Müll der Nazis und der Russen
Das Oberkommando der sowjetischen Streitkräfte residierte nach 1945 in der Bücher- und Bunkerstadt Wünsdorf - 20 Kilometer südlich von Berlin, abgeschottet von der Außenwelt. In den 1980er-Jahren lebten hier rund 60.000 sowjetische Armeeangehörige und Zivilisten.
Wünsdorf-Waldstadt ist ein ruhiges Wohngebiet. Entlang der kaum befahrenen Straßen liegen Mehrfamilienhäuser - mitten in kleinen Waldstücken. Eine ältere Dame führt ihren Hund spazieren. In einem Garten wartet ein Trampolin auf spielende Kinder. Rund 3.000 Menschen leben hier. Ungewöhnlich sind die riesigen Bunker, die in mehreren Vorgärten zwischen den Kiefern in die Höhe ragen - mehr als 20 Meter hoch, wie riesige Zuckerhüte, dunkel und aus Beton.
Der Kaiser, Hitler und die Russen
Man geht in beengte Räume. Holztreppen führen in die Höhe. Auf acht Etagen hatten mehrere Hundert Menschen Platz.
Die Hochbunker sind sichtbare Monumente der über 100-jährigen Militärgeschichte in Wünsdorf, rund eine Autostunde südlich von Berlin.
"Kaiser, Hitler, Russen haben hier nacheinander militärische Spuren hinterlassen"
... sagt Werner Borchert, der sich um das militärische Erbe auf dem früheren Kasernengelände kümmert. Der Ort war militärisches Ausbildungslager der kaiserlichen Truppen im Ersten Weltkrieg, später Sitz der Obersten Heeresleitung der Wehrmacht und nach dem Zweiten Weltkrieg Hauptquartier der Roten Armee in der DDR - bis zum Abzug 1994.
Wales als Vorbild für Bücherstadt
Inzwischen ist das Gelände zu einer normalen Siedlung geworden - und zur sogenannten Bücher- und Bunkerstadt. Die Idee stammt eigentlich aus Großbritannien. Ein Ort in Wales war Vorbild für das Konzept der Bücherstadt. Antiquariate und Galerien haben sich angesiedelt. Ein Besucher aus der Region schaut sich in einem der Antiquariate um und ist überzeugt von dem Konzept.
"Nach 1994 war doch alles ganz schön heruntergekommen. Und hier wurde eine ganze Menge gemacht. Klar könnte man noch mehr machen, aber es kostet ja auch Geld und es muss finanzierbar sein. Ich denke, man hat hier eine ganze Menge reingesteckt. Und auch die Menschen, die sich hier engagieren - gerade auch Bücher und Bunker, die Vereine - machen unwahrscheinlich viel."
In seinem Antiquariat im "Haus Oskar" verkauft auch Werner Borchert Literatur. Liebesromane liegen neben Edgar-Wallace-Büchern und Kindergeschichten. Borchert leitet die Bunker- und Bücherstadt. Auf einer Bank sitzt er neben dem Eingang. Nur zwei Schrittlängen vor seinen Füßen liegt eine Steinskulptur. Dargestellt ist ein gefallener sowjetischer Soldat. Fast 50 Jahre lang hat die Rote Armee die ganze Gegend geprägt. Die Kaserne gehörte zu den größten Militäranlagen weltweit - mit etwa 35.000 Bewohnern.
"Wir, die Bücher- und Bunkerstadt Wünsdorf sind ja eigentlich nur eine kleine Insel in diesem 600 Hektar großen Gelände der Militärstadt. Und wir versuchen die Erinnerung wach zu halten."
Borchert stammt ursprünglich aus Potsdam, lebt aber schon seit Jahren in der Nähe von Wünsdorf. In seinem Antiquariat im Haus Oskar ist zugleich auch das Informationszentrum für die Bücher- und Bunkerstadt untergebracht.
Wenige Gehminuten vom Haus Oskar entfernt liegen die Museen, in denen die lange Militärgeschichte thematisiert wird. Untergebracht sind sie in früheren Pferdeställen. Im Museum Roter Stern können Besucher die Sowjet-Vergangenheit des Ortes kennenlernen. Hans-Albert Hoffmann hat das Museum mit eingerichtet. Er zeigt anhand von Ausstellungsstücken, wie der Alltag für die Soldaten in Wünsdorf ausgesehen hat.
Zurückgelassen: Pässe, Heiratsurkunden und Sparbücher
Hoffmann war selbst Offizier der NVA-Truppen in der DDR und kannte sich aus mit den Hinterlassenschaften der russischen Armee. Er war daran beteiligt als das Gelände nach dem Abzug der Truppen geräumt wurde. Vieles haben die Soldaten und ihre Familien zurückgelassen, erzählt er. Sogar Pässe, Heiratsurkunden und Sparbücher.
"Die Letzten die dann hier noch waren, die haben dann wirklich fluchtartig das hier verlassen. Das war das Nachkommando. Die waren in der Kaserne des Wach- und Sicherstellungsregimentes untergebracht. Und da stand das Essen noch auf dem Tisch. Also nach dem Motto: Ich mache gerade Frühstück. Jetzt kommt Alarm, alles auf die Autos, alles auf den Zug und weg."
Auf alten Militärstraßen geht eine Besuchergruppe zu den großen unterirdischen Bunkeranlagen. Mehrere Tausend Besucher kommen jedes Jahr. Vor allem im Sommer ziehen Bücher und Bunker viele Touristen hierher.
Gebaut wurde diese Bunkeranlage in der Nazi-Zeit. Hier war der Sitz der Obersten Heeresleitung der Wehrmacht. Hier wurde der Überfall auf die Sowjetunion geplant. Hier dienten auch Offiziere wie Stauffenberg, die später das Attentat auf Hitler planten.
Heute weisen die verwitterten Warnschilder mit kyrillischer Ausschrift aber auf die letzten Nutzer der Anlage hin. Der Weg führt in den Wald hinein. Hoffmann führt die Besuchergruppen durch das Gelände bis zu einer unscheinbaren Betonwand. Durch eine Schleuse gelangt man hinein.
Gelände nur noch für friedliche Zwecke
Zwei Panzertüren - einen halben Meter dick - sichern den Eingang. Es ist kalt und feucht.
"Ich mache jetzt gleich Licht an. Und dann sehen Sie wie tief der Bunker überhaupt ist: 20 Meter. Aber so tief gehen wir nicht runter. Wir bleiben hier bei 12 Metern."
Hunderte Meter lange Gänge. Beton- und Steinboden. An manchen Wänden sind noch die Grüße und Erinnerungen der russischen Soldaten zurückgeblieben.
An der Führung nimmt auch eine Jugendgruppe aus Bremen teil. Deren Leiter ist beeindruckt von den gewaltigen Militäreinrichtungen - vor allem aus der Nazi-Zeit.
"Es ist gerade für die Jugendlichen ein ziemlicher Schock zu sehen, was damals gewesen ist. Denn es ist doch was anderes wenn man realistisch durch die Anlagen durchgeht oder auch diese Gebäude, die gesprengt sind zu sehen - die rottigen Klamotten einer Generation, die nie daran gedacht hat, dass ihre Zeit auch mal vorüber geht. Und man fragt sich nach dem Sinn: Was hat diese Generation eigentlich für einen Müll hinterlassen."
Heute soll das Gelände nur noch friedlichen Zwecken dienen, erklärt Werner Borchert. Mit der Bücher- und Bunkerstadt will er dabei helfen, die Erinnerung wachzuhalten.
"Das ist ja nun wirklich gelebte deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts, mit der man sich vielleicht auch noch im 21. Jahrhundert und vielleicht sogar im 22. Jahrhundert auseinandersetzen sollte."