Wolfgang Kraushaar: "Keine falsche Toleranz! Warum sich die Demokratie stärker als bisher zur Wehr setzen muss."
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2023
606 Seiten, 34 Euro
Wolfgang Kraushaar: "Keine falsche Toleranz"
Ein Prinz auf Abwegen: Prinz Reuß wird im Zuge der Reichsbürger-Razzia im Dezember 2022 abgeführt. © picture alliance / dpa / Boris Roessler
In der Mitte entspringt der Frust
20:12 Minuten
Die Gefahr für die liberale Demokratie geht nicht länger von den Rändern aus, sondern von der Mitte, glaubt Extremismusforscher Wolfgang Kraushaar. Dort hätten sich Milieus gebildet, die durch Gespräche und Verständnis nicht länger erreichbar sind.
Die Frage, ob Verständigung und Austausch noch etwas bringen, sei nicht wirklich neu, sagt Wolfgang Kraushaar. Schon die Pegida-Bewegung, 2014 in Dresden ins Leben gerufen, habe im Grunde genommen keinen Versuch unternommen, mit Kritikerinnen ins Gespräch zu kommen. Stattdessen beschuldigte sie insbesondere Journalistinnen und Journalisten, sie nur zu diffamieren, ein Vorwurf, den die Bewegung vor allem gegenüber den Öffentlich-Rechtlichen erhoben habe.
Er habe aber die Hoffnung, in einer offenen Gesellschaft, in einer liberalen Demokratie auch weiterhin auf den Austausch setzen zu können – sowie auf das Ausräumen von Konflikten durch Kommunikation, sagt der Politikwissenschaftler Kraushaar.
Alarmsignale stehen auf Rot
Pegida sei eine Zeit lang benutzt worden als Beschleuniger der Alternativen für Deutschland, sagt Kraushaar. Schließlich habe die rechtspopulistische AfD Stück für Stück immer weiter nach rechts tendiert. Letztlich habe sich nicht Jörg Meuthen, sondern Björn Höcke in der Partei mit seiner Linie durchgesetzt. "Insofern sind die Alarmsignale, was die liberale Demokratie in Bezug auf eine rechtspopulistische Partei im Bundestag angeht, auf Rot gestellt", so Kraushaar.
Ein deutliches Signal sei das Verhalten einiger AfD-Mitglieder im Bundestag am 27. Januar, dem Jahrestag der Befreiung von Auschwitz: Alle Plätze waren besetzt, nur bei der Fraktion der AfD fehlte ein Drittel der Bundestagsabgeordneten. "Man ist offenbar gar nicht interessiert daran, sich auf ein so elementar wichtiges Thema für das Selbstverständnis einer Demokratie einzulassen", sagt Kraushaar.
Das Parlament und das parlamentarische System sei von seinem Grund-Selbstverständnis her auf Austausch, Verständigung und Konsensfindung ausgerichtet, erklärt Kraushaar. Die Rechtspopulisten wollten sich jedoch – ähnlich wie die Republikaner in den USA oder Bolsonaro-Anhänger in Brasilien – nicht auf den üblichen Betrieb und Austausch einlassen.
Die Gefahr kommt aus der Mitte
Die Gefahr gehe seiner Meinung nach weniger von den Extremen, den Rändern der Gesellschaft aus. Diejenigen Personen, die am 7. Dezember bei einer Großrazzia im Reichsbürger-Milieu verhaftet wurden, bildeten mit Blick auf ihre Berufsgruppen einen Ausschnitt des gehobeneren Teils der Mitte der Gesellschaft, so Kraushaar.
Das Ganze sei gekrönt worden durch einen Prinzen, ansonsten seien unter den Festgenommenen gewesen: eine ehemalige Bundestagsabgeordnete der AfD, die noch als Richterin amtierte, Angehörige verschiedener technischer Berufszweige, ehemalige Offiziere aus der Bundeswehr, jemand von Landeskriminalamt in Niedersachsen und so fort.
Die Aufdeckung des "Nationalsozialistischen Untergrunds" im Jahr 2011 habe "das große Erschrecken" im Bundesamt für Verfassungsschutz ausgelöst. "Man hätte ja denken müssen, dass anschließend jemand an die Spitze gerät, der ganz anders denkt", sagt Kraushaar.
Das sei aber nicht geschehen. Diese Entwicklung habe bei ihm doch "erheblichen Zweifel" hinterlassen, wie gut es um die angebliche Selbstkontrolle auch in der Personalpolitik eines solchen Amtes bestellt sei, sagt Kraushaar.
Können wir uns noch auf irgendwen verlassen?
Er glaube, dass die Coronapandemie eine Art Katalysator für bestimmte rechtsextreme Strömungen war, was die Demonstrationen gegen die gesundheitspolitischen Maßnahmen der Bundesregierung anbetraf, sagt Kraushaar. Auch die Reichsbürger hätten extrem zugelegt. Seit 2021 gebe es beim Bundesinnenministerium und den Sicherheitsbehörden eine Kategorie "Verfassungsrelevante Delegitimierung des Staates".
Man habe die Gefahr weder Linksextremismus, Rechtsextremismus noch Islamismus zuordnen können. Das stehe für die Mitte. Es bestehe eine große Unsicherheit: "Woher kommen die eigentlich, die die Gesellschaft gefährden?"
Bei einer Massendemonstration von Coronaleugnern im August 2020 hätten sehr viele Teilnehmer protestiert gegen die Bundesbehörden wegen der gesundheitspolitischen Maßnahmen. Dabei hätten sie sich auf das Grundgesetz berufen. Das habe er "merkwürdig und irritierend" gefunden, sagt Kraushaar:
"Denn die gesundheitspolitischen Maßnahmen sollten nicht zum Schaden, sondern zum Wohlsein der gesamten Gesellschaft ausgesprochen werden."
So sei er auf Carlo Schmid gekommen, der 1948 eine maßgebliche Rede hielt, in der er die Grundzüge des Grundgesetzes skizzierte. Darin habe Schmid ausdrücklich dazu aufgerufen, "dass man intolerant werden müsse", um zu verhindern, dass mit legalen Mitteln das geschieht, was den Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 gelungen sei: auf legalem Wege die Macht zu ergreifen, um dann die Demokratie innerhalb weniger Wochen und Monate abzuschaffen.
Auch wenn die Situation 1948 eine andere gewesen sei, könne, ja müsse man die Forderungen der Rede auf die Jetztzeit übertragen. "Es geht um ein Konzept: ein Konzept der Wehrhaftigkeit der Demokratie", sagt Kraushaar: Die Demokratie müsse sich demnach "militant zur Wehr setzen, um diese feindlichen Kräfte, diese zerstörerischen Kräfte zurückdrängen zu können."
Man dürfe sich nicht einlullen lassen von bestimmten Bauernfängern, die etwa meinen, dass mit den gesundheitspolitischen Maßnahmen der Bundesregierung Schaden angerichtet würde.
Gefährliche Demokratieskepsis
In den 1950er-Jahren habe es nicht wenige gegeben, die an einer Renaissance der NS-Kräfte interessiert gewesen seien. Und es habe an Kritikvermögen gegenüber der Personalpolitik im Auswärtigen Amt und den Sicherheitsbehörden gefehlt. "Da sind unglaublich viele ehemalige Nationalsozialisten untergebracht worden", sagt Kraushaar.
Diese Personen hätten einen prägenden Einfluss hinterlassen, nämlich eine weitgehende Blindheit gegenüber den Gefährdungen von rechts: „Die waren fast immer nur konditioniert gegenüber den Problemen, die es von kommunistischer oder sowjetischer Seite gegeben hat.“
Das Interessante an der AfD sei, dass die Partei als solche nicht vollständig rechtsradikal sei, findet Kraushaar: "Es gibt nach wie vor Rechtspopulisten und Wankelmütige." Ursprünglich sei die AfD so etwas wie eine Professorengründung gewesen.
"Wir haben nach wie vor eine wache Zivilgesellschaft, die in der Lage ist, Gegenkräfte zu mobilisieren", sagt Kraushaar. In den neuen Bundesländern gebe es eine Skepsis bis Feindlichkeit gegenüber der Demokratie, die bei 46 Prozent liege, in den alten Bundesländern immerhin bei rund 25 Prozent.
Das seien keine Mehrheiten, sondern qualifizierte Minderheiten, stellt Kraushaar fest. Doch er gibt zu bedenken: „Diese Minderheiten sind so stark, dass man aufpassen muss, dass die nicht in die Lage kommen, sich zu einer politischen Kraft so zu transformieren, dass sie tatsächlich die Hebel der Staatsmacht in ihre Hände bekommen.“
(ros)