Wolfgang Thierse, Jg. 1943, war langjähriger SPD-Bundestagsabgeodneter und von 1998-2005 Präsident des Deutschen Bundestags. Thierse kam 1990 über das Neue Forum zur SPD und war zwischen Juni und September 1990 Parteivorsitzender der SPD in der DDR. Nach dem Zusammenschluss der Sozialdemokraten in Ost- und Westdeutschland im September 1990 wurde er stellvertretender SPD-Vorsitzender.
"Betroffene müssen nicht unbedingt das letzte Wort haben"
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Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) fühlt sich "absichtsvoll missverstanden" - von denen, die mit Furor auf seine Äußerungen zur Identitätspolitik reagierten. Und mahnt: Mit Frontalangriffen erreiche man für Minderheiten nichts.
Ende Februar löste Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) mit einem kritischen Gastbeitrag über Identitätspolitik in der FAZ und einem Interview im Deutschlandfunk einen gewaltigen Shitstorm aus - nicht nur im Netz, sondern auch in der eigenen Partei.
Im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur bekräftigt Thierse noch einmal zentrale Aussagen seines FAZ-Beitrags und antwortet seinen Kritikern.
Sein Text sei ein Appell gewesen, sich über das Verbindende und die gemeinsamen Fundamente in unserer Gesellschaft zu verständigen, sagt der SPD-Politiker. Denn aus Vielfalt entstehe nicht automatisch auch Gemeinsamkeit.
"Und wenn man dafür etwa von der queeren Community beschimpft wird, ich hätte zum Hass gegen Homosexuelle aufgerufen, dann denkt man: Was kann man überhaupt noch sagen, ohne dass man nicht absichtsvoll missverstanden wird?"
Natürlich verteidige er den Anspruch von Minderheiten und von betroffenen Gruppen, sich zu artikulieren, so Thierse weiter.
"Den Betroffenen muss man zuhören. Sie haben das erste Wort. Aber sie müssen nicht unbedingt das letzte Wort haben."
Mit Frontalangriffen bekommt man keine Mehrheiten
Allein auf die Radikalität der eigenen Betroffenheit zu setzen, ist Thierse zufolge keine Lösung. Wer etwas für Minderheiten erreichen wolle, müsse Betroffenheiten in Reformschritte übersetzen und dafür dann Mehrheiten gewinnen. "Und Mehrheiten gewinnt man nicht, indem man sie frontal attackiert." Etwa indem jeder, der nicht die "richtige" Sprache spreche, gleich verdächtigt werde, ein Rassist oder Sexist zu sein.
Viele Menschen seien durch die Schärfe und Aggressivität dieser Auseinandersetzungen beunruhigt, sagt Thierse. "In der Reaktion auf meinen Aufsatz wurde das immer lauter: Was soll ich denn noch sagen? Ich werde ja immer verdächtigt. Und da gibt es dann die Reaktion der einen, die resignieren. Das sind nicht wenige." Und dann sind da noch die anderen: "Die radikalisieren sich. Und zwar nach rechts. Das will ich nicht."
(uko)
Die ganze Sendung "Der Tag mit Wolfgang Thierse" hier zum Nachhören: