„Woyzeck“ von Georg Büchner

Ein Klassiker für die Gegenwart

Der Schriftsteller Georg Büchner in einem gezeichneten Porträt
Der Dichter Georg Büchner (1813-1837). Sein "Woyzeck" war in der Saison 2022/23 das meistgespielte Stück auf deutschsprachigen Bühnen. © picture alliance / dpa / dpa
Weltliteratur, Schullektüre und momentan besonders populär: Georg Büchners „Woyzeck“ wird zur Zeit von vielen Theatern auf den Spielplan gesetzt. Was macht das Drama bis heute aktuell?
Mit dem Dramenfragment „Woyzeck“ schuf Georg Büchner einen Klassiker der Theatergeschichte. Das Drama über einen mittellosen Soldaten, der seine Partnerin ersticht, war das letzte Stück des 1837 mit nur 23 Jahren verstorbenen Schriftstellers.
Doch erst 1879 wurde „Woyzeck“ veröffentlicht und noch einmal viele Jahre später - 1913 - dann am Residenztheater in München uraufgeführt. Das heute viel gespielte Theaterstück ist inzwischen Schullektüre und hat viele Künstler zu eigenen Werken inspiriert – von der Oper über den Roman bis zum Comic.

Worum geht es in „Woyzeck“?

Georg Büchner macht in seinem sozialkritischen Drama einen armen Mann zum Mittelpunkt der Handlung. Für Büchners Zeit war das ein revolutionäres Konzept.
Der einfache Soldat Franz Woyzeck verdient so wenig Geld, dass er sich, seine Freundin Marie und ihr gemeinsames Kind kaum über die Runden bringt: Also verdingt er sich als Handlanger für seinen Hauptmann und als medizinisches Versuchsobjekt für einen Arzt.
Der Hauptmann demütigt ihn, der Doktor nutzt skrupellos Woyzecks Geldnot aus. Marie wiederum lässt sich auf eine Affäre mit dem gesellschaftlich besser gestellten Tambourmajor ein. Woyzeck geht es nicht gut, er leidet an Halluzinationen und hört Stimmen. Als er von Maries Verhältnis erfährt, besorgt er sich ein Messer und ersticht sie.
Warum wurde Woyzeck zum Mörder? Ist der Täter nicht auch ein Opfer der gesellschaftlichen Umstände? Büchner wirft mit seinem Drama die Frage auf, inwieweit eine ungerechte Gesellschaft für die Tat mitverantwortlich ist. In „Woyzeck“ verhandelt er so gleich mehrere zeitlose Themen: Fragen von Schuld und Verantwortung, nach dem Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen arm und reich, zwischen den Geschlechtern.

Auf welcher historischen Grundlage basiert „Woyzeck“?

Georg Büchners Drama basiert auf einem realen Mordfall: Das Stück orientiert sich an dem Fall des Leipziger Söldners und Perückenmachers Johann Christian Woyzeck. 1821 hatte dieser seine Geliebte, die Witwe Johanna Christiane Woost, erstochen. Nachdem er sie zuvor einmal mit einem anderen Mann beobachtet hatte, hatte er sie bereits geschlagen. Als Woost ihn danach noch einmal für einen anderen Mann versetzt hatte, organisierte er sich eine Waffe und tötete sie. Der Mord sorgte für Aufsehen in der deutschen Presse.
Woyzeck, 1780 in Leipzig geboren als Sohn armer Leute, hatte schon in der Kindheit beide Eltern verloren. Er machte eine Lehre zum Perückenmacher, zog viele Jahre auf Arbeitssuche umher, schlug sich mit Gelegenheitsarbeiten und wohl auch mit Bettelei durch.

Der Gutachter erklärte Woyzeck für schuldfähig

Während der Napoleonischen Kriege wurde er schließlich Soldat und wechselte in den Kriegswirren immer wieder das Regiment. 1818 wurde er völlig mittellos aus dem Militär entlassen, womöglich auch psychisch geschädigt. Woyzeck kehrte in seine Heimatstadt Leipzig zurück, aber sein Leben blieb prekär. Wegen Diebstahls einiger Kleinigkeiten kam er ins Gefängnis, er wurde obdachlos und zog durch die Schenken.
Vor Gericht plädierte Woyzecks Verteidigung zunächst auf strafmildernde Umstände, es habe sich um einen Mord im Affekt gehandelt, wechselte später aber die Strategie: Woyzeck sei aufgrund einer krankhaften seelischen Störung völlig unzurechnungsfähig gewesen, hieß es. Ein Mediziner, der zweimal als Sachverständiger hinzugezogen wurde, erklärte den Angeklagten aber in beiden Gutachten für schuldfähig.
Woyzeck wurde zum Tode verurteilt und vor 200 Jahren - am 27. August 1824 - öffentlich hingerichtet. 5.000 Schaulustige kamen zur Hinrichtung mitten in Leipzig.
Büchner hat in seinem Drama auch noch ein anderes zeitgenössisches Geschehen verarbeitet: 1833 wollte der Chemiker Justus von Liebig herausfinden, ob sich tierisches Eiweiß durch den Verzehr von Hülsenfrüchten ersetzen lässt. Dazu startete er einen Menschenversuch, bei dem die Probanden über Monate nur Erbsenbrei essen durften. Diese extrem einseitige Ernährung erhält auch Büchners „Woyzeck“ als Versuchsobjekt seines Arztes – und wäre eine mögliche Erklärung für die Wahnvorstellungen, an denen er leidet.

Warum wurde Büchners "Woyzeck" zum vielgespielten Theaterstück?

„Woyzeck“ wird momentan an vielen Theatern inszeniert. In der Saison 2022/23 war Büchners Drama sogar das meistgespielte Werk auf deutschsprachigen Bühnen. Viele der aktuellen Bearbeitungen des Stückes interpretieren den Stoff neu und hinterfragen die gängige Sicht auf den Frauenmörder als Opfer der gesellschaftlichen Umstände. 
Das Thema des Femizids ist nach Ansicht des Regisseurs Ersan Mondtag einer von drei Gründen, warum das Drama zurzeit besonders populär ist. Die Diskussionen der vergangenen Jahre über Femizide hätten dem Stück noch einmal einen anderen Fokus gegeben, etwa in den Inszenierungen von Lucia Bihler am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg oder von Pia Richter am Theater Oberhausen.

Schulklassen sehen "Woyzeck" im Theater

Mondtag, dessen „Woyzeck“-Inszenierung am Scharoun Theater Wolfsburg gezeigt wird, sieht noch einen weiteren Anknüpfungspunkt zur Gegenwart, durch den das Stück so oft auf die Spielpläne gekommen sein dürfte: die Kriegsdimension des Dramas. „Das macht dieses Stück aus einer aktuellen Entwicklung in Europa heraus besonders interessant.“
Der Regisseur macht zudem auch noch einen rein pragmatischen Grund für den „Woyzeck“-Boom aus: Die Theater hätten seit der Pandemie enorme Schwierigkeiten, die Häuser zu füllen. Deshalb setze man derzeit auf größere Stoffe, die mehr Publikum versprächen. „Woyzeck ist natürlich ein sicherer Hafen, mit den ganzen Schulklassen und als kanonisches Werk“, erklärt Mondtag.

Warum ist Büchners "Woyzeck" heute noch so aktuell?

Nicht nur bei Theatermachern ist „Woyzeck“ derzeit hoch im Kurs. Der Museumspädagogin Annemarie Riemer vom Stadtgeschichtlichen Museum in Leipzig ist aufgefallen, dass sich auch Jugendliche in den vergangenen Jahren stärker für Woyzeck und die damit verbundenen Themen interessieren: „Die kennen Beziehungsdynamiken, die kennen Eifersucht, die kennen – leider muss man das auch sagen – zunehmend auch psychische Probleme. Die wissen, was Depressionen sind. Die kennen sich vielleicht sogar schon mit Psychosen aus“, sagt Riemer.

Der Mann als Versorger

Zur Zeit des realen, zum Tode verurteilten Woyzecks galt: Ein Mann hatte nur das Recht auf eine bürgerliche Existenz, wenn er in der Lage war, Frau und Kind zu ernähren. Büchners Drama zeigt, wohin dieses patriarchale Rollenbild führen kann. Und in gewisser Weise wirken – trotz aller fundamentalen Unterschiede – bestimmte Muster bis heute fort: Laut Jugendstudien seien die Lebenserwartungen von Jugendlichen immer noch sehr traditionell geprägt, sagt der Psychologe Max Lindner: „Wenn man ganz klassisch an Arbeit, Kinder, Haus, Mann als Versorger denkt – das sind die Ideale, die die Jugendlichen immer noch mit sich herumtragen.“
Lindner arbeitet als Psychologe mit den Woyzecks von heute: mit Männern, die Frauen gegenüber gewalttätig geworden sind. Er hält es für wichtig, im Blick zu behalten, wie patriarchale Vorstellungen durch gesellschaftliche und politische Strömungen bestärkt werden: „Weil sonst viele Fortschritte, die im Rahmen der Gleichstellung stattgefunden haben, wieder rückgängig gemacht werden.“

Wut auf Schwächere statt auf die Verhältnisse

Die Literaturwissenschaftlerin Marion Schmaus von der Philipps-Universität Marburg wiederum sieht die Aktualität von Büchners Drama in der Tragik, dass der von der Gesellschaft geschundene, perspektivlose Woyzeck seine Wut ausgerechnet gegen diejenige richtet, die ihm am nächsten steht – Marie. „Was Büchner eigentlich zeigt, ist, dass sozial Deklassierte leider nicht solidarisch reagieren, sondern sich gegeneinander wenden.“

jfr

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