- Wie ist Wolfgang Herrndorf aufgewachsen?
- Wie verlief seine Entwicklung als Künstler?
- Welche Einstellung hatte Herrndorf zum Internet?
- Wie arbeitete Herrndorf nach der Krebsdiagnose?
- Welche Rolle spielte Herrndorfs Suizid in der Debatte um Sterbehilfe?
- Was macht den sogenannten "Herrndorf-Sound" aus?
- Warum war Tschick ein Welterfolg?
10. Todestag von Wolfgang Herrndorf
In seinem Internet-Tagebuch „Arbeit und Struktur“ dokumentierte Wolfgang Herrndorf von Beginn der Krebsdiagnose den Prozess des Sterbens und des Schreibens. © picture-alliance / dpa / Erwin Elsner
Erzählen vom Leben und gegen den Tod
Der Roman „Tschick“ machte seinen Autor Wolfgang Herrndorf berühmt - die Mischung aus Romantik und Humor zieht Leser bis heute in ihren Bann. Sein Biograf sieht in ihm eine Schlüsselfigur beim Übergang vom analogen ins digitale Zeitalter.
Mit Mitte 40 wurde beim Schriftsteller Wolfgang Herrndorf ein bösartiger Hirntumor diagnostiziert, am 26.8.2013 nahm er sich das Leben – durch einen Kopfschuss mit dem Revolver. Er wurde 48 Jahre alt. In seinen letzten Lebensjahren war er ungeheuer produktiv – unter anderen schrieb er den Jugendroman „Tschick“, der ihn berühmt machen sollte und zum Welterfolg wurde. Heute ist „Tschick“ Schullektüre.
Tobias Rüther, Autor einer neuen Biografie über den Schriftsteller, sieht Herrndorf als „größten männlichen Schriftsteller seiner Generation“ und „große Figur des Übergangs vom Analogen zum Digitalen“.
Inhaltsverzeichnis
Wie ist Wolfgang Herrndorf aufgewachsen?
Wolfgang Herrndorf wurde 1965 in Hamburg geboren und wächst in Norderstedt auf, einer Mittelstadt am Rand von Hamburg. Es ist ein typisch bundesdeutsches Setting mit flurbereinigter Landschaft und Ansiedlungen, sagt Biograf Tobias Rüther.
Seine Eltern sind sehr liberal, ein Lehrerhaushalt, die an Aufstieg durch Bildung glauben, und in Sportvereinen aktiv sind. Herrndorf selbst bezeichnete sein Elternhaus in einem seiner wenigen Interviews als kleinbürgerlich. Das selbstbewusste eigensinnige Kind ist für seine Mutter eine Herausforderung, weiß Biograf Hüther zu berichten.
Wie verlief seine Entwicklung als Künstler?
Zunächst studiert Herrndorf Malerei in Nürnberg – er verehrt die Alten Meister und sucht sich darum eine möglichst traditionelle Kunstakademie. Während seine Mitstudierenden aber mit Performance oder Videotechnik experimentieren, arbeitet sich Herrndorf an Vermeer, Dürer und traditionellen Maltechniken ab – und scheitert immer wieder an seinen hohen Ansprüchen. Sein knappes Fazit: „Ich konnte nicht, was ich wollte“.
Nach dem Studium zeichnet er Karikaturen, u.a. für die Satirezeitschrift „Titanic“. Um die Jahrtausendwende beginnt er schließlich zu schreiben – und ist auf Anhieb unglaublich gut darin, berichtet sein Biograf Rüther. Er stellt fest, dass er „im Schreiben die Welt stärker gestalten kann, als ich es jemals hätte schaffen können mit der Malerei“, so Rüther.
In Berlin, wo er inzwischen lebt, schreibt Wolfgang Herrndorf seinen ersten Roman „In Plüschgewittern“, der wenig Beachtung findet, und verfasst Beiträge für das Internetforum „Wir höflichen Paparazzi“ sowie den Weblog „Riesenmaschine“. 2004 gewinnt er den Publikumspreis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb mit der Titelgeschichte seines Erzählbandes „Jenseits des Van-Allen Gürtels.“
Der große Durchbruch als Autor gelingt ihm jedoch erst 2010 mit dem Jugendroman „Tschick“. In dieser Road-Novel irren zwei ungleiche Teenager in einem gestohlenen Lada Niva durch die ostdeutsche Provinz. Der Roman hat sich bis heute mehr als drei Millionen Mal verkauft und wurde 2016 von Fatih Akin verfilmt.
Mit seiner Rolle als Künstler hadert Herrndorf seinem Biografen zufolge lebenslang – und mokiert sich immer wieder über den Literaturbetrieb. Ein Großschriftsteller mit Schal um den Hals wollte er nie sein. Er trägt lieber Turnschuhe und Pullover, auch bei öffentlichen Anlässen.
Was war Herrndorfs Einstellung zum Internet?
Für seinen Biografen Tobias Rüther ist Wolfgang Herrndorf die „große Figur des Übergangs vom Analogen zum Digitalen“. Er vergötterte die Alten Meister – gleichzeitig beginnt mit dem Internet sein Leben „zum ersten Mal“. Es ist im Internet, wo er Freundinnen und Freunde findet, Schreiben lernt und trainiert.
„Wenn wir heute bei jedem technologischen Fortschritt darüber diskutieren, ob er uns das Abendland kaputtmacht, das hat Herrndorf schon vor langer Zeit für sich beantwortet“, sagte Rüther. Für ihn waren beiden Welten vereinbar. Damit hat er eine Vorreiter- und Pionierrolle für seine Generation. „Das macht ihn unter den männlichen Schriftstellern niemand nach.“
Wie arbeitete Herrndorf nach der Krebsdiagnose?
Unter dem Eindruck der Krebsdiagnose – 2010 wird bei Wolfgang Herrndorf ein bösartiger Gehirntumor festgestellt – will er so viele Bücher schreiben, wie es noch geht. „Fertigwerden ist die große Vorgabe“, sagt Rüther. Herrndorf zieht sich zurück, um aufzuschreiben, was ihm wichtig ist, und in Konzentration sein Vermächtnis als Erwachsener, der über Freiheit nachdenkt, zu hinterlassen, sagt Kulturwissenschaftler Matthias Bormuth.
Innerhalb von nur eineinhalb Jahren stellt er zwei Romane fertig – den Jugendroman „Tschick“ und den komplexer angelegten Roman „Sand“, für den er 2012 den Preis der Leipziger Buchmesse erhält und der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis landet. Es ist ein fundamentaler Wandel – während er vorher „unendlich lange an den Sachen herumgeschraubt“ hat, weil er „in seinem Perfektionswahn dachte, die Sachen sind noch nicht gut genug“, gelingt es ihm unter dem Druck der Diagnose, seine Texte fertigzustellen, so Biograf Rüther.
In seinem Internet-Tagebuch „Arbeit und Struktur“ dokumentiert Herrndorf von Beginn der Diagnose an schonungslos den Prozess des Sterbens und des Schreibens. Die Arbeit wird für ihn zum Halt und sinnstiftenden Bedürfnis. Über das erste Jahr nach der Diagnose schreibt er, es sei ein Jahr in der Hölle gewesen und trotzdem ein tolles Jahr: „Weil ich so lebe, wie ich immer hätte leben sollen“, berichtet Kulturwissenschaftler Matthias Bormuth. Der Internet-Blog „Arbeit und Struktur“ wird posthum leicht editiert als Buch veröffentlicht.
"Ich will nicht mehr leben" - Hilfsangebote bei Suizid-Gedanken:
Wenn Sie das Gefühl haben, an einer Depression zu leiden oder sich in einer scheinbar ausweglosen Lebenssituation zu befinden, zögern Sie nicht, Hilfe anzunehmen.
- Telefonseelsorge in Deutschland: 0800-111-0-111 oder 0800-111-0-222
- Stiftung Deutsche Depressionshilfe: 0800-3344533
- Nummer gegen Kummer (Beratung für Kinder und Jugendliche): 116-111
- Verein Sterbehilfe: 040-23519100
Welche Rolle spielte Herrndorfs Suizid in der Debatte um Sterbehilfe?
In den kontroversen Bundestagsdebatten um Sterbehilfe spielt „Arbeit und Struktur“ eine Rolle als Plädoyer für die Liberalisierung des assistierten Suizids, schreibt der Kulturwissenschaftler Matthias Bormuth in seinem Essay „Die Freiheit zum Tode. Ein Versuch über Wolfgang Herrndorf“.
Der Suizid mit einem Revolver zeigt laut dem Arzt und Kulturwissenschaftler, dass Herrndorf in seiner Zeit keinen Arzt gefunden hat, der ihm helfen konnte, eine sanfte Form zu finden, aus dem Leben zu gehen.
Der einstige Blog gehört heute etwa neben Jean Amerys „Hand an sich legen“ von 1976 zu den Klassikern der Suizid-Literatur. Anders als bei Amery, in dem die Bewegung zum Tode eine „kontinuierliche Bewegung aus dem Leben heraus ist“, hält das Schreiben als Tätigkeit Wolfgang Herrndorf „ganz lange aktiv und positiv im Leben“, erläutert Bormuth.
Seine Entscheidung, der tödlichen Krebserkrankung zuvorzukommen, setzte er am 26. August 2013 in Berlin um. Dort erinnert ein unauffälliges Metallkreuz an den Suizid des Schriftstellers.
Was macht den sogenannten "Herrndorf-Sound" aus?
Herrndorf ist im Kern ein Romantiker, darin sind sich sein Biograf Tobias Rüther und der Kulturwissenschaftler Matthias Bormuth einig. Rüther findet ihn dann „am schönsten, wenn seine Figuren in den Himmel gucken und über die Ewigkeit nachdenken“. Gleichzeitig steckten Herrndorfs Texte voller Humor. Pointen und gute Gags brechen den „hohen Ton und holen ihn wieder runter“, sagt Biograf Tobias Hüther.
Die Texte zeugten von großer Stilsicherheit, sie seien vollkommen floskelfrei und ohne Prätension. Seine Figuren sind witzig, sentimental und gleichzeitig unerbittlich gegen sich selbst und die Frage, warum wir auf der Welt sind.
Warum war der Roman „Tschick“ ein Welterfolg?
Der Jugendroman verbindet die Generationen, sagte der Dramaturg Robert Koall. Jugendliche finden sich darin ebenso wieder wie ältere Leser. Bei Älteren scheint der Roman Erinnerungen wachzurufen an die Zeit, „in der man selber vor sechs endlos scheinenden, verheißungsvollen Sommerferienwochen gestanden hat“.
Herrndorf schickt seine beiden jugendlichen Antihelden Maik und Tschick auf eine Odyssee durch den deutschen Osten. Im geklauten Auto und ohne Führerschein kollidieren sie dabei in einer Serie von Auffahrunfällen mit dem wahren Leben. Sie lassen dabei Federn, aber sie befreien sich auch von falschen Vorbildern, aus ihrer nervigen Ich-Bezogenheit und einer deprimierend negativen Weltsicht.
Thekla Dannenberg, Ralph Gerstenberg, Nora Karches, tha