit". Hier will Engler sowohl unseren Kopf als auch unser Herz radikal neu gestalten. Zum einen will er uns zeigen, dass Arbeit vieles andere und vieles mehr ist als die Lohnarbeit, die Erwerbsarbeit - das, womit und wovon ich mein Leben friste. Zum anderen aber auch will er uns die Fessel nehmen, mit der wir uns an eine Realität binden, die darauf aufbaut, dass nur jede Arbeit ihren Lohn wert sei; und die sogar die Arbeitslosigkeit kaum anders zu begreifen vermag als eine Übergangszeit, die finanziell abgegolten werden müsse. Eine Realität, die vielleicht gerade noch gegolten haben mochte, solange Arbeitslosigkeit lediglich den Übergang von einer beruflichen Position innerhalb der Vollbeschäftigungsgesellschaft zu einer ebensolchen anderen Position markierte. Heute aber sind wir mit der Tatsache konfrontiert, dass es so etwas wie Voll(zeit)beschäftigung nicht mehr geben wird. Mit der scheinbar furchtbaren Konsequenz, dass ein Leben, welches auf Erwerbsarbeit aufbaut, wirklich anachronistisch geworden ist. Wie gesagt: Diese Koppelung unserer aller Identität an die erfolgreiche Ausübung von Erwerbsarbeit will Wolfgang Engler endgültig aufheben.

Und er nimmt uns in seinem Buch dafür mit auf zwei große denkerische - will sagen: "intellektuelle" - Reisen. Die eine gilt dem so genannten "erweiterten Arbeitsbegriff"; die andere der Utopie eines "Bürgergeldes als Menschenrecht". Also der politischen Zusicherung - ich zitiere:

Du bist in diese Welt hineingeboren - lebe in ihr frei von überflüssigen Ängsten... Das Bürgergeld ist der Schlüssel zum unangefochtenen Leben.

Zur ersten denkerischen Rundreise in Sachen Arbeit: Hier beweist Wolfgang Engler sich und uns seine überwältigende Fachbildung. Von den ersten großen utopischen Entwürfen der Antike bis zur kulturellen und wissenschaftlichen Forschungsarbeit im Einflussbereich der modernen Sozialdemokratie zeigt er auf, dass Arbeit immer schon mehr und anderes für den Menschen bedeutet hatte und hat als bloße Erwerbstätigkeit. Stück um Stück trägt er zusammen, was in seinen erweiterten Arbeitsbegriff mündet:
- Neben der Erwerbarbeit
- das ehrenamtliche bürgerschaftliche Engagement,
- die Familienarbeit und
- die Bildung in ihren zahlreichen Facetten - von der Aus- und Weiterbildung über politische und ökologische Bildung bis zum Besuch eines Malkurses oder dem Kassieren von Mitgliedsbeiträgen in einem Verein.

Mit anderen Worten: Das Arbeiten wird "erweitert" hin zu einer Begrifflichkeit, in der das Handeln und das Tätigsein an Gewicht gewinnen. Also die Aktivität des Bürgers sich von der Arbeit als Lohnarbeit und Fron emanzipiert. Wobei sich der Autor am Ende dieser Charta für eine menschenverträgliche Zivilgesellschaft selbst fragt, ob es den Menschen, diesen von der Arbeit emanzipierten Bürger, schon oder überhaupt gebe. Ist's Zufall oder Methode, dass dann auch ausgerechnet in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (Christian Geyer) an Engler die anthropologische Grundfrage gestellt wird. Ich zitiere:

Taugt der Mensch zu einem Leben, das sich jenseits der Arbeit definiert?... Der Arbeiter in uns lässt sich (doch gar) nicht kaltstellen!

Und auch die zweite große denkerische Reise, die einer praktischen Philosophie in Sachen Bürgergeld, endet in einer offenen Frage. Woher kommt das Bürgergeld? Wovon wird es bezahlt? Wer ist der Zahlmeister? Und gesetzt den Fall, es käme tatsächlich - ist der Bürger Mensch gefestigt genug, um aus einem unangefochtenen Leben auch ein aktives Leben zu machen. Also sich nicht nur nach Manier des Prols oder Kleinbürgers erleichtert und selbstgefällig mit Bier und Chips vor die Glotze zu knallen, statt die bedrohliche, vom Staat sanktionierte Wirtschaftsgesellschaft umzustürzen. Denn darum geht es Engler letztlich: Unserer Arbeitskraft den Warencharakter zu nehmen, um ihr Gestaltungsmacht für unser soziales Miteinander einzuräumen. Gegen den Casinokapitalismus. Für eine in Gefahr und unter Vorbehalt freigegebene Kreativität.