Wolfgang Kraushaar: Die 68er-Bewegung. Eine illustrierte Chronik 1960-1969
Klett-Cotta, Stuttgart 2018
Vier Bände mit ingesamt 1960 Seiten, 199 Euro
Chronik einer Revolution
In vier Bänden auf fast 2000 Seiten zeichnet Wolfgang Kraushaar nach, was die 68er-Bewegung war. Er beschränkt seine Arbeit dabei nicht mehr nur auf Deutschland und zeigt so, dass 1968 ein internationales Phänomen war.
Wolfgang Kraushaar, geboren 1948, hat sich als Chronist der 68er-Bewegung längst einen Namen gemacht. Selbst Aktivist in der Frankfurter Sponti-Szene Anfang der Siebzigerjahre, hat ihn der gesellschaftliche Umbruchcharakter jener Studentenrebellion immer beschäftigt – nicht zuletzt aus Gründen autobiografischer Aufarbeitung.
Zwar ist sein Image als einer der intensivsten Kenner der Zeit um 1968 unbestritten, doch er hat zuletzt durchaus auch Kritik auf sich gezogen. Seine Thesenschriften über den Antisemitismus der Linken und über die RAF-Terroristin Verena Becker, der er eine bereits frühe Tätigkeit für den Verfassungsschutz nachzuweisen versuchte, bewegten sich nah am Rande von Verschwörungstheorien.
Kraushaar ist der Chronist einer Bewegung
Der Journalist Willi Winkler diagnostizierte eine fast paradigmatische persönliche Entwicklung bei dem einst radikalen Wortführer Kraushaar – angesichts dessen, dass dieser zuletzt sehr prononciert antisemitische Grundzüge bei den 68ern freizulegen versuchte:
"Was für seine Generation zuvor der Imperialismus war, der altböse Feind, wird neuerdings durch den Antisemitismus-Vorwurf ersetzt, der mit einem vollkommenen Ablass für etwaige eigene Sünden verbunden ist."
Da ist es interessant, dass sich Kraushaar jetzt, im runden 68er-Jubiläumsjahr 2018, wieder auf seine Kernkompetenzen besonnen hat. Man muss die Gattungsbezeichnung "illustrierte Chronik" sehr ernst nehmen: Kraushaar listet chronologisch geordnet oft auch entlegene Ereignisse auf, die im Vor- und Umfeld der 68er-Bewegung stattgefunden haben, mit dem konkreten Datum und detaillierten Vorgangsbeschreibungen – ohne allzu subjektive Schwerpunktbildung.
Die vier umfangreichen Bände, die auch durch ihr das Zeitgefühl suggestiv transportierende Bildmaterial bestechen, sind auf auffällige Weise gegliedert. Der erste Band gilt der Vorgeschichte von 1960 bis 1966, der zweite und der dritte Band widmen sich der Kernzeit, den Jahren 1967 und 1968, und der vierte Band schließlich dem Jahr 1969, mit nur sehr kleinen Exkursionen am Schluss über 1970, 1979 und 1980 (die Pointe dabei ist der parallele Tod Rudi Dutschkes mit dem Selbstmord des Axel-Springer-Sohns Sven Simon).
1968 war nicht nur ein deutsches Phänomen
Kraushaar legt also großen Wert auf die Vorgeschichte und greift dabei auch weit über die US-amerikanische Hippiebewegung hinaus, der er vor zehn Jahren in einem ersten "Bilanz"-Buch über 1968 immerhin bereits eine wesentliche Bedeutung zugemessen hatte.
Die soziokulturelle Dimension von 1968 wird so zum ersten Mal von ihm angemessen berücksichtigt. Außerdem verstärkt er die internationale Perspektive: "1968" war beileibe nicht nur ein deutsches Phänomen.
Die Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner in den USA, der Widerstand in Südafrika gegen die Apartheid, vor allem natürlich auch die radikale Linke in Frankreich seit dem Protest gegen den Algerienkrieg – das tritt in diesem Panorama neben die bundesdeutsche "Subversive Aktion" oder die Gruppe "Spur", und es ist kein Zufall, dass das erste Konzert der "Beatles" in Liverpool (im "Cavern Club") gleichberechtigt neben den ersten Aktionen des SDS in Westberlin steht (Verhaftungen wegen Flugblattverteilung).
Die umfassende Kenntnis des vorhandenen Archivmaterials ist Kraushaars eigentliches Potenzial, und durch den nüchternen Nachrichtenstil dieser Chronik hat er auch die richtige Form gefunden, es auszuschöpfen.