Gebete für Gleichberechtigung an der Klagemauer
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An der Klagemauer in Jerusalem beten Frauen und Männer getrennt und unterschiedlich: Gebetsmäntel und Gebetsriemen tragen und aus der Torah lesen dürfen nur Männer. Dagegen wehren sich bereits seit mehr als 30 Jahren die "Women of the Wall".
Ein Freitagmorgen an der Klagemauer in Jerusalem. Morgens um sieben sind schon viele Menschen da, denn der Schabbat beginnt. Außerdem ist Rosh Hrodesh, der Beginn eines neuen Monats. Die Frauen der Organisation "Women of the Wall" (Frauen der Mauer) kommen traditionell zum Gebet zusammen.
Normalerweise sind es mehrere Hundert, doch aufgrund der Coronapandemie sind es heute nur zehn Frauen. Sie tragen Gebetsmäntel und Gebetsriemen, die üblicherweise nur von Männern getragen werden. Und genau das wird sofort zum Problem. Obwohl sie kaum auffallen, sind die zehn Frauen schon nach kurzer Zeit von etwa dreißig orthodoxen und ultraorthodoxen Jüdinnen und Juden umgeben, die ihrem Unmut freien Lauf lassen.
Empörung seitens orthodoxer Juden
Eine der Frauen, Rachel Jescheron, ist empört: "Das sollte nicht mehr passieren. Das ist verrückt, das ist einfach verrückt. Wir können uns doch nicht einfach daran gewöhnen! Es geht nicht um uns persönlich, sondern um eine ganze Generation – unsere Generation. Wir haben es immer noch nicht geschafft. 30 Jahre!"
Rachel ist seit 2010 dabei und angesichts der lautstarken Proteste sichtlich erschüttert, auch wenn sie schon ganz andere Dinge erlebt hat. "Es gab Zeiten, in denen es wirklich schreckliche Demonstrationen gegen uns gab und wir noch nicht mal in die Frauenabteilung hineinkonnten. Dann gab es andere Zeiten, etwa vor zehn Jahren, da war es ganz ruhig. Morgens um sieben war außer uns niemand da. Aber das ist längst vorbei, jetzt ist es wieder üblich gegen die Frauen der Mauer zu demonstrieren."
Die Geschäftsführerin der Organisation, Yochi Rappeport erzählt: "‘Frauen der Mauer‘ wurde 1988 eigentlich mehr zufällig von einer Gruppe orthodoxer Amerikanerinnen gegründet. Sie nahmen in Israel an einer Konferenz zum Thema Feminismus und Judentum teil und wollten am Ende einen Gottesdienst abhalten, und zwar mit Gebetsmänteln, Gebetsriemen und einer Lesung aus der Torah." Das Management des Hotels habe diese Gottesdienstform abgelehnt und so seien die Frauen zur Klagemauer gegangen.
"Das ist ja ein öffentlicher Platz", so Yochi. "Aber als sie dort anfingen zu beten, gab es jede Menge böser Blicke, denn an der Klagemauer hatte man noch nie die Stimme einer Frau gehört, die laut betet." Das sei etwas völlig Neues gewesen. "Als sie dann auch noch die Torah-Rolle hervorholten, gab es noch mehr böse Blicke und die ultra-orthodoxen Männer und Frauen um sie herum begannen körperliche Gewalt anzuwenden, um das Gebet zu verhindern."
Die Thorarolle ist für Frauen immer noch tabu
Gewalttätig werden die Demonstranten heute nicht, dafür sorgt die Polizei. Orthodoxe und ultraorthodoxe Gläubige versuchen das Gebet trotzdem nach Kräften zu stören. Sie betrachten sich als die eigentlichen Bewahrer des Judentums und dürfen das auch ganz offiziell für sich reklamieren.
Eine formale Trennung zwischen Staat und Religion gibt es in Israel nicht. Das orthodoxe Oberrabbinat besitzt für die jüdische Bevölkerung Israels das Monopol in Fragen des Familien- und Personenstandsrechts ebenso wie für den öffentlichen Raum an der Klagemauer.
Den "Frauen der Mauer" ist das Tragen der Gebetsmäntel und Gebetsriemen mittlerweile zwar gerichtlich erlaubt. Eine Torahrolle dürfen sie nach wie vor nicht mitbringen. Yochi Rappeport sagt: "Frauen nicht zu erlauben, die Thorarolle zu berühren oder aus ihr vorzulesen finde ich einfach ungeheuerlich. Einige Leute denken, dass es Frauen verboten sei, weil es im Talmud steht, der vor mehr als 2000 Jahren entstand."
Frauen sollen sich um das Haus kümmern
Von den Protestierenden ist niemand bereit mir zu erklären, was sie so aufbringt. Nur Malka, eine ultraorthodoxe Frau mag sich äußern: "Im Judentum ist vorgeschrieben, wie jeder Gott dienen soll. Die Frau hat sogar eine besondere Rolle, die noch spezieller ist als die der Männer. Männer sind nicht kreativ, deshalb haben sie 613 Gebote und müssen zusammen in die Synagoge gehen, denn sie brauchen diese Kraft, um sich in Schach zu halten."
Den Frauen sei dagegen alles anvertraut, was mit dem jüdischen Haus zu tun habe. "So hat im Judentum jeder Mensch seine Aufgabe entsprechend seinen Fähigkeiten und der Natur, die Gott ihm gegeben hat. Diese Frauen hier brechen aber ihren Vertrag mit ihm, weil sie versuchen, das zu leben, was Männer tun sollen."
Dass sich innerhalb von 2000 oder mehr Jahren etwas in der Betrachtung solcher Vorstellungen ändern könnte, sieht ultraorthodoxer Glaube nicht vor. Dabei steht in der Torah nichts darüber, wie Frauen beten sollen.
Tradition statt Textauslegung
Es sind die Auslegungstexte des Talmud, die näher erläutern, was Frauen erlaubt ist und was nicht. Aber auch dort ist nur die Rede davon, dass Frauen bestimmte Gebote nicht einhalten müssen, weil in Rechnung gestellt wird, dass sie dafür keine Zeit haben. Viel entscheidender ist vielmehr die Tradition.
Dazu die Theologin Tamar Avraham:"Wer sich strikt als orthodox bezeichnet, würde sagen, ich lebe nach dem Schulchan Aruch. Der ist im 17. Jahrhundert in Safed entstanden und ist im Grunde das halachische Kompendium, was bis heute für die Orthodoxie relevant ist. Der ist natürlich auch mal wieder aktualisiert, aber das ist sozusagen die Basis. Und selbst im Schulchan Aruch steht, auch Frauen können zur Torah aufgerufen werden." Auch in der damaligen Zeit sei es nicht üblich, gewesen, dass Frauen im öffentlichen Leben groß hervortreten seien. "Darum war es in der Synagoge auch so, aber rein halachisch spricht eigentlich nichts dagegen, die Frau kann zur Torah aufgerufen werden."
Das laute Vorlesen aus der Torah ist zentraler Bestandteil im jüdischen Gottesdienst, in orthodoxen und ultraorthodoxen Synagogen werden aber nur Jungs und Männer vom Rabbiner dazu aufgefordert.
"Der Brauch war, dass Frauen es einfach nicht tun", erklärt Yochi Rappeport. "Und heutzutage, wenn Frauen versuchen, diese Gebote zurückzufordern und das jüdische rituelle Leben in Besitz zu nehmen, haben immer mehr Männer Angst davor." Sie befürchteten, dass Frauen dominieren und ihre traditionellen Regeln zu Hause nicht erfüllen könnten. "Ich höre so oft: Wer wird sich um die Kinder kümmern? Und wer wird das Haus putzen? Und so weiter, ohne zu verstehen, dass das etwas ist, das man partnerschaftlich tun kann."
Eine notwendige Provokation
Yochi Rappeport ist in der orthodox geprägten Stadt Safed aufgewachsen und bezeichnet sich nach wie vor als orthodox. Sie gehört nicht etwa dem reformierten oder liberalen Judentum an. Sie hat Politikwissenschaft studiert und schreibt Kolumnen für die Zeitung "Jerusalem Post". Während wir uns unterhalten, passt ihr Mann zuhause auf die dreijährige Tochter auf.
Yochi unterstreicht, dass sie mit ihrem Engagement für die "Frauen der Mauer" niemanden provozieren will: "Wir tun das, weil wir an Gott glauben, es soll keine Provokation sein. Und wenn es eine ist – ohne Provokationen vieler Frauen in der Geschichte hätten wir im Grunde genommen nie das Recht auf irgendetwas bekommen: einen Führerschein zu haben, zur Schule zu gehen, zu lesen oder zu wählen. Gerade haben wir 100 Jahre Frauenwahlrecht in den USA gefeiert – wo wären wir ohne die Provokation der Suffragetten gewesen?" Selbst wenn das für einige Leute eine Provokation sei, erscheine sie ihr notwendig.
Nach anderthalb Stunden Gebet in bunt bestickten Gebetsmänteln und angetan mit Gebetsriemen, aber ohne Torahrolle, packen die Frauen der Organisation "Women of the Wall" zusammen. Sie werden auch in Zukunft ein Stachel im Fleisch des orthodoxen Judentums bleiben.