Wolfgang Müller-Funk: "Crudelitas"
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Vom Wunsch, niederträchtig zu sein
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Wolfgang Müller-Funk
Crudelitas. Zwölf Kapitel einer Diskursgeschichte der GrausamkeitMatthes & Seitz, Berlin 2022361 Seiten
32,00 Euro
Der Kulturwissenschaftler Wolfgang Müller-Funk schreibt in seinem Buch „Crudelitas“ eine erhellende Diskursgeschichte der Grausamkeit und zeigt, wie gerade Literatur die Augen öffnen kann, auch für das Grausamkeitspotenzial in uns selbst.
Der ungewohnt anmutende lateinische Titel des Buches ist kein Zeichen für hochtrabende Prätention, im Gegenteil: „Crudelitas“ deckt semantisch ungleich mehr ab als die deutsche Vokabel „Grausamkeit“. Deren Diskursgeschichte zu schreiben, so ihr Verfasser, der renommierte Kulturwissenschaftler Wolfgang Müller-Funk, erfordert nämlich vor allem eine Schärfung der Begrifflichkeit.
Grausamkeit ist keineswegs „unmenschlich“
Wie auch das englische „cruelty“ so beschreibt das lateinische Stammwort ein Verhalten, das nicht lediglich grausam ist, sondern auch gefühllos, schonungslos und unbarmherzig. Auf derlei gleich zu Beginn zu verweisen, ist alles andere als akademisches Glasperlenspiel, da doch die Grausamkeit – wie sonst kaum eine andere menschliche Eigenschaft – mit Vorliebe quasi ausgelagert wird, versehen mit dem entlastenden Zusatz „unmenschlich“.
Wolfgang Müller-Funk tritt in seiner zwölf Kapitel umfassenden Diskursgeschichte auf eindrucksvolle Weise den Gegenbeweis an: Crudelitas ist seit jeher Teil der condition humaine und taucht bereits früh in den biblischen Texten auf, so in der Geschichte der Ermordung Kains durch seinen Bruder Abel. Wobei Grausamkeit nicht einfach nur ein anderes Wort wäre für „Gewalt“, sondern tatsächlich schlechthin das Böse.
Gezieltes Leidenmachen
„Die Anwendung von Gewalt", schreibt Müller-Funk, "lässt sich zum Beispiel ethisch wie auch moralisch durch eine Situation rechtfertigen, die man auf der Ebene sowohl von Einzelpersonen, Gruppen als auch von Staaten als Notwehr bezeichnen kann. Aber Grausamkeit aus Notwehr ist eine contradictio in adjecto, ein Selbstwiderspruch, wohnt ihr doch von Anfang an eine offensive Haltung, eine Intention inne, die auf Marginalisierung, Leiden und Vernichtung des oder der jeweils Anderen hinausläuft.“
Der Autor erinnert daran, dass in Juden- und Christentum zum ersten Mal ein umfassendes Tötungsverbot erlassen worden war, wobei es im hebräischen Originaltext des Sechsten Gebots sogar heißt: „Du sollst nicht morden“.
Anhand literarischer Texte wird untersucht, inwieweit grausames Verhalten über die Jahrtausende hinweg beschrieben, analysiert und oft auch gerechtfertigt wurde. Müller-Funks close reading ist hier auch deshalb intellektuell ergiebig, weil es nie in quasi pietistische, politisch korrekte Trigger-Warnungen abdriftet, jedoch auch das verstörende Potenzial so mancher Texte keineswegs ästhetisierend wegerklärt.
Zwischen Verleugnung und Verherrlichung
Interessant vor allem die Neu-Interpretationen. So wird etwa just in Elias Canettis Mammut-Essay „Masse und Macht“ offenbar, dass hier das Grausamkeitspotenzial vor allem orientalischen Despoten zugeschrieben wird. In der Schilderung der Untaten des mythischen „Heroen“ Achill waren dagegen einst griechische Schreiber durchaus nicht davor zurückgeschreckt, die vermeintlich „eigenen Leute“ als Sadisten kenntlich zu machen.
Schade, dass Wolfgang Müller-Funk hier nicht auf die langjährige Antike-Rezeption des antitotalitären französischen Philosophen André Glucksmann eingeht, der in seiner Beschreibung des grausamen ideologischen Furors im 20. Jahrhundert immer wieder auf die reflexiv-schonungslose Darstellung in den griechischen Theaterstücken (und den Königsdramen Shakespeares) hinwies.
Hingegen zeigt der Autor in großer Klarheit, dass die plausible Kritik an fehlender Wahrnehmung von Grausamkeit auch in Abgründe führen kann – bei Friedrich Nietzsche in die höhnische Affirmation von Gewalt und vermeintlichen élan vital, bei Ernst Jünger und Gottfried Benn gar in die zeitweilige Unterstützung des Nationalsozialismus.
Dabei war nicht allein dieser äußerst grausam, auch der vermeintlich rationalere Stalinismus weidete sich am Leid seiner Opfer: Müller-Funks Neu-Lektüre von Arthur Koestlers Romanklassiker „Sonnenfinsternis“ ist hier genauso erhellend wie der Verweis auf die sadistische Grundierung in Bertold Brechts Lehrstück „Die Maßnahme“.
Bildung hilft nicht, aber es gibt Gegenmittel
Bleibt also nichts als ein Kabinett des Schreckens, das sogar in uns selbst und in unseren mehr oder minder uneingestandenen Wünschen existiert? Dieses Buch räumt mit dem Köhlerglauben auf, dass mit zunehmender Bildung die Grausamkeit verschwände, doch lässt es uns mit dieser Einsicht nicht allein.
Da doch – von Michel de Montaigne bis zur amerikanischen Philosophin Judith Shklar – auch genug Antidot vorhanden ist, von Vorschlägen zur Affektkontrolle und Empathie bis zu ganz konkreten Handlungsanweisungen für eine mitfühlende, auf den Schutz durch robuste Institutionen rekurrierende liberale Wachsamkeit. Wer dieses Buch gelesen hat, wird jedenfalls mit dem allzu bequemen Verdikt, etwas sei „unmenschlich“, fürderhin etwas sparsamer umgehen.