Schlaglichter auf akute Debatten
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Seit 1991 kürt eine Jury alljährlich das Wort des Jahres - und auch das Unwort. Über die Aufgabe dieser Worte, ihre Wirkung und ihren Wert macht sich der Schriftsteller, Autor und Kritiker Hans von Trotha Gedanken.
Auch zum Ende des gerade überstandenen Jahres wurde ein Wort des Jahres gekürt. Zur Erinnerung: Es war, wenig überraschend, Corona-Pandemie. Die Zeitung "Die Welt" titelte punktgenau: "Ödes Jahr, ödes Wort". Und ein Jugendwort des Jahres, aktuell amtierend: Lost.
Dem wäre eigentlich nichts hinzuzufügen. Doch es folgte auch noch die Bekanntgabe der Neologismen des Jahrzehnts von Aluhut bis digitale Entgiftung, ergänzt um einen eigenen "neuen Wortschatz rund um die Coronaepidemie".
Sprache bildet die Welt ab
Na Bravo. Aber was soll´s? Unsere Sprache bildet nun mal die Welt ab, wie sie ist, nicht, wie wir sie uns wünschen. Und die alljährlich gekürten Worte des Jahres oder auch Jahrzehnts sollen uns darauf stoßen, wie diese Welt aussieht und wie wir, jede und jeder von uns, sie nicht zuletzt durch unseren Sprachgebrauch gestalten.
Jedes Wort schafft eine Tatsache, sozusagen – wobei die Floskel "sozusagen" ja selbst nichts anderes ist, als der Hinweis auf die fundamentale Bedeutung der Worte, die wir gerade verwenden, für die Art und Weise, in der wir die Welt wahrnehmen, die wir gerade beschreiben.
Wenn jedes Wort ein Faktum schafft – was ist dann von einem Unwort zu halten? Nichts Gutes, sollte man meinen, aber das wäre falsch gedacht. Denn das Wort Unwort ist schnell selbst als Unwort entlarvt – sozusagen, dann nämlich, wenn man sich linguistisch darauf einigt, dass man das Wort "Wort" nicht verneinen kann.
Ein Wort beeinflusst die Welt
Das Wort "Unwort" ist aber nicht linguistisch gemeint, sondern metaphorisch, in dem Sinn, dass ein Wort und seine Verwendung die Welt, in der wir leben, dahingehend beeinflussen, dass wir womöglich weniger gern in ihr leben.
Das Unwort "Unwort" ist also eine sprachliche Volte, um auf einen Sachverhalt in der Welt hinzuweisen, der – sozusagen – als Unding gebrandmarkt werden soll. Und genau das tut das Unwort des Jahres seit 1991. Mal mehr, mal weniger effektiv.
Die Erweiterung der an sich schon heiklen Kategorie Wort des Jahres zu einem ganzen Wort- und Assoziationsfeld ist nicht ungefährlich, weil nicht jeder Lust hat, den beständigen Wechsel von direkter und metaphorischer Rede mitzumachen. Nur dann aber entfalten die gelisteten Worte und Wortlisten die ihnen zugedachte Wirkung.
So richtig entfalten sie die ohnehin erst auf lange Sicht – nämlich im Rückblick, wenn sie uns nachträglich in Erinnerung rufen, wie wir in vergangenen Jahren auf die Welt geblickt, sie beschrieben und dabei beeinflusst haben.
2015 etwa stand das Wort Flüchtlinge dem Unwort Gutmensch gegenüber. Sie erinnern sich? 2011 waren es Stresstest und Döner-Morde, und 1991, dem Begründungsjahr der Kategorie Unwort des Jahres: Besserwessi und ausländerfrei.
Auf die Sprache aufpassen
Bald erfahren wir, welche Vokabel sozusagen den Ungeist des Jahres 2020 für immer auf dieser Liste vertreten wird. Natürlich hat es die "Corona-Diktatur" ebenso verdient wie der "Öko-Nazi" oder die antisemitische "Opferanspruchsideologie".
Die unabhängige, ehrenamtliche Jury wird mit ihrer Entscheidung ein Schlaglicht auf eine der aktuellen, zum Teil auch akuten Debatten lenken. Denn darum geht es beim Unwort des Jahres, bevor es dann auf der Liste seinen Platz einnimmt und historisch wird.
Interessant ist das Wort oder Unwort "systemrelevant" auf der vorab bekannt gewordenen Shortlist. Denn unsere Deutschschweizer Nachbarn haben es vor Maskensünder und Stoßlüften gerade zu ihrem Wort des Jahres gekürt, hatten es aber selbst neben dem Wort des Jahres Stellwerkstörung als Unwort 2013 identifiziert.
Das zeigt, wie sehr nicht nur wir auf unsere Sprache aufpassen müssen, sondern, wie sehr die Sprache auch auf uns aufpasst, sozusagen. Und das ist gut so.