Superheldinnen

Schön wie Aphrodite, stark wie Herkules

29:51 Minuten
Die Superhelding Wonder Woman auf einer britischen Briefmarke. Sie hat schwarze lange Haare, ist sehr sexy und hält ein goldenes Lasso in der Hand.
Superhelden sind inzwischen überall: Wonder Woman auf einer britischen Briefmarke. © picture alliance / dpa / AP
Von Sven Ahnert · 05.01.2024
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Wonder Woman eroberte ab den 1940er-Jahren die Comicwelt. Sie kämpfte mit Zauberlasso und magischem Armband für Freiheit und Gerechtigkeit und avancierte zur Ikone der Frauenbewegung. Die heutigen Superheldinnen sind eher ironische Versionen des Originals.
„Sie ist der Urtyp des Pin-up-Girls aus dem Zweiten Weltkrieg: Sie trägt ein rotes Bustier mit dem amerikanischen Adler auf der Brust, eine Art Prinzessinnen-Tiara mit eingraviertem „W“, ein Höschen in den Farben der US-Flagge und heiße rote Stiefel“, sagt die an der Harvard University lehrende Historikerin Jill Lepore.

Die Sendung wurde erstmals am 16. September 2022 ausgestrahlt.

Wonder Woman heißt die schwarzhaarige Super-Amazone mit Zauberlasso und Hotpants. Sie ist sexy, selbstbewusst und weniger brutal als ihre männlichen Gegenstücke Superman und Batman.
Bevor Wonder Woman die Comic-Welt erblickte, hatten die Superhelden Superman und Batman schon zahllose Abenteuer bestritten. Sie waren bereits Teil der amerikanischen Alltagskultur, polarisierten aber auch stark. Comics würden den Charakter verderben, Kindern falsche Vorbilder liefern und viel zu viel männliche Brutalität zeigen, hieß es. Andererseits galten Comics als das populärste Medium der Stunde und kursierten in dreistelligen Millionenauflagen.

Superheldin mit feministischen Wurzeln

Kaum bekannt sind die feministischen Wurzeln von Wonder Woman, und dass ausgerechnet ein Mann der Schöpfer dieser Superheldin war: William Moulton Marston. Diese Geschichte erzählt Jill Lepore in ihrem Buch „Die geheime Geschichte von Wonder Woman“. 
Anfang der 1940er-Jahre rührte Marston, der für das Frauenmagazin "Family Circle" als beratender Psychologe schrieb, die Werbetrommel für seine Idee einer neuartigen weiblichen Comic-Figur, wie Jill Lepore erzählt:

Marston hatte eine illustre Vergangenheit als Erfinder des Lügendetektors, wurde aber in den Redaktionsbeirat von DC Comics geholt. Er verkaufte dem Verlag seine Idee als die Lösung aller Probleme: 'Ihr braucht eine weibliche Superheldin und sie muss andere Werte vertreten als Superman und Batman.'

Jill Lepore

Theorie von der Überlegenheit der Frau

Um seine Theorie von der Überlegenheit der Frau unter die Menschen zu bringen, forciert Marston die Idee einer Comicreihe über eine superstarke und schöne Königstochter, die, angetrieben durch Liebe für eine bessere Welt kämpfen soll. Marston prophezeit überschwänglich eine Zukunft, die den Frauen gehören wird. Als Propagandamittel scheint ihm dafür der populäre Comicstrip gerade richtig.
Seine Art von Feminismus sei für heutige Feministinnen sicher inakzeptabel, meint die Comicforscherin Véronique Sina: „Es ist ein bestimmter Feminismus, der natürlich Kind seiner Zeit ist und gleichzeitig dadurch auch seine Grenzen hat. Also ja: Frauen Aber sie müssen sexy sein, sie müssen empathisch sein. Das sind natürlich die 1940er-Jahre, erst mal innovativ, wenn man an die Zeit denkt, aber nicht innovativ genug, wenn man an heute denkt.“
Dass nun ausgerechnet eine knapp bekleidete Superheldin das pädagogische Sendungsbewusstsein Marstons verkörpern sollte, entbehrt nicht einer gewissen Ironie, ist aber aus Sicht von Véronique Sina nur konsequent. Wonder Woman sei eine Heldin, die sämtliche Klischees von Weiblichkeit bediene:
"Das hat was mit stereotyper Weiblichkeit zu tun. Was gilt als weiblich? Und da ist Wonder Woman ein Super-Beispiel. Dass sie einerseits extrem athletisch ist, sehr stark und intelligent ist. Da steht sie ihren männlichen Pendants in keinerlei Weise nach. Gleichzeitig ist dieses Empathische da: Sie möchte eigentlich gar nicht kämpfen. Sie ist für Frieden und Liebe auf dieser Welt. Und das ist die eigentliche Botschaft."

Comic-Ikone und Superfrau

Wonder Woman kann kräftig austeilen, bleibt aber trotzdem immer eher eine sanfte Superheldin: Sie tötet nicht, sondern fesselt ihre Gegner mit dem goldenen Lasso der Wahrheit; an ihren Armreifen prallen massenweise Pistolenkugeln ab. Und wie alle Superheldinnen und Superhelden führt auch Wonder Woman ein Doppelleben. Im Nebenberuf ist sie Sekretärin, trägt eine Hornbrille und kann sich in Windeseile in die Superfrau verwandeln.
Wonder Woman, die nie tödlich zuschlagende Patriotin in leuchtender Comic-Gestalt, wurde in den 1970er-Jahren auch als Heldin einer Fernsehserie überaus populär. Sie war immer beides zugleich: eine sexy Comic-Ikone und eine emanzipierte Super-Frau, die jeden Mann niederringt.
Die klassische Wonder Woman aus der Comicheftwelt der frühen 1940er-Jahre verabschiedete sich jedoch bereits in den Jahren nach Ende des Zweiten Weltkrieges: In der Folge schrumpfte die Figur zu einer Karikatur ihrer selbst, die statt Boots Schläppchen trägt, wie Jill Lepore knapp kommentiert:
„Sie verbündet sich mit Kobolden oder Feen. Mit diesen Ballettschuhen ist sie einfach nur lächerlich. Als würde sie zur Barbiepuppe werden, dem US-Exportschlager der 1950er-Jahre. Sie verkommt zu einer dekorativen Barbiepuppe.“

Nerd Girl – eine filigrane Superheldin

Weit weg von Wonder Womans Welt hat die in Köln lebende Comiczeichnerin Sarah Burrini eine filigrane Superheldin aufs Papier gebracht: Nerd Girl. Nicht ganz zufällig verdient Nerd Girl ihr Geld als Gerichtszeichnerin und schlüpft nebenberuflich in den Anzug einer Superheldin. Sarah Burrini erzählt:
„In ihrer Eigenschaft als Superheldin trägt sie so einen - ein Latex-Anzug ist es wahrscheinlich eher nicht, da schwitzt man sehr - taucheranzugähnlichen Superhelden-Anzug mit Umhang, mit Cape, mit einem Utility Belt, in dem verschiedene Gadgets versteckt sind. Und bequeme Doc Martens, gelbe Stiefel, mit denen man besonders weit und lang springen und laufen kann. Und sie trägt eine Maske. Sie tut ihr Bestes, um nicht erkannt zu werden.“

Death Wing und Waffle Watch

In bislang zwei Comicheften erzählt Sarah Burrini von den nebenberuflichen Abenteuern von Nerd Girl. Sie hatte Lust darauf, mit dem Klischee des Superhelden-Genres zu spielen, es zu parodieren und auf die Spitze zu treiben.
Nerd Girl – der Name scheint Programm zu sein – ist eine junge Frau aus Köln, die nicht so recht in das Schema der klassischen Comic-Amazonen passt. Sie ist eher eine Parodie auf das Genre der weiblichen Kampfmaschinen: Catwoman, Wonder Woman, Supergirl! Alle sind eine Nummer zu groß für Nerd Girl.
Von ihrem ersten Einsatz gegen böse Buben auf der Straße kehrt Nerd Girl frustriert in ihre Kölner Bude zurück. Sie steigt, wie es sich für eine Superheldin gehört, durch das Fenster in ihre Wohnung und sinkt auf ihrem grünen Sofa zusammen. Ihr einziger Zuhörer ist eine Taube: Batman hat Robin, Nerd Girl hat Death Wing.
„Nerd Girl zeichnet sich dadurch aus, dass sie erst mal noch keine übernatürlichen Superhelden-Fähigkeiten hat. Sie hat erst mal Superhelden-Utensilien, die ihr helfen sollen beim Kampf gegen was auch immer. Und das sind halt besonders nerdige Gegenstände. Sie hat zum Beispiel eine Waffle Watch, also eine Uhr, die den Träger in eine Vanille-Waffel verzaubern kann.“

Giftiger Tofu und das Monster Mettilda

Nerd Girls erster großer Fall ist im Kölner Imbissbuden-Milieu angesiedelt, denn als Tochter eines italienischen Kellners schlägt ihr Herz von Natur aus für alles Gastronomische. Sie konsumiert gerne Fast Food, auch für deftige Fritten ist sie zu haben und stolpert so in eine absurde Kriminalgeschichte.
Was steckt hinter den mysteriösen Einbrüchen in Kölns Imbissbuden? Und was hat das mit dieser neuen veganen Imbisskette auf sich, die vergifteten Tofu verkauft und damit nicht nur bei Kölns Bürgern, sondern auch bei den ahnungslosen Franchiseabnehmern für Magen-Grummeln sorgt?
Sarah Burrini hat sich von dem Fall einer bekannten Sandwich-Kette inspirieren lassen, die in Köln ihre Filialen schließen musste, weil die angebotenen Produkte minderwertig und gesundheitsgefährdend waren.

Ermittlungen im Imbissbuden-Milieu

Im Zuge ihrer Ermittlungen gerät Nerd Girl an Kölner Originale aus dem Imbiss-Milieu, allen voran Udo Pomme, seines Zeichens Frittenverkäufer mit Bierbauch, Vokuhila-Frisur und Schnauzbart. Grobe Manieren hat er, aber das Herz am richtigen Fleck.
Nerd Girl verfolgt dann eine heiße Spur mithilfe ihres Sidekicks, der treuen Taube Death Wing, und weiteren Imbissbuden-Besitzern. Es kommt zum Showdown in der Biopantsch-Werkstatt eines üblen Hipsters mit Bart und Minidutt, der die Monsterfrau Mettilda fürs Grobe geschaffen hat. Mettilda ist über zweite Meter groß, hat weißblonde Haare und sieht aus wie eine Mischung aus Hulk und Frankensteins Kreatur. 
Am Ende geht alles gut aus, Mettilda und Nerd Girl solidarisieren sich, aber Nerd Girl erleidet einen Nervenzusammenbruch und landet in einer Klinik. Die Imbissbuden-Leute schließen Nerd Girl in ihr Herz und es wird klar: Als nebenberufliche Superheldin muss sie noch an sich arbeiten.

Mit blonder Perücke und Flatterkleid 

Der britische Karikaturist und Comic-Zeichner Steven Appleby hat das Superhelden-Genre in seiner Graphic Novel „Dragman“ auf originelle Weise auf den Kopf gestellt. „Dragman“ hat die Fähigkeit zu fliegen, wenn er Frauenkleider trägt.
Es ist die Geschichte von August Crimp, einem Ehemann und Vater, dessen Hang zu Frauenkleidern ein lang gehütetes Geheimnis ist. Als junger Mann entdeckte Appleby seine Passion für Frauenstrümpfe, Kleider und Schmuck, lebte sie aber nur im Untergrund in einer Art Zweitexistenz aus.
In seiner dreihundert Seiten umfassenden Graphic Novel verpackt Appleby sein Coming-out als Transmensch, der biologisch ein Mann bleiben will, aber Frauenkleider trägt. Mit viel Humor und leiser Selbstironie erzählt er eine komische Superhelden-Geschichte und vom frühen Leid des jungen August Crimp, der auf seiner Couch sitzt, Frauenstrümpfe anprobiert, unverhofft an die Zimmerdecke schnellt und zum ersten Mal fliegt. Frauenkleidung, das ist sein ganz spezieller Zaubertrick, der aus ihm eine Superheldin macht.

Die geheime Identität von Superheldinnen

Es liegt nahe, die Geschichte von August Crimp als Autobiografie des Comiczeichners Steven Appleby zu interpretieren – denn Appleby lebt seit vielen Jahren offen als Transfrau mit Frau und Kindern. Der in London lebende Trans-Künstler hat früher Plattencover der Indie-Rockband „The Pixies“ illustriert und ist bekannt für seinen zittrig-improvisierten Zeichenstil. Mit schwarzer, halblanger Perücke, schwarzem Kleid und Stiefeln ähnelt er selbst ein wenig seiner Superheldin.
Er erzählt: „Für mich war Crossdressing auch eine großartige Metapher für diese Superhelden-Idee. Denn Superhelden scheinen immer eine geheime Identität zu haben, so wie hinter Superman Clark Kent verborgen ist oder hinter Batman Bruce Wayne. Also ist August Crimp die geheime Identität von Drag Man. All die Crossdresser, die ich kenne, kenne ich nur mit ihrem Mädchennamen, aber nicht ihren männlichen Namen.  Ihre männliche Identität ist ein Geheimnis.“

Ein bisschen "böse" und zweideutig

Steve Appleby hat sich allerdings nie besonders für Superhelden interessiert. Weder Superman noch Batman haben ihn in seiner Jugend und später bei seiner Arbeit inspiriert. Auch Wonder Woman war nie sein Fall, dafür aber eine Superheldin, die ein Jahr vor Wonder Woman ihr Comic-Debüt erlebte:

Catwoman ist meine ganz persönliche Lieblings-Superheldin, weil sie auch ein bisschen 'böse' und zweideutig ist. Catwoman scheint mir eine Art Archetyp zu sein, wie aus einem Märchen oder aus psychologischer Perspektive – weil sie so vielseitig, dunkel, gruselig und wunderbar ist. Catwoman hat meinen Kleidergeschmack geprägt, und sie hat definitiv meine Liebe zu Superhelden beeinflusst.

Steve Appleby

August Crimp alias Dragman flattert dagegen als Parodie aller Superhelden unter Londons trübem Himmel. Auf ihrem Rücken sitzt gelegentlich Dog Girl - seine treue Gefährtin. Während Batman und Wonder Woman versuchen, die Welt zu retten, ist das für Crimp, der eigentlich nur Frauenkleider tragen und in Ruhe gelassen werden will, eine lästige Nebenwirkung seiner geheimen Leidenschaft.
Als er aber ein kleines Mädchen rettet, das vom Dach fällt, führt das dazu, dass er sich einer Superheldengruppe anschließt und dann doch zur Superheldin wird. Denn bei Appleby gehören Superhelden quasi zum Alltag. Man muss nur eine spezielle Versicherung abschließen, um die Superhelden bezahlen zu können, wenn sie beispielsweise jemanden retten sollen.

Kapitalistisch und korrupt

„Es ist also alles ein bisschen kapitalistisch und korrupt“, sagt Appleby: „Ich schätze, es spiegelt mein Gefühl wider, dass der Kapitalismus inzwischen ausgeufert ist.“
Superheldinnen haben es nicht besonders leicht, ob mit blonder Perücke, Zauberlasso oder Waffle Watch. Doch die großen Momente stehen ihnen ja vielleicht noch bevor, meint Sarah Burrini am heimischen Zeichentisch:
Ich würde schon sagen, eine Superheldin ist die, die es schafft, ethischen Regeln oder ethischen Grundsätzen zu folgen. 'Mit großer Macht kommt große Verantwortung'. Das ist ein schlauer Spruch von Spider-Man und ich finde, der gilt. Es geht darum, das Richtige zu tun, herauszufinden, was das Richtige ist.“
(DW)
Mitwirkende: Luise Wolfram, Bettina Kurth und Christian Gaul
Regie: Roman Neumann
Ton: Hermann Leppich
Redaktion: Dorothea Westphal

Jill Lepore: Die geheime Geschichte von Wonder Woman. Übersetzt von Werner Roller, C.H.Beck Verlag, München 2022, 552 Seiten, 29,95 Euro
Steven Appleby: Dragman. Übersetzt von Ruth Keen, Schaltzeit Verlag, Berlin 2021, 336 Seiten, 29 Euro
Sarah Burrini: Die nebenberuflichen Abenteuer von Nerd Girl #2. Edition Kwimbi, 2022, 4,99 Euro

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