"Als Politiker wird es irgendwann ernst"
Sachverstand und Argumentationsfähigkeit sollte einen Politiker auszeichnen, meint Wolfgang Thierse. Der ehemalige Bundestagspräsident und SPD-Politiker sagt: "Politiker müssen in ganz anderer Weise ihr Wort verantworten als es etwa Journalisten oder andere tun müssen.“ Es reiche nicht, einfach nur ein guter Redner zu sein.
Der SPD-Politiker und ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse ist häufig angeeckt in seinen beiden Leben – dem vor 1989 und dem nach der Wende. Als bekennender Katholik in der DDR erfuhr er am eigenen Leibe, wie es sich anfühlt, ein Außenseiter zu sein:
"Ich gehörte zur Minderheit der Christen unter lauter Nicht-Christen, ich war Nicht-SED-Genosse unter lauter SED-Genossen, also ich habe vielfältige Erfahrungen als Minderheit gemacht und bin dankbar dafür, dass ich darunter nicht nur gelitten habe, sondern auch eine bestimmte Art von Selbstbewusstsein daraus gewonnen habe."
"Ein guter Politiker muss nicht nur ein guter Redner sein"
Die Wende katapultierte Wolfgang Thierse aus einer beschaulichen Gelehrtenstube in die große Politik. Er hat sie einmal ironisch als "grau, hässlich und enttäuschungsbehaftet" bezeichnet – aber immer auch seine Freude über die Möglichkeit der freien politischen Meinungsbildung betont. Über das notwendige Rüstzeug dazu hat er klare Vorstellungen:
"Ein guter Politiker muss nicht nur ein guter Redner sein – das ist eine seiner Qualitäten, aber er muss auch viele andere Qualitäten haben: die Fähigkeit, schwierige Sachverhalte schnell zu begreifen, er muss Ausdauer und Geduld haben, er muss so viel Sachverstand aufbieten können, dass er argumentieren kann. Als Politiker wird es irgendwann ernst, im Bundestag muss man nach intensiver Debatte eine Entscheidung treffen und zu dieser Entscheidung stehen – vor seinem politischen Gewissen, vor seinen Wählern, vor der Öffentlichkeit. Das ist etwas ganz anderes als in einer Talkshow das witzigste Argument oder die schnellste Reaktion an den Tag zu legen, nein, Politiker müssen in ganz anderer Weise ihr Wort verantworten als es etwa Journalisten oder andere tun müssen."
"Wir sollten im Herzen der Hauptstadt an eine der schönsten Taten unserer Geschichte erinnern"
Der brillante Redner Thierse gilt bis heute als eine maßgebliche Stimme Ostdeutschlands. Auch nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag mischt er sich immer wieder in politische Debatten ein, kämpft etwa gegen Regelanfragen bei der Stasi-Unterlagenbehörde und spricht sich für ein Einheitsdenkmal in Berlin aus:
"Wir haben in Deutschland richtigerweise Denkmäler, die an die deutschen Verbrechen der Nazizeit erinnern. Im Herzen dieser Hauptstadt erinnern wir an die schlimmste Tat unserer Geschichte. Wir sollten auch im Herzen der Hauptstadt an eine der schönsten Taten unserer Geschichte erinnern, nämlich an die friedliche Revolution, an die Selbstbefreiung der Ostdeutschen, die die Einheit ermöglicht hat."
Auch den Heimatbegriff hat Wolfgang Thierse wieder als politische Vokabel ins Spiel gebracht. Denn der Altbundestagspräsident ist der festen Überzeugung, dass man die Diskussion um Heimatverbundenheit nicht den Rechten überlassen darf:
"Ich verteidige diesen Begriff Heimat im vollen Bewusstsein seiner Gefährdungen, seiner Missbrauchbarkeit. Wir haben als Menschen grade in dramatisch sich ändernden Zeiten ein tiefes Bedürfnis nach Beheimatung. Und das sagen zu dürfen, ist eine Selbstverständlichkeit. Und das sollten wir nicht anderen überlassen, die daraus etwas Völkisches machen, was sich gegen andere Heimaten, gegen andere Kulturen richtet."