Wolfgang Ullrich: „Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie“
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Kunst zwischen Politik und Kommerz
04:48 Minuten
Wolfgang Ullrich
Die Kunst nach dem Ende ihrer AutonomieVerlag Klaus Wagenbach, Berlin 2022189 Seiten
22,00 Euro
Kunst ist sich längst nicht mehr selbst genug, sondern strebt nach politischer und ökonomischer Bedeutung: Einen grundlegenden Strukturwandel beschreibt der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich in seinem Buch. Nur seine Beispiele überzeugen nicht ganz.
„Hier wird, im Namen der Kunstfreiheit, das Ende der Kunst gefeiert“, stellte der Kunsttheoretiker Bazon Brock angesichts der Documenta 15 fest. Die Eröffnung der Weltkunstschau Mitte Juni sah der legendäre Kunsttheoretiker, Jahrgang 1936, als Abgesang auf die Idee einer freien Kunst unabhängiger Individuen. Mit der Machtübernahme der Kollektive drohe nun die „Faschisierung“.
Auch für Wolfgang Ullrich neigt sich eine Ära dem Ende entgegen. Bei dem Leipziger Kunsthistoriker, Jahrgang 1967, ist das freilich kein Anlass für den überschäumenden Kulturpessimismus seines Kollegen. Er will sich „in dieser neuen Welt“, schreibt Ullrich, einfach „zurechtfinden“.
Nüchtern und scharfsichtig verfolgt er, wie Künstler:innen die Idee einer zweckfreien Kunst hinter sich lassen und in einen Bereich streben, der bislang unter den Terminus „angewandt“ fiel.
Überstrapazierter Kunstbegriff
Die Gründe für die von ihm beobachtete Wende zur „postautonomen Kunst“ sieht Ullrich in einem von ständigen Sezessionen und Revolutionen „überstrapazierten und entleerten Kunstbegriff“. Zudem erodierten die Globalisierung des Kunstbetriebs und die Logik der Sozialen Medien das europäisch-westliche Konstrukt einer einsamen und hermetischen Kunst im Sinne Theodor W. Adornos.
In einem Kunstbetrieb, wo inzwischen alles und nichts Kunst sein könne, sei es nur folgerichtig, dass diese ihr Geltungsdefizit dadurch kompensiere, dass sie „Realien“ und „Autoritäten anderer Bereiche“ in ihr Werk inkorporiere. Ob das nun die Rimowa-Koffer sind, die der Künstler Daniel Arsham als Gipsskulpturen modelliert oder die Rettungsringe, die der Künstler Ai Weiwei 2016 an das Berliner Konzerthaus hing, um den Umgang mit den Mittelmeerflüchtlingen anzuprangern.
Ullrich kann reklamieren, einen grundlegenden Strukturwandel der Kunst auf den Begriff gebracht zu haben. Sein Essay hat zudem den Vorteil, dass er diesen Wandel nicht als Verfallsgeschichte beschreibt. Sein Buch schärft das Bewusstsein dafür, dass ästhetische Begriffe und Konstrukte keinen Ewigkeitswert besitzen, sondern historisch bedingt sind.
Und er nimmt mit Fan- und Gebrauchsartikeln oder Musikvideos visuelle Phänomene in den Blick, die die Kunst heute mindestens genauso prägen wie Picasso oder Yoko Ono.
Ein historischer Sonderfall
Streiten lässt sich freilich über die Beispiele, mit denen er seine These untermauert. Ullrich verweist auf die Sneaker der US-Künstlerin Faith Ringgold, auf die semiotischen Spielereien Virgil Ablohs, des Chefdesigners von Louis Vuitton oder die Art Toys des US-Kunst-Duos FriendsWithYou.
Die Kriterien, die Ullrich selbst für die postautonome Kunst aufstellt, treffen nur teilweise auf diese Beispiele zu: Zwar mögen sie die Betrachter (oder Konsumenten) zu „Anteilseigner:innen“ machen und sich „mit anderen Instanzen“ verbünden, dass sie sich an einer „Verantwortungsethik“ orientieren, lässt sich aber kaum feststellen. Dafür sind die Beispiele zu profitorientiert. Bei den Kollektiven der aktuellen documenta wäre der Autor eher fündig geworden.
Ullrichs These, dass die autonome Kunst, in- oder außerhalb des White Cube (also der klassisch weißen Ausstellungsräume), ein „historischer Sonderfall“ sei, ist dennoch zuzustimmen. Gänzlich untergehen wird diese Form freilich nicht. Vermutlich wird es auf eine Koexistenz beider Modi künstlerischer Produktion hinauslaufen. Ob die Entwicklung sich weiter so schleichend vollziehen wird, dürfte ein neues Buch von Wolfgang Ullrich zeigen.