Wahnsinnspläne für die alte Militärstadt - eine Bilanz
16:42 Minuten
Die Wehrmacht war da, dann die Sowjets. Das ist lange eher. Heute wünschen sich Visionäre die ehemalige Militärstadt Wünsdorf als Campus für die Öko-Wirtschaft. Die Bürger hingegen haben andere Präferenzen: Sie wünschen sich eine Bahnüberführung.
Wie ein unüberwindbares Hindernis durchschneidet die B 96 Wünsdorf. Auf der einen Seite der alte Ortskern, auf der anderen die ehemalige Militärsiedlung.
Eigentlich sollte vom Kreisverkehr eine Straße abzweigen, zur Brücke über die Eisenbahnlinie. Die Brücke ist bis heute nicht gebaut, der Abzweiger auch nicht. Und so steht die wenig umtoste Verkehrsinsel mitten im Wald als Sinnbild für die übersteigerten Erwartungen an das Entwicklungspotenzial der Stadt.
Eigentlich sollte vom Kreisverkehr eine Straße abzweigen, zur Brücke über die Eisenbahnlinie. Die Brücke ist bis heute nicht gebaut, der Abzweiger auch nicht. Und so steht die wenig umtoste Verkehrsinsel mitten im Wald als Sinnbild für die übersteigerten Erwartungen an das Entwicklungspotenzial der Stadt.
Hochfliegende Pläne für eine Beamtenstadt geplatzt
Umgerechnet mehr als 120 Millionen Euro steckte die brandenburgische Landesregierung ab Mitte der 1990er-Jahre in Deutschlands größtes Konversionsprojekt. Aus der ehemaligen Militär- sollte eine Beamtenstadt werden – ein Musterbeispiel für den Aufbau Ost. Doch statt diverser Landesbehörden mit Tausenden von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sorgt heute einzig die Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete ab und zu für Gesprächsstoff. Die hochfliegenden Pläne von damals sind gescheitert. Bestätigt auch Werner Borchert, Geschäftsführer der Bücherstadt-Tourismus-GmbH.
"Eigentlich sollte Wünsdorf-Waldstadt, so heißt die ehemalige Militärstadt ja heute, so eine blühende Kleinstadt in blühenden Landschaften sein mit 13.000 Einwohnern. Ist alles nichts geworden, politisch nicht richtig gesteuert. Aber so ist die Bücherstadt-Idee nach Wünsdorf gekommen."
Seit 1998 befindet sich auf Teilen des ehemaligen Militärgeländes die erste Bücherstadt Deutschlands. Was sehr groß klingt angesichts der wenigen Antiquariate, die sich noch immer halten können. Werner Borchert verkauft jedoch nicht nur alte Bücher. Er führt seine Besucher auch durch alte Bunkeranlagen.
Nicht nur die Sowjets hatten in Wünsdorf ihr Hauptquartier. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war hier das Oberkommando der deutschen Wehrmacht untergebracht. Damals entstanden gewaltige Bunkeranlagen. Die von den Sowjets zum Teil übernommen wurden.
Bekannt als Bücher- und Bunkerstadt
"Jetzt stehen wir unmittelbar vor dem Haupteingang von Zeppelin Amt 500, deutscher Fernmeldebunker. Das eigentliche Highlight hier ist nun mal – das Buch in allen Ehren – diese Militärgeschichte. Und erstaunlicherweise: Viele Leute, die in den Bunker gehen, können auch lesen. Und die nehmen sich dann hin und wieder auch mal ein Buch mit. Eigentlich ist das ja so ein Widerspruch: Bücher- und Bunkerstadt. Aber fürs Geschäft funktioniert’s einigermaßen."
20.000 Besucher im Jahr verzeichnete die Bücherstadt-Tourismus-Gesellschaft zuletzt. Die Corona-Pandemie ließ die Zahlen nur kurz zurückgehen.
"Jetzt aber back to the booktown oder die Russen sagen: dawai domoi, geradeaus und unten nach rechts."
Das Projekt der Bunker- und Bücherstadt Wünsdorf hebt sich ab von all den anderen großspurigen Plänen, aus denen nichts geworden ist. Ein Mega-Sportzentrum sollte auf dem ehemaligen Militärareal entstehen. Ebenso ein Weltwirtschaftspark.
"In der Regel sind diese Projekte, die wir da hatten, immer an der Finanzierung gescheitert. Immer."
Birgit Flügge vermarktet die alte Militärsiedlung. Sie leitet die Geschäfte der Entwicklungsgesellschaft Wünsdorf/Zehrensdorf, kurz EWZ. Ein Tochterunternehmen der Landesentwicklungsgesellschaft Brandenburg. Seit bald 25 Jahren versucht sie, seriöse Investoren für die teilweise komplizierten Grundstückslagen zu finden.
"Das könnte man so formulieren, zumindest für Teilflächen in Wünsdorf sind sehr anspruchsvoll in der Vermarktung. Und andere Teile wiederum sind halbwegs, wie man so schön sagen würde, marktgängig."
Ganz oben auf ihrer Agenda steht der Verkauf denkmalgeschützter Ensembles und Gebäude. 2012 stand ein solcher Deal kurz vor dem Notar-Termin – und platzte. Gerade noch rechtzeitig wurde bekannt, dass der mögliche Käufer, ein russischer Investor, unter Verdacht stand, Geldwäsche zu betreiben.
"Damals ging es um das Haus der Offiziere, das ehemals zur Kaiserzeit als kaiserliche Militär-Turnanstalt gebaut worden ist. Ein großes repräsentatives Gebäude. Da ist schon die Auswahl derer, die über die finanziellen Mittel verfügen, ein solches Objekt zu sanieren und einer Nutzung zuzuführen, relativ gering."
Für die sogenannte Infanterie-Schießschule hat die Geschäftsführerin der EWZ vor zwei Jahren einen Käufer gefunden. Und auch das Haus der Offiziere mit seinen fünf illustren Nebengebäuden wird irgendwann einen Abnehmer finden, ist sie sicher.
Sorge: Wünsdorf wird Schlafstadt
Noch etwa 200 von ehemals 538 Hektar Land stehen zum Verkauf – ein Hektar entspricht etwa der Größe eines Fußballfeldes – zudem Hunderte von zum Teil stark sanierungsbedürftigen Gebäuden. Wie jene graue, verfallene Villa, umrahmt von alten Kiefern, neben der ein paar Schritte entfernt neue Einfamilienhäuser in frischem Orange strahlen. Vieles hat sich auch schon entwickelt.
"Das macht überhaupt keinen Sinn, hier auf Großprojekte zu warten, wir machen das jetzt: kleinteilig, bedarfsorientiert und eben dann mit einer etwas verlangsamten Geschwindigkeit."
Seit ein paar Jahren erlebt Wünsdorf einen regelrechten Bauboom. Alte Kasernen werden zu Mietwohnungen umgebaut, Einfamilienhäuser entstehen. Wünsdorf profitiert von der Nähe zu Berlin. Mit der Regionalbahn ist man in einer knappen Stunde am Hauptbahnhof. Die Zahl der Einwohner stieg in den vergangenen 20 Jahren von 2500 auf 8000. Wünsdorfs ehemaliger Ortsvorsteher, Dieter Jungbluth, ist dennoch skeptisch.
"Wünsdorf entwickelt sich zu einer Schlafstadt."
Es fehlten größere Betriebe, sagt er, die wenigen Landesbehörden im Ort hätten kaum Mitarbeiter, es müssten dringend neue Arbeitsplätze geschaffen werden.
"Die Perspektive ist ja, dass wir langfristig vom Flughafen Schönefeld partizipieren, man sieht das an München und Frankfurt am Main, das zieht sich dann wie so ein Gürtel rund um, und das ist auch die Perspektive für Zossen und für Wünsdorf, dass es hier dann auch noch andere Gelegenheiten gibt, Institutionen anzubieten. Man muss sich ja auch immer Gedanken machen: Was passiert, wenn das Asylbewerberheim weg ist?"
"Die Perspektive ist ja, dass wir langfristig vom Flughafen Schönefeld partizipieren, man sieht das an München und Frankfurt am Main, das zieht sich dann wie so ein Gürtel rund um, und das ist auch die Perspektive für Zossen und für Wünsdorf, dass es hier dann auch noch andere Gelegenheiten gibt, Institutionen anzubieten. Man muss sich ja auch immer Gedanken machen: Was passiert, wenn das Asylbewerberheim weg ist?"
Dazu gibt es weitere Pläne, die von Berlin aus verfolgt werden. Pläne für eine ökologische Modellstadt.
Aber ausgerechnet in Wünsdorf? Ja, weil der Ort eine ungeheure Symbolkraft besitze, sagt Ekhart Hahn, Architekt, Siedlungsökologe und die treibende Kraft hinter der Vision.
"Ganz wichtig ist für uns, dass alle noch bestehenden baulichen Strukturen voll wieder genutzt werden. Auch als historisches Erbe, um zu zeigen, wie aus einem Ort, der historisch für Krieg und Militär steht, jetzt für Zukunft und Frieden und nachhaltige Zukunft umgepolt wird."
Ökostadt, organisiert nach dem Kreislaufprinzip
Von seinem Büro in der Hauptstadt aus treibt der 78-jährige Honorarprofessor das Projekt voran. Auf einem Flipchart-Ständer hängt der Lageplan der früheren Militärsiedlung. Bis zu 100 Hektar Fläche würde Ekhart Hahn gern erwerben, um seinen Lösungsansatz für die großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts – Klimawandel, Flucht und Migration – auszuprobieren.
"Wir haben vor, eben in Wünsdorf, an diesem historischen Standort, eine Modell-, Labor- und Ausbildungsstadt für zellulare Stadtentwicklung der Zukunft zu entwickeln. Das ist eine Stadt, die nach dem Kreislaufprinzip organisiert ist, das heißt: Sie produziert weitestgehend ihre Energie selbst, organisiert lokal die Wasser- und Nährstoff-Kreisläufe, produziert einen großen Teil der Nahrungsmittel lokal selbst. Also all diese Themen werden hier direkt angesprochen. Und dafür wird es ein Labor."
Ein Labor, in dem die Bewohner praxisorientiert lernen, wie Aufbau und Betrieb der Ökostadt funktionieren, aber auch die theoretischen Grundlagen nachhaltiger Stadtentwicklung. Platz genug gibt es dafür, meint Ekhart Hahn. In einer riesigen ehemaligen Panzerhalle – 120 Meter lang wie breit – könnten die Ausbildungswerkstätten untergebracht sein. Und der Ladenhüter der ehemaligen Militärsiedlung, bei dem der Deal mit einem russischen Investor 2012 scheiterte, würde das Herzstück der Ökostadt werden.
"Das ist das sogenannte Haus der Offiziere. Während der Sowjetzeit, ursprünglich zur Kaiserzeit und bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, war es die Heeres-Sportschule, das ist ein großer Komplex mit vielen Kultureinrichtungen, mit Sälen, Foyers, aber eben auch fantastischen Möglichkeiten, ein solches Gebäude für vielfältige Nutzung umzubauen, darin sehen wir die Akademie in der Zukunft."
10.000 Auszubildende aus der ganzen Welt
Wünsdorf – eine internationale Campus-Stadt. Bis zu 10.000 junge Menschen aus Deutschland und der EU, aber auch aus den globalen Krisengebieten würden in ihr gemeinsam wohnen, leben, lernen und arbeiten.
"Um von hier aus dann in der Welt das Wissen, das hier laborhaft entwickelt wird, auch verbreiten zu können. Und wenn da 10.000 Auszubildende sind, dann wohnen natürlich ringsum auch viele, die in dieser Stadt als Ausbilder, als Dienstleister und so weiter arbeiten. Das heißt: Wir gehen davon aus, dass hier durchaus eine Stadt entstehen kann, die letztendlich 30.000 bis 40.000 Einwohner haben kann."
Das wären fünfmal so viele Bewohner wie heute. Ein Schreckensszenario, findet Fred Hasselmann, Sprecher der Stadt Zossen, zu der Wünsdorf gehört.
"Sicherlich, die Vision klingt erstmal vielversprechend, aber wenn Sie sich mal die Entwicklung der Bevölkerungszahl in Wünsdorf anschauen – die Entwicklung ist enorm, alle fünf Jahre haben wir hier Schritte gemacht von 2000 bis 3000 Menschen Zuzug. Aber wir sind jetzt bei über 8000 in Wünsdorf. Inklusive Waldstadt. Und jetzt sollen da plötzlich 10.000, wie es so heißt, Auszubildende aus Kriegs- und Krisengebieten sowie aus Europa kommen. Es ist einfach unrealistisch."
Kommunalpolitik lehnt das Projekt ab
Die politisch Verantwortlichen jedenfalls lehnen das Projekt ab. Ende 2019 erteilte die Stadtverordnetenversammlung von Zossen dem Anliegen eine klare Absage. Der Beschluss beinhaltet zudem, dass die Bürgermeisterin über jede Amtshandlung in dieser Angelegenheit die Stadtverordneten unverzüglich zu unterrichten habe.
"Und der ist mit großer Mehrheit damals beschlossen worden. Ich kann Ihnen das Ergebnis nennen: es waren 14-mal Ja, zweimal Nein und sieben Enthaltungen."
"Diese Idee ist natürlich sehr groß, das ist ein Riesenprojekt. Wenn ich in Wünsdorf wohnen würde und wüsste, dass da so viele Projekte schon gescheitert sind, dann hätte ich auch kein Vertrauen. Das heißt, es ist unsere Aufgabe, die Bürger, die Stadtverordneten, die lokale Wirtschaft von diesem Projekt zu überzeugen. Und ich bin fest davon überzeugt, dass das gelingt."
Wenn Ekhart Hahn von "wir" spricht, meint er den Verein International Campus Eco City, in dem Landschaftsarchitekten, Siedlungsplaner und Experten für ökologische Landwirtschaft und nachhaltiges Wirtschaften gemeinsam für die Vision von der Ökostadt Wünsdorf werben.
Zwei Fragen allerdings bleiben unbeantwortet, beide von zentraler Bedeutung für das Gelingen des Vorhabens. Erstens: Stehen die gewünschten Flächen in der ehemals verbotenen Stadt überhaupt zur Verfügung? Birgit Flügge, die Geschäftsführerin der zuständigen Entwicklungsgesellschaft, sagt ganz klar: Nein.
"Da sind Flächen zwischenzeitlich veräußert worden, und bezüglich anderer Flächen laufen Verhandlungen. Von diesen 80, 90 Hektar steht vielleicht ein Drittel eigentlich schon gar nicht mehr zur Verfügung. Was Herr Doktor Hahn aber auch weiß. Wir sind da schon eine ganze Weile im Austausch gewesen, auch wir, das muss ich noch einmal ganz deutlich sagen, sind an diesen Stadtverordneten-Beschluss natürlich in gewisser Weise gebunden. Ohne die Stadt Zossen geht es aus meiner Sicht überhaupt nicht mit dem Projekt, und da ist ein eindeutiges Stoppsignal gekommen."
Zweitens: Hat Ekhart Hahn genügend Startkapital für das Milliardenprojekt? Kann er die Grundstücke überhaupt erwerben?
Ein Vision - aber spielen Wirtschaft und Politik mit?
Der Honorarprofessor bleibt im Ungefähren, spricht davon, wie groß das Interesse von Politik und Wirtschaft an seiner Vision sei – und lächelt.
"Die Idee dieses Projektes ist stärker als der Ort. Wenn es denn wirklich nicht gehen sollte in Wünsdorf und Zossen, dann finden wir auch einen anderen Ort. Und der muss nicht mal in Deutschland, nicht mal in Europa sein."
"In dem, was Professor Hahn hier seit Jahren propagiert, stecken, wenn wir irgendwann mal zu einer ökonomisch-ökologischen Lebensweise kommen wollen, eine ganze Menge guter und sehr guter Ideen", bestätigt Werner Borchert von der Bücherstadt-Tourismus-GmbH. Dennoch ist auch er überzeugt: eine Ökostadt Wünsdorf wird es nicht geben. Stattdessen sollten die politisch Verantwortlichen näherliegende Aufgaben erledigen. Zum Beispiel die Verkehrsinfrastruktur in der boomenden Kleinstadt verbessern. Nicht nur die B 96 ist in Wünsdorf ein unüberwindbares Hindernis, auch die Eisenbahnschienen. Brücken oder Unterführungen haben Seltenheitswert.
"Ich wohne auch auf der anderen Seite der Schienen in Zossen. Und muss pausenlos diese Schranken-Anlagen überqueren. Ich wohne jetzt fast 20 Jahre hier, ein Jahr davon habe ich an der Schranke gestanden. Weil die permanent zu ist. Ist wirklich zum Kotzen. Und ich wäre wirklich froh, wenn die endlich mal aus dem Puschen kämen und hier irgendwelche kreuzungsfreien Bahnübergänge herstellten."