Die britische Politik hat sich "proletarisiert"
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England galt lange Zeit als Land des Common sense und pragmatischer Lösungen, sagt der Philosoph Wolfram Eilenberger, während Deutschland als prinzipienverhärtet gesehen wurde. Doch jetzt wurden offenbar die Rollen getauscht.
Exzentrisch, aristokratisch und dabei gleichzeitig faire Sportsleute, die selbst den größten Krisen mit Humor begegnen - so stellen wir uns die Briten gern vor, und so war das wohl auch mal:
Selbst vor entscheidenden Schlachten im Zweiten Weltkrieg habe in der britischen Politik mehr Freiheit und Humor geherrscht als etwa in der kontinentaleuropäischen Parteienlandschaft, sagt der Publizist und Philosoph Wolfram Eilenberger mit Blick auf entsprechende Beobachtungen, die die französische Philosophin Simone Weil 1942 machte.
Weil habe diese Haltung dem "ungebrochenen Aristokratismus" der Engländer zugeschrieben, der Politik wie einen Sport betreibt - "ganz einfach, weil das leitende Personal unter diesen Wirkungen nicht zu leiden hat".
"Die Bockigkeit ist auf einmal in England"
Davon scheint inzwischen nicht mehr viel übrig zu sein. Sondern wir erlebten derzeit eine verwirrende kulturelle Umkehr, die "aus Simone Weils Sicht eher ein Zeichen dafür wäre, dass der aristokratische Großmut und die Fairness, die damit einhergeht, verlorengegangen ist, dass sich die britische Politik also aus einem aristokratischen System proletarisiert und plebejisziert hat", sagt Eilenberger.
"Normalerweise gilt England auch philosophisch gesehen als ein Land des Common sense, des gesunden Menschenverstandes, des Gemeinsinns, auch des Merkantilismus, pragmatischer Lösungen", sagt Eilenberger.
Während das kontinentaleuropäische Denken, allen voran das deutsche, als prinzipienverhärtet gegolten habe. Doch inzwischen sei der Pragmatismus auf den Kontinent gewandert. "Und die Verhärtung, die Bockigkeit, die ist auf einmal in England."
In China wird derzeit vernünftiger gehandelt als in Europa
Eilenberger will nicht so weit gehen, die Entscheidung für den Brexit von vornherein als irrational zu bezeichen. Aber ganz sicher habe das Verfahren dorthin mit Vernunft und Klarsicht nichts mehr zu tun.
"Insofern sehen wir hier, glaube ich, auch einen grundlegenden Systemmangel auch der britischen Demokratie", sagt der Philosoph. Und nicht nur dort: Auch andere westliche Demokratien seien derzeit hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt.
"Und das ist, glaube ich, in der globalen Anmutung, ein sehr problematisches Faktum, weil man das Gefühl hat, dass in Singapur, in China vernünftiger, klarer, stringenter gehandelt wird. Und das hat etwas für die Anmutung der Demokratie als Demokratie zu bedeuten. Und das Spektakel, das wir derzeit in England und das wir auch in den USA sehen, das hat noch weitere Auswirkungen, die wir nicht recht absehen können."
(uko)