Wortmächtiger Meister des Kompromisses

Von Peter Hölzle |
Zwischen 1906 und 1932 war Aristide Briand 26 Mal Minister und elf Mal Ministerpräsident. Als Außenminister gelang ihm zusammen mit seinem deutschen Kollegen Gustav Stresemann nach dem Ersten Weltkrieg der Ausgleich mit dem "Erbfeind" Deutschland.
"Auf einem kleinen, zierlichen, gebeugten Körper saß ein imposanter Kopf mit künstlerischen Zügen. Die Erscheinung selber war ganz ungepflegt. Der Anzug saß miserabel, die Krawatte war leicht ausgefranst."

So beschrieb der Politikwissenschaftler Theodor Eschenburg in einem 1962 gehaltenen Vortrag den französischen Staatsmann Aristide Briand, den er auf der Herbsttagung des Völkerbundes im September 1931in Genf noch persönlich erlebt hatte.

"Wenn er sprach in zwangloser Unterhaltung, ständig eine Zigarette im Mundwinkel, war er von einem so natürlichen Charme, wie ich es kaum bei einem anderen wiedergefunden habe. Zugleich war er ein hochbegabter Debatter; im Parlament wie im privaten Gespräch. Dabei war er keineswegs immer sachkundig. Aber er erfasste ständig blitzschnell das Wesentliche. Kurz: Er wusste wenig und verstand alles."

Nicht nur der spröde Hanseat Eschenburg geriet ins Schwärmen, wenn er über Briand redete. Auch die Franzosen und deren politische Klasse zog der am 28. März 1862 als kleiner Leute Kind in Nantes geborene Advokat immer wieder in seinen Bann. Wie sonst ist zu erklären, dass er häufiger als jeder andere Politiker in Frankreichs Dritter Republik hohe Staatsämter bekleidete. Zwischen 1906 und 1932 war er 26 Mal Minister in verschiedenen Ressorts, davon 15 Mal Außenminister, und elf Mal Ministerpräsident. Diese Ämterfülle verdankte der Bretone freilich nicht nur seinem Charme, seiner Wortmächtigkeit und seiner raschen Auffassungsgabe. Eschenburg hebt auch noch andere Fähigkeiten hervor:

"Briand war von einer federnden Geschmeidigkeit. In dieser Geschmeidigkeit, in Briands außerordentlicher Auffassungsgabe und Fantasie, aber auch in seinem unerbittlichen Friedenswillen lag seine geradezu künstlerische Fähigkeit zum Kompromiss."

Diese Qualität machte den ursprünglich Linken auch ministrabel für bürgerliche Regierungen und verhalf ihm selbst zu beachtlichen Erfolgen. Er gab schon in seinem ersten Ministeramt, dem der Bildung, zwischen 1906 und 1908 eine Kostprobe seines Vermittlungsgeschicks. Die durch ultramontane Scharfmacher provozierte laizistische Dritte Republik stand kurz vor dem Kulturkampf, als Briand das 1905 verabschiedete Gesetz zur Trennung von Staat und Kirche mit Fingerspitzengefühl so wendete, dass es für den katholischen Klerus erträglich wurde.

Größere Erfolge waren ihm nach dem Ersten Weltkrieg beschieden. Seite an Seite mit dem deutschen Außenminister Gustav Stresemann gelang ihm 1925 mit den Locarno-Verträgen ein Ausgleich mit dem "Erbfeind" Deutschland, der einerseits französischen Sicherheitsinteressen Rechnung trug und andererseits Deutschland zum Eintritt in den Völkerbund verhalf.

Doch der inzwischen zum "Friedenspilger" Gewordene wollte mehr. Mit dem Briand-Kellog-Pakt zielte er 1928 auf eine Ächtung des Krieges ab.

"Der Friede hat Fortschritte gemacht in der Welt, ohne Zweifel. Er verteidigt sich bereits unter Bedingungen, die ein vergangenes Zeitalter nicht kannte. Trotz alledem: Das unvorhergesehene Ereignis, das die Völker überwältigt und das sie, ohne sich verteidigen zu können , als Gegner auf ein blutiges Schlachtfeld treibt, das ist nicht mehr
möglich, und das ist ein großer Fortschritt gegen den Krieg."

Der "Fortschritt gegen den Krieg", den Briand auf der elften Bundesversammlung des Völkerbundes, am 11. September 1930, in Genf optimistisch verkündete, war von kurzer Dauer. Knappe neun Jahre später entfesselte Hitler den Zweiten Weltkrieg.

Briand erlebte ihn nicht mehr. Er war kurz vor seinem siebzigsten Geburtstag, am 7. März 1932 in Paris gestorben.
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