Amrei Bahr ist promovierte Philosophin und engagiert sich für faire Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft — unter anderem mit den Twitter-Aktionen #IchBinHanna und #95vsWissZeitVG (95 Thesen gegen das Wissenschaftszeitvertragsgesetz), die sie gemeinsam mit Kristin Eichhorn und Sebastian Kubon initiiert hat. Ein Buch dazu ist im Büchner Verlag erschienen.
Leben und Job ausbalancieren
Mehr Desinteresse an der Arbeit!
Früher war Ausruhen im Job komplett verpönt, heute gehört es zum Achtsamkeitskonzept guter Arbeitgeber, für Entspannung zu sorgen. Das aber stabilisiere nur das System der Leistungsmaximierung, sagt die Philosophin Amrei Bahr.
Wir sind alle müde. Ist es da nicht ein Glück, dass unsere Leistungsgesellschaft gegenwärtig die Abkehr von der Norm entgrenzter Arbeit bis zur totalen Erschöpfung vollzieht? Offen zur Schau gestellte Überlastung taugt längst nicht mehr als unwidersprochen akzeptiertes Statussymbol.
Das allgegenwärtige Stichwort „Work-Life-Balance“ weist Workaholics in ihre Schranken und erinnert uns daran, dass unser Dasein nicht allein aus Arbeit bestehen sollte.
Ausruhen ist en vogue – sei es individuell, mit Konzepten wie Selfcare und Achtsamkeit, oder in Gemeinschaft: Da sorgen dann der Kickertisch im Büro, die Meditation in der Mittagspause und das gemeinsame Retreat in den Bergen für die kollektive Entspannung von Angestellten.
Zwar finden sich in vielen Branchen weiterhin einige Unbelehrbare, die trotzig die eigene Selbstausbeutung vorführen, aber solche Praktiken werden längst kritisch reflektiert.
Überstunden sind schädlich für alle
Das Problem ist strukturell: Nicht alle können unentwegt Überstunden ansammeln, nachts und am Wochenende arbeiten. Wer etwa Care-Arbeit leistet, chronisch krank ist oder eine Behinderung hat, ist von diesem Überarbeitungswettbewerb ausgeschlossen.
Aber auch diejenigen, die das Spiel mitspielen, zahlen dafür einen hohen Preis, denn die durchgehend hohe Arbeitsbelastung zehrt an Gesundheit und Wohlbefinden, wie das längst als Volkskrankheit gehandelte Burnout-Syndrom belegt.
Stehen wir also an der Schwelle zu einer gerechteren, inklusiveren und gesünderen Arbeitswelt? Ist endlich klar, dass an die Stelle der Forderung nach permanenter Überarbeitung ein Arbeitsideal treten muss, das Ausruhen als integralen Bestandteil menschlichen Daseins anerkennt?
Bei aller Euphorie über die Umdeutung von Werten wäre dies ein übereilter Schluss. Denn die Aufwertung des Ausruhens erkennt nicht etwa seinen Eigenwert – sie dient vielmehr weiterhin einem System, das die Steigerung von Produktivität als oberstes Ziel hat.
Ausruhen ist Mittel zum Zweck, um die Leistungsfähigkeit der Arbeitenden zu erhalten und zu verbessern. Wer Pausen macht, wird in der Arbeitszeit mehr schaffen. Die Aufforderung zum Ausruhen ist mithin kein Akt der Wohltätigkeit, sondern eine kalkulierte Maßnahme zur Leistungssteigerung.
Ausruhen artet zum neuen Wettbewerb aus
Damit wird Ausruhen zur neuen Herausforderung für das arbeitende Individuum. Die Botschaft lautet: Wer es der Allgegenwart von Yoga-Kursen, Resilienztrainings und Meditations-Apps zum Trotz nicht fertigbringt, sich ordentlich zu entspannen, ist selber schuld und hat sogar beim Pausemachen versagt.
Unbeachtet bleibt dabei, dass Ausruhen damit nur zur weiteren Anforderung verkommt, um strukturelle Probleme aufs Individuum zu schieben: Selber schuld, wer in die Knie geht – mit Yoga wäre das nicht passiert!
Die Verantwortung der Selbstsorge, die der Erhaltung der Arbeitsfähigkeit dient, wird dem Individuum als zusätzliche Aufgabe aufgebürdet, ohne dabei zu berücksichtigen, dass man sich Ausruhen auch leisten können muss. Statt eines Wettbewerbs um Mehrarbeit läuft nun der Wettstreit darum, wer die eigene Selbstoptimierung mit den vielfältigen verfügbaren Mitteln besonders effektiv vorantreiben kann, um ein verlässliches Schräubchen im System zu bleiben.
Zweckgebundenes Ausruhen aber ist am Ende häufig gar keins. Die Vereinnahmung durch externe Zwecke kann diesem menschlichen Grundbedürfnis nur schaden: Wenn Ausruhen seinerseits zum Stressfaktor wird, führt es sich selbst ad absurdum.
Wir sollten uns deshalb schleunigst das Ausruhen um des Ausruhens willen zurückerobern – mit einem gepflegten Desinteresse an dem, was wir Arbeit nennen.