Wolfgang Thierse war 1998 bis 2005 Bundestagspräsident, dann bis 2013 -vizepräsident. In der DDR arbeitete er für das Kultusministerium der DDR, bis er wegen Protests gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann aus dem Staatsdienst entlassen wurde. 1989 engagierte er sich im Neuen Forum, wurde dann Mitglied der SPD der DDR und noch im selben Jahr Abgeordneter der Volkskammer und Vorsitzender der dortigen SPD-Fraktion. Thierse ist seit vielen Jahren Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken.
"Es geht um die Rettung Europas"
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Corona, Klimawandel, digitale Transformation: Die Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft falle in "fast dramatische" Zeiten, sagt Wolfgang Thierse. Von Deutschland werde Führung erwartet. Für die Kanzlerin hat der Ex-Bundestagspräsident lobende Worte.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat in ihrer Regierungserklärung zur Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft am 1. Juli einen grundlegenden Wandel gefordert. Als Antwort auf die Pandemie sei ein neues Wirtschaften notwendig. Mit dem Klimawandel und der Digitalisierung gehe ein "tiefer Umbruch" einher. Wolfgang Thierse (SPD), früherer Bundestagspräsident, stimmt ihr "uneingeschränkt" zu.
"Es geht jetzt darum – etwas dramatisch ausgedrückt – Europa zu retten", sagt er. "Denn diese Pandemiekrise hat doch gezeigt, wie fragil dieses Europa ist. Vielleicht kann man das zunächst mal ohne Vorwurf sagen: Angesichts dieser Krise sind die europäischen Länder wieder in nationalstaatlichen Egoismus zurückgefallen – nach dem Prinzip 'me first'. Das scheint irgendwie eine menschliche, eine anthropologische Konstante zu sein. Man denkt an sich selbst, an den eigenen Kreis, an das eigene Land zuerst."
Egoistische Exzesse in der Krise
Seien es Grenzschließungen oder nicht gelieferte Masken an Italien: Es habe während der Krise viele "egoistische Exzesse" gegeben, so der SPD-Politiker. Doch "zum Glück" habe Deutschland "nach einigem Zögern" seine Haltung korrigiert und ein solidarisches Zukunftspaket für die EU vorgeschlagen: "Ich hoffe sehr, dass unsere Nachbarn sehen, dass die Deutschen Fehler gemacht haben wie die anderen auch – wir sind eben keine heilige Nation."
Wenn man allerdings "so viele Milliarden" in Europa investiere, müsse dies eine Zukunftsorierung haben - "und die ist mit den Stichworten Klimawandel und digitale Transformation schon richtig beschrieben". Thierse zufolge müsse aber nicht nur die Wirtschaft gerettet werden, sondern Politik in ihren Entscheidungen auch transparent sein, um Populisten und Verschwörungsmythen entgegenzutreten.
"Es ist eine fast dramatische Zeit", sagt Thierse, "es wird von Deutschland, weil es nun so ein starkes, zentrales Land ist, auch erwartet, dass es führt."
(bth)