Worte für Unfassbares finden
In der These vom Unaussprechlichen sieht die Autorin Carolin Emcke die Gefahr einer unfreiwilligen Sakralisierung von Unrecht und Gewalt. Ihr Buch ist ein überzeugendes Plädoyer für "das Erzählen trotz allem", persönlich und auf gesellschaftliche Relevanz hin gedacht.
Wenn man ‘suchen‘ mit ‘begreifen wollen‘ gleichsetze und es verstehe als ein Nicht-zufrieden-sein mit der allgemein verbreiteten Art und Weise, in der wir uns sprachlich und politisch Phänomene aneignen, dann, ja dann, sagt Carolin Emcke in einem Interview, sei sie eine Suchende.
Acht Essays hat sie in ihrem neuen Buch versammelt. Anschaulich und klug sucht sie, darin Begriffe und Verhaltensweisen zu klären. Es sind auch Texte dabei, die Emcke bereits in Zeitschriften veröffentlicht hat. Beispielsweise einer zum unreflektierten Gebrauch des Begriffs Muslim, sein Titel "Liberaler Rassismus". Abgedruckt sind auch Reden, bereits gehalten, hier aber zum ersten Mal publiziert: über "Heimat" oder die "Herausforderung Demokratie". Darin heißt es:
"Wenn wir wollen, dass die Demokratie einen Sinn ergibt, müssen wir miteinander sprechen."
Dieses Zitat führt direkt zum umfangreichsten Essay des Bandes, seinem Herzstück, mit über 100 Seiten genauso lang wie die anderen sieben Texte zusammen. Es ist der titelgebende Essay "Weil es sagbar ist. Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit".
Schon der Umschlag eines Buches sagt bestenfalls etwas über den Inhalt. In diesem Fall ziert ihn ein bekanntes Bild von Paul Klee. Der ‘Angelus Novus‘, den Walter Benjamin als den Engel der Geschichte ausmachte.
"Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert."
Während bei Benjamin der Engel ein zugewandter, aber sich entfernender, ein verständiger, aber stummer Beobachter geschehenen Unheils ist, interessiert Carolin Emcke das Gegenteil: Wie ist eine solche Erfahrung mitteilbar? Wie wird ein Sprechen über erlittene Katastrophen möglich oder unmöglich? Was ist diese Zeugenschaft von etwas Unfassbarem?
Emcke selbst war schon oft in einer solchen Position. "Außen-Zeuge" nennt sie sich, verschont, aber in der Doppelrolle des Zuhörenden und Weitererzählenden. Sie hat mit Opfern von Gewalt gesprochen und deren Geschichten erzählt.
Immer wieder war sie an den Krisenherden unserer Zeit: im Kosovo, im Irak, in Afghanistan oder in Gaza, im vom Erdbeben zerstörten Haiti und im vom Guerillakampf geprägten Kolumbien.
Die promovierte Philosophin und Politikwissenschaftlerin verfügt souverän über theoretische und eben auch persönliche Erfahrung. Sie hat "street credibility" und eine enorme Fähigkeit, in gesellschaftspolitischen Debatten über Mainstream-Positionen hinauszudenken. So beschränkt sie sich nicht auf die Beschreibung dessen, was extreme Gewalterfahrung und erlittenes Unrecht mit Menschen macht, sondern untersucht, wie diese Erfahrung zu einem sprachlichen Problem wird. Und zwar nicht nur für die Opfer.
Schon auf den ersten Seiten des Essays unterstreicht die Autorin, dass die Mitteilbarkeit einer traumatischen Erfahrung auch vom Empfänger abhängt. Vehement wendet sie sich gegen den erstarrten Topos vom "Unsagbaren" und "Unbeschreiblichen". Es schütze, so Emcke, vor allem diejenigen, die nichts hören und nichts sehen wollen – die von traumatisierender Erfahrung Verschonten. Zudem sieht sie in der These vom Unaussprechlichen "hermeneutische Faulheit" und die Gefahr einer unfreiwilligen Sakralisierung von Unrecht und Gewalt.
"Die Erfahrung extremer Entrechtung und Gewalt, die Einzelne durchlitten und überlebt haben, stellt auch eine Vielzahl an normativen Problemen einer sozialen Gemeinschaft dar, die einen solchen zivilisatorischen Bruch zugelassen hat."
Das Erzählen einer solchen Erfahrung ist für Carolin Emcke nicht allein Problem der Überlebenden, sondern eine kollektive Frage. Der Zuhörer, der Leser, ist hier direkt angesprochen und mit in die Verantwortung genommen.
"Warum sollten Menschen, deren Weltvertrauen zerbrochen wurde, jemals wieder Vertrauen zu anderen fassen können? Warum sollten sie von dem, was ihnen angetan wurde, erzählen? Wem?"
Emcke stützt ihre Reflexionen auf vielfältige Beispiele aus der Literatur. Sie bezieht sich auf Berichte von Opfern stalinistischer Willkür und von Überlebenden nationalsozialistischer Konzentrationslager. Die kennt man vielfach. Die Autorin aber liest sie neu und verknüpft sie mit Schilderungen von Folteropfern aus Abu Ghraib, von Guantanamo-Häftlingen, mit denen des chinesischen Dissidenten Liao Yiwu.
Sie analysiert scharfsinnig und mit großer Empathie, arbeitet Muster heraus. Obwohl Opfer von Entrechtung und Gewalt aus ihrer bis dahin als stabil angenommenen Welt fallen und sie als Individuum unkenntlich gemacht werden, entdeckt Emcke in ihren Schilderungen auch kleine Widerstände gegen die Entmenschlichung
"Jene Momente des Trotzdem, in denen das System der Willkür kurz unterwandert wird, in denen ein Spalt sich auftut, der etwas von dem früheren Leben oder Selbst durchscheinen lässt."
"Augenblicke der Dissidenz" nennt sie die Autorin. Und zählt dazu auch das Ausleben von Gegen-Gewalt und Sexualität. Auch nach so etwas müsse man fragen, um Opfern eine Brücke zurück zur eigenen Subjektivität zu ermöglichen. Zeugenschaft und Vermittlung traumatisierender Erfahrung sei möglich und nötig, betont Emcke.
Ihr Essay ist ein überzeugendes Plädoyer für "das Erzählen trotz allem". Unaufgeregt und doch engagiert, persönlich und auf gesellschaftliche Relevanz hin gedacht.
Er wird der Einmaligkeit verstörender Erfahrungen für den einzelnen gerecht, stellt aber fest, dass es an uns, den Verschonten, ist, der Erfahrung des Schrecklichen, der Diskontinuität, einen Ort zu geben. Emcke fordert: die Opfer zum Sprechen zu ermutigen, uns selbst für ihre verstörenden Erfahrungen zu öffnen. Und ihnen so die Rückkehr in eine menschliche Gemeinschaft zumindest anzubieten. Gelingt das, so wird auch diese sich verändern.
"Das Erzählen trotz allem kann nur gelingen, wenn es mit keinem naiven Anspruch auf Vollständigkeit oder Einstimmigkeit einhergeht. Diese Erzählungen werden Irrtümer enthalten, auch Rätsel. Erzählte Erfahrung, individuell oder kollektiv, wird sich verdichten und womöglich stimmiger werden, als sie es war, sie wird sich verzetteln und womöglich brüchiger werden, sie wird nicht immer linear oder gar abgeschlossen daherkommen."
Acht Essays hat sie in ihrem neuen Buch versammelt. Anschaulich und klug sucht sie, darin Begriffe und Verhaltensweisen zu klären. Es sind auch Texte dabei, die Emcke bereits in Zeitschriften veröffentlicht hat. Beispielsweise einer zum unreflektierten Gebrauch des Begriffs Muslim, sein Titel "Liberaler Rassismus". Abgedruckt sind auch Reden, bereits gehalten, hier aber zum ersten Mal publiziert: über "Heimat" oder die "Herausforderung Demokratie". Darin heißt es:
"Wenn wir wollen, dass die Demokratie einen Sinn ergibt, müssen wir miteinander sprechen."
Dieses Zitat führt direkt zum umfangreichsten Essay des Bandes, seinem Herzstück, mit über 100 Seiten genauso lang wie die anderen sieben Texte zusammen. Es ist der titelgebende Essay "Weil es sagbar ist. Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit".
Schon der Umschlag eines Buches sagt bestenfalls etwas über den Inhalt. In diesem Fall ziert ihn ein bekanntes Bild von Paul Klee. Der ‘Angelus Novus‘, den Walter Benjamin als den Engel der Geschichte ausmachte.
"Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert."
Während bei Benjamin der Engel ein zugewandter, aber sich entfernender, ein verständiger, aber stummer Beobachter geschehenen Unheils ist, interessiert Carolin Emcke das Gegenteil: Wie ist eine solche Erfahrung mitteilbar? Wie wird ein Sprechen über erlittene Katastrophen möglich oder unmöglich? Was ist diese Zeugenschaft von etwas Unfassbarem?
Emcke selbst war schon oft in einer solchen Position. "Außen-Zeuge" nennt sie sich, verschont, aber in der Doppelrolle des Zuhörenden und Weitererzählenden. Sie hat mit Opfern von Gewalt gesprochen und deren Geschichten erzählt.
Immer wieder war sie an den Krisenherden unserer Zeit: im Kosovo, im Irak, in Afghanistan oder in Gaza, im vom Erdbeben zerstörten Haiti und im vom Guerillakampf geprägten Kolumbien.
Die promovierte Philosophin und Politikwissenschaftlerin verfügt souverän über theoretische und eben auch persönliche Erfahrung. Sie hat "street credibility" und eine enorme Fähigkeit, in gesellschaftspolitischen Debatten über Mainstream-Positionen hinauszudenken. So beschränkt sie sich nicht auf die Beschreibung dessen, was extreme Gewalterfahrung und erlittenes Unrecht mit Menschen macht, sondern untersucht, wie diese Erfahrung zu einem sprachlichen Problem wird. Und zwar nicht nur für die Opfer.
Schon auf den ersten Seiten des Essays unterstreicht die Autorin, dass die Mitteilbarkeit einer traumatischen Erfahrung auch vom Empfänger abhängt. Vehement wendet sie sich gegen den erstarrten Topos vom "Unsagbaren" und "Unbeschreiblichen". Es schütze, so Emcke, vor allem diejenigen, die nichts hören und nichts sehen wollen – die von traumatisierender Erfahrung Verschonten. Zudem sieht sie in der These vom Unaussprechlichen "hermeneutische Faulheit" und die Gefahr einer unfreiwilligen Sakralisierung von Unrecht und Gewalt.
"Die Erfahrung extremer Entrechtung und Gewalt, die Einzelne durchlitten und überlebt haben, stellt auch eine Vielzahl an normativen Problemen einer sozialen Gemeinschaft dar, die einen solchen zivilisatorischen Bruch zugelassen hat."
Das Erzählen einer solchen Erfahrung ist für Carolin Emcke nicht allein Problem der Überlebenden, sondern eine kollektive Frage. Der Zuhörer, der Leser, ist hier direkt angesprochen und mit in die Verantwortung genommen.
"Warum sollten Menschen, deren Weltvertrauen zerbrochen wurde, jemals wieder Vertrauen zu anderen fassen können? Warum sollten sie von dem, was ihnen angetan wurde, erzählen? Wem?"
Emcke stützt ihre Reflexionen auf vielfältige Beispiele aus der Literatur. Sie bezieht sich auf Berichte von Opfern stalinistischer Willkür und von Überlebenden nationalsozialistischer Konzentrationslager. Die kennt man vielfach. Die Autorin aber liest sie neu und verknüpft sie mit Schilderungen von Folteropfern aus Abu Ghraib, von Guantanamo-Häftlingen, mit denen des chinesischen Dissidenten Liao Yiwu.
Sie analysiert scharfsinnig und mit großer Empathie, arbeitet Muster heraus. Obwohl Opfer von Entrechtung und Gewalt aus ihrer bis dahin als stabil angenommenen Welt fallen und sie als Individuum unkenntlich gemacht werden, entdeckt Emcke in ihren Schilderungen auch kleine Widerstände gegen die Entmenschlichung
"Jene Momente des Trotzdem, in denen das System der Willkür kurz unterwandert wird, in denen ein Spalt sich auftut, der etwas von dem früheren Leben oder Selbst durchscheinen lässt."
"Augenblicke der Dissidenz" nennt sie die Autorin. Und zählt dazu auch das Ausleben von Gegen-Gewalt und Sexualität. Auch nach so etwas müsse man fragen, um Opfern eine Brücke zurück zur eigenen Subjektivität zu ermöglichen. Zeugenschaft und Vermittlung traumatisierender Erfahrung sei möglich und nötig, betont Emcke.
Ihr Essay ist ein überzeugendes Plädoyer für "das Erzählen trotz allem". Unaufgeregt und doch engagiert, persönlich und auf gesellschaftliche Relevanz hin gedacht.
Er wird der Einmaligkeit verstörender Erfahrungen für den einzelnen gerecht, stellt aber fest, dass es an uns, den Verschonten, ist, der Erfahrung des Schrecklichen, der Diskontinuität, einen Ort zu geben. Emcke fordert: die Opfer zum Sprechen zu ermutigen, uns selbst für ihre verstörenden Erfahrungen zu öffnen. Und ihnen so die Rückkehr in eine menschliche Gemeinschaft zumindest anzubieten. Gelingt das, so wird auch diese sich verändern.
"Das Erzählen trotz allem kann nur gelingen, wenn es mit keinem naiven Anspruch auf Vollständigkeit oder Einstimmigkeit einhergeht. Diese Erzählungen werden Irrtümer enthalten, auch Rätsel. Erzählte Erfahrung, individuell oder kollektiv, wird sich verdichten und womöglich stimmiger werden, als sie es war, sie wird sich verzetteln und womöglich brüchiger werden, sie wird nicht immer linear oder gar abgeschlossen daherkommen."
Carolin Emcke: Weil es sagbar ist. Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2013
256 Seiten, 17,99 Euro
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2013
256 Seiten, 17,99 Euro