Gila Lustiger, Erschütterung.Über den Terror, Piper Verlag 2016, 16 Euro.
Vom Neuanfang nach der Shoa
"Es soll ein leichtfüßiger Roman sein." Das sagt die Schriftstellerin Gila Lustiger über ihr neues Buch, an dem sie gerade schreibt. Sie erzählt darin von dem erstaunlichen Lebenselan der Menschen, die den Holocaust überlebten. Dabei spielt ihre eigene Familiengeschichte eine große Rolle.
Die Schriftstellerin Gila Lustiger arbeitet gerne an mehreren Dingen gleichzeitig. Am meisten beschäftigt sie aber gerade ihr neu entstehender Roman. Die Initiatialzündung zu diesem Buch kam durch einen Fund nach dem Tod ihres Vaters, des deutsch-jüdischen Historikers Arno Lustiger (1924–2012).
Das Leben danach
"Was mich hier in diesem Roman jetzt so fasziniert, ist gar nicht der Holocaust. Es ist der Neuanfang", sagte Lustiger. Sie habe sich mit vielen der Überlebenden des Holocaust darüber unterhalten, wie es war, sich das erste Mal zu verlieben oder nach dem Krieg Brot zu essen. "Das sind so Momente, in denen der Lebenselan wieder erwacht, und das hat mich sehr berührt", sagte die Schriftstellerin, die sich in ihrem Roman diesem erstaunlichen Lebenselan widmen möchte. "Es geht nicht um den Holocaust, sondern es geht darum, wie fängt man an, wenn die Lebenswelten zerstört sind."
Das Interview im Wortlaut:
Axel Rahmlow: Gila Lustiger hat viele Romane geschrieben über jüdisches Schicksal in Deutschland, unter anderem "So sind wir", über das Leben als Tochter von Holocaust-Überlebenden. Zum Beispiel.
Vladimir Balzer: Und dann erschien aber auch noch ein Roman mit dem Titel "Die Schuld der anderen" über politische Intrigen in Frankreich, das Land, in dem sie seit über 30 Jahren lebt, genau genommen in Paris. Diese Gila Lustiger, die Tochter des Historikers Arno Lustiger, der eben den Holocaust überlebt hat. Kürzlich ist ein Essay von Gila Lustiger auch erschienen mit dem Titel "Erschütterung. Über die Folgen der Terroranschläge". Und jetzt wollen wir die Frage weiterreichen an sie, woran sie denn arbeitet. Erst mal schönen guten Abend, Frau Lustiger!
Gila Lustiger: Guten Abend!
Balzer: Also, woran arbeiten Sie gerade?
Lustiger: Ich arbeite eigentlich an mehreren Sachen gleichzeitig, aber was mich am meisten beschäftigt, würde ich mal sagen, ist mein neuer Roman. Ich bin nach dem Tod meines Vaters – mein Vater ist vor drei Jahren gestorben, auf ein Formular gestoßen, dass er für die amerikanische Verwaltung geschrieben hat im DP-Camp. Mein Vater war im DP-Camp Pfalzheim, DP-Zentrum für Displaced Person. Nach der Befreiung aus dem Lager war er halt mit drei Schwestern in einem DP-Camp.
Und da fragte ihn der Kommandeur, wie eigentlich alle anderen auch Überlebenden, in diesen DP-Camps waren die meisten halt Überlebende aus den Lagern nach seiner Berufserfahrung, um ihn irgendwie wieder einzugliedern ins Berufsleben. Und da schrieb mein Vater '39 "Schüler", und dann, ab '39 "Forced Labour" und die Namen der Lager. Und dann, '45, wieder "Schüler". Und ich las das und dachte mir, was für Ressourcen müssen in einem Menschen stecken, damit er wieder da ansetzt, wo sein Leben vor dem Krieg aufgehört hat, und was mich eben interessiert jetzt – womit fängt man an, wenn man gar nichts hat? Also wo kriegt man die Ressourcen her, und was für ein Lebenselan steckt in so Menschen? Was mich jetzt umtreibt.
Einfache Fragen stellen
Balzer: Sie haben ja auch schon das beschrieben in dem Roman "So sind wir", da gibt es diesen Satz, "Wir waren und sind eine Familie, die schonend über die Vergangenheit schweigt". Und das war ja, soweit ich weiß, auch bei Ihrem Vater der Fall, dass er eben über die Vergangenheit, auch über den Holocaust erst einmal geschwiegen hat, Sie geschont hat auch vor dieser Geschichte. Das heißt, es ist vieles offen geblieben. Oder konnten Sie, als Ihr Vater starb, dann erst richtig sagen, ich weiß jetzt das meiste?
Lustiger: Nein, ich weiß natürlich nicht das meiste. Ich weiß einiges, ich habe einen Roman zu dem Thema geschrieben, also den Anfängen des Nationalsozialismus. Die "Bestandsaufnahme", die 1998 erschienen ist, und habe für diesen Roman fünf Jahre recherchiert, auch um zu verstehen, was meiner Familie wiederfahren ist. Aber es gibt einige Orte, da wage ich mich nicht hin.
Balzer: Welche sind das?
Lustiger: Die Vernichtungsmaschinerie, also wie das ganz konkret funktioniert hat. Das sind Orte, die berühre ich kaum. Also, die Vernichtung der Juden. Aber ich kann sagen, dass mich in allen Texten, die ich schreibe, immer wieder eine Frage umtreibt und fasziniert, von der ich nicht los komme: Ich versuche zu verstehen, welche historischen, politischen, sozialen und ökonomischen Gegebenheiten vorhanden sein müssen, damit ein Mensch einen anderen Menschen umbringt. Das kommt ja nicht von ungefähr.
Aber was mich hier in diesem Roman jetzt so fasziniert, ist gar nicht der Holocaust. Es ist der Neuanfang. Das sind Leute – ich habe gelesen, dass die höchste Geburtenrate in Europa in Bergen-Belsen war. Das waren alles Überlebende, und ich habe mit einigen gesprochen, und eine von diesen Bekannten meines Vaters hat mir erzählt, wie es war, sich das erste Mal zu verlieben, und wie das das erste Mal war, wieder nach dem Krieg Brot zu essen. Und was man so – ich habe so ganz einfache Fragen gestellt wie: Was wünscht man sich denn als Erstes, wenn man nichts mehr hat, womit fängt man an?
Der erste Mantel, der Geruch vom ersten Brot, das erste Mal wieder die Sonne zu sehen und sich zu verlieben und angstfrei sich zu verlieben. Und das sind so Momente, in denen der Lebenselan wiedererweckt, und das hat mich sehr berührt, und es geht eigentlich darum. Es geht nicht um den Holocaust, sondern es geht darum: Wie fängt man an, wenn die Lebenswelten zerstört sind?
Heranwagen an die Familienbiographie
Rahmlow: Frau Lustiger, Sie haben gerade schon viel über Ihren Vater erzählt. Ist er denn mehr als nur Inspiration für dieses Buch? Soll heißen, inwieweit ist Ihre Familie auch Teil dieses Buches selbst, oder dient es wirklich nur als Ausgangsquelle?
Lustiger: Nein, das ist – ich wage mich, sagen wir mal so, an den Kern meiner Familienbiografie heran, und der Kern meiner Familienbiografie ist eben nicht nur der Holocaust, sondern das Leben danach. Ich bin der Beweis dafür, dass es ein Leben danach gibt. Ich kam '63 zur Welt, meine Eltern haben mich Gila genannt, das bedeutet "Glück", und was für Ressourcen müssen in einem Menschen stecken, dass er, nachdem er wirklich gesehen hat, wie seine Familienmitglieder ermordet wurden, dass er sagt, ich vertraue, der Menschheit und Deutschland, und ich vertraue mir, und ich vertraue ich weiß nicht was, der Zukunft, und ich fange wieder von vorne an.
Und das ist es, was mich so fasziniert, und das ist es auch, was in meiner Familienbiografie drinsteckt. Die meisten Leute, die über mich etwas wissen, über meine Familie, bleiben eben beim Holocaust hängen, und was aber eigentlich viel wichtiger ist als der Holocaust, ist, dass wir wieder von vorne angefangen haben.
"Die Geschichte der Juden in Deutschland nach dem Krieg ist eigentlich eine universelle Geschichte"
Rahmlow: Wenn Sie sagen, es geht auch um Ihre Familie – Sie sind ja auch Teil Ihrer Familie –, kommen Sie auch in dem Buch vor?
Lustiger: Ja. Ich komme auch in dem Buch vor, ich bin eine Randfigur.
Rahmlow: Welche genau?
Balzer: Wie heißen Sie denn?
Lustiger: Ich heiße Gila Lustiger in meinem Roman und bin eine ziemlich nörglerische Randfigur, und das macht mir sehr viel Spaß.
Rahmlow Konnten Sie sich da mal ein bisschen sozusagen auch von Ihrer Person im realen Leben befreien, ein bisschen locker mit sich selber umzugehen?
Lustiger: Und was ich auch machen will, und das schulde ich eigentlich auch meiner Familie und meiner Familiengeschichte: Es soll ein leichtfüßiger Roman sein. Es ist kein schwerer Roman, es ist ein Roman, der eben auch den Lebenselan vermitteln soll meiner Familie.
Rahmlow: Sie haben gerade gesagt, Sie können sich da auch sozusagen selbst darstellen als etwas nörglerisch. Was ist der Zweck darüber hinaus, dass Sie selbst in dem Roman auftauchen werden?
Lustiger: Dass ich eben als Randfigur meinem Protagonisten, der eben ein anderer ist, Informationen vermitteln kann, und das werde ich in dem Roman als Randfigur, dem Protagonisten sagen, dass es eben keine jüdische Geschichte ist, auch keine deutsche Geschichte ist, sondern ganz universell. Es gibt heute in der Welt so viele Menschen, deren Lebenswelten zerstört wurden. Ich denke da ganz konkret an die vielen Flüchtlinge, die sich jetzt in Deutschland aufhalten und in Europa, und die wieder von vorne anfangen müssen.
Und es geht eben nicht ohne diesen Lebenselan und ohne eben diesen Glauben, dass man doch noch mal neu anfangen kann. Und das ist eigentlich, diese Geschichte der Juden in Deutschland nach dem Krieg ist eigentlich eine universelle Geschichte, und es darf eben nicht nur als deutsche Geschichte gelesen werden mit der ganzen Befangenheit, mit der man das lesen könnte.
Rahmlow: Gila Lustiger, die Autorin arbeitet an einem neuen Roman für das kommende Jahr. Es geht um die Zeit nach dem Holocaust, und es geht dabei auch um ihre eigene Familie. Herzlichen Dank für das Gespräch!
Lustiger: Ich danke Ihnen auch!
Rahmlow: Vielen Dank und viel Erfolg beim Schreiben noch! Wir erwarten ihn nächstes Jahr. Er wird doch nächstes Jahr kommen.
Lustiger: Ja, genau.
Balzer: Haben Sie schon einen Titel?
Lustiger: Ich habe einen Arbeitstitel, und das ist "Die Entronnenen", aber das ist ein Scheißtitel, damit kann man gar nicht anfangen, dann schluckt man einfach nur. Und jetzt habe ich noch einen Titel gefunden, und das ist "Andere Welten". Aber mal gucken. Der Titel kommt dann beim Schreiben. Er muss wirklich leichtfüßig sein wie der Ton im Roman, sonst geht das nicht.
Balzer: Wir sind gespannt. Gila Lustiger, vielen Dank!
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Gila Lustiger, Die Schuld der anderen, Piper Verlag 2015, 22,99 Euro.
Gila Lustiger, So sind wir, Berlin-Verlag 2005, 18 Euro.