Wozu Gewerkschaften?

Von Wolfgang Sofsky |
Vor langer Zeit galten Gewerkschaften als Vorhut des Fortschritts und Hüter der Gerechtigkeit. Dieser Ruf scheint mittlerweile dahin. Die Mitgliederzahlen schwinden, die Löhne fallen, der Arbeitstag wird wieder länger. Die Streiks der letzten Zeit endeten mit dürftigen Ergebnissen. Sogar das heilige Prinzip des Einheitstarifs war zuletzt nicht mehr zu verteidigen. Im endlosen Reformstreit wirkt die Wahrung der Besitzstände vielfach wie bornierte Interessenpolitik, betrieben von einer Funktionärskaste, die ihre eigenen Pfründe bereits gesichert hat.
Der Entwicklung des Kapitalismus und dem Niedergang des unsozialen Steuerstaates können die Syndikate nur hinhaltenden Widerstand entgegensetzen. Gegen globale Geld- und Warenströme sind sie ebenso machtlos wie gegen die Abwanderung der Firmen und die Zuwanderung billiger Arbeitskräfte. In der politischen Entwicklung der Produktivkräfte bilden die Organisationen der alten Arbeiterbewegung nicht mehr die Avantgarde. Und auch der späte Traum von der kulturellen Hegemonie hat sich verflüchtigt.

Die Defensive entspricht dem ursprünglichen Zweck der Gewerkschaft. Syndikate sind keine politischen Parteien, keine Bildungs- oder Mietervereine, keine Dienstleistungsfirmen oder Genossenschaften zur sozialen Fürsorge. Von seinen Beteiligungen an Banken, Verlagen und Immobilienfirmen hat sich der Verband schon vor Jahren getrennt. Gewerkschaften sind zuerst Schutzvereine der Lohnabhängigen. Obwohl die Funktionäre in zahllosen Ausschüssen und Aufsichtsräten sitzen, repräsentieren sie nicht die Gesellschaft im Ganzen, sondern nur ihre Organisation. Man muss dem halbstaatlichen Alleinvertretungsanspruch und der Rhetorik des öffentlichen Ordnungsdienstes keinen Glauben schenken. Zwar möchten die Gewerkschaften hierzulande gern - wie die christlichen Kirchen - im Namen aller sprechen, doch zuletzt sprechen sie nur für sich selbst.

Die angestammten Aktionsfelder des Interessenverbands sind Betrieb und Arbeitsmarkt. Um die ruinöse Preiskonkurrenz der Arbeitskräfte auszuschalten, erstrebt die Gewerkschaft Marktmacht durch Monopolbildung. Wenn sie alle Beschäftigten einer Branche vereint, ist die Gegenseite außerstande, willkürlich die Löhne zu drücken oder kurzerhand die Belegschaft auszuwechseln. Syndikate haben die Aufgabe, den Wettbewerb durch ein Angebotskartell einzuschränken.

Auf dem Markt ist Solidarität das wichtigste Machtmittel der Beschäftigten. Nur gemeinsam sind sie stark. Die Rhetorik der Solidarität ist kein Relikt aus den alten Zeiten der Massenstreiks. Sie entspricht der gesellschaftlichen Stellung einer Organisation, die ihren Einfluss der inneren Einheit verdankt. Wie andere Monopolverbände dulden auch Gewerkschaften keine Rivalen neben sich. Wie Firmen fusionieren müssen, um zu überleben, so erzwingen die Gesetze des Marktes die Koalition der Beschäftigten. Indem sie sich zusammenschließen, erzielen sie Preisvorteile beim Verkauf ihrer Arbeitskraft. Wer den Gewerkschaften die Existenzberechtigung abspricht, der muss zugleich den freien Verkauf der Ware Arbeitskraft aufheben. Und wer das wirtschaftliche Machtfeld nicht dem Diktat der Kapitaleigner überlassen will, der muss nicht nur die Marktkräfte stärken, sondern auch die Arbeitskräfte.

Die Macht der Korporation ist begrenzt. Gewerkschaften vertreten nur einen Bruchteil der Beschäftigten: die Kernbelegschaft qualifizierter Fachkräfte. Seinen Mitgliedern ist der Verband verpflichtet, nicht den Armen und Elenden. Wer Beiträge einzahlt, den schützt er. Für alle anderen ist er nicht zuständig. Kündigungsschutz, Beschäftigungsgarantien, sozialer Frieden, "guter Lohn für gute Arbeit" - diese Forderungen entsprechen den Interessen derjenigen, die Stammplätze besetzt halten. Die Randbelegschaften hingegen, die Teilzeitkräfte, Leiharbeiter oder Niedriglöhner haben von Gewerkschaften ebenso wenig zu erwarten wie die Arbeitslosen. Wer wenig hat, hat mehr zu gewinnen als zu verlieren. Er ist beim Syndikat an der falschen Adresse.

Die meisten Mitglieder entrichten ihre Beiträge und schweigen. Sie zeigen ihre Zustimmung, indem sie nichts tun. Die Politik überlassen sie den Funktionären. Um den eigenen Arbeitsplatz zu erhalten, finanziert das Mitglied den Arbeitsplatz des Gewerkschaftssekretärs, den Apparat der Organisation. Dieses Tauschgeschäft ist nicht immer von Vorteil. In den Betrieben können Räte oder Vertrauensleute die Belegschaft ungleich besser vertreten als das örtliche Büro des Verbandes. Der Sekretär richtet sich eher nach den Interessen der Organisation als nach den Ansprüchen der Mitglieder. Kampagnen ruft er nur auf höhere Weisung aus, sofern dies der Organisation dient. Arbeitspolitik untersteht der Verbandspolitik. Dem Apparat indes geht es zuerst um die Erhaltung seiner selbst. Das eherne Gesetz der Oligarchie ist noch immer in Kraft. Die Organisation ist die Mutter der Herrschaft der Beauftragten über die Auftraggeber, der Vertreter über die Vertretenen, der Funktionäre über die Mitglieder.

Alle Jahre wieder ruft die Gewerkschaft die Massen heraus zur großen Kundgebung. Der Tag der Arbeit ist der Feiertag der Organisation. Unzählige besuchen die Zeremonien, aus Loyalität, Gewohnheit, Sentimentalität oder dem Wunsch nach Geselligkeit. Die Redner drohen mit kollektiver Entschlossenheit und appellieren an die Solidarität. Gäste werden gelegentlich ausgepfiffen, Gesinnungsfreunde ernten freundlichen Applaus.

Ist das Wetter günstig, nutzen viele den freien Tag zu einem Ausflug. Abends sieht man auf dem Bildschirm ein Meer roter Fahnen und weißer Transparente, das Spalier der Funktionäre hinter dem Mikrophon, am Rande eine Rauferei der Polizei mit den üblichen, vermummten Verdächtigen - sonst keine besonderen Vorkommnisse.

Wolfgang Sofsky, Jahrgang 1952, ist freier Autor und Professor für Soziologie. Er lehrte an den Universitäten Göttingen und Erfurt. 1993 wurde er mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. Er publizierte u.a.: "Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager" (1993), "Figurationen sozialer Macht. Autorität - Stellvertretung - Koalition" (mit Rainer Paris, 1994) und "Traktat über die Gewalt" (1996). 2002 erschien "Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg", und zuletzt der Band "Operation Freiheit. Der Krieg im Irak".