Wütender Brief an den Terror-Chef
Auf ungezügelte, dreiste und komische Weise versucht der britische Autor Chris Cleave sich mit dem Terror auseinanderzusetzen. In seinem Roman schreibt eine junge Mutter, die ihren Sohn und ihren Mann bei einem Anschlag verloren hat, einen wütenden Brief an Osama bin Laden und schlägt ihm einen "Neuanfang" vor.
Jonathan Safran Foer, Ian McEwan und so weiter, es mangelt nicht an bedeutenden Autoren, die sich mit den New Yorker Terroranschlägen vom 11. September 2001 und deren Folgen auseinandergesetzt haben. Umso kühner ist, wenn sich der englische Journalist Chris Cleave, Jahrgang 1973, in seinem Debütroman diesem auf den ersten Blick kaum zu bewältigenden Thema zuwendet.
"Lieber Osama" (im Original: "Incendiary") ist ein ungezügelter, dreister und komischer Roman, der, 2005 zuerst erschienen, das Überschwappen des Terrors auf London gleichsam vorwegnahm.
Die Protagonistin, eine namenlos bleibende Mutter aus dem Londoner East End, schreibt einen wütenden Brief an Osama bin Laden, nachdem sie bei einem Terroranschlag ihren Mann und ihren vierjährigen Sohn verlor. Beide besuchten das neue Stadion von Arsenal London, und genau in dem Augenblick, als Arsenals Stürmer van Persie das 2:0 gegen den Lokalrivalen Chelsea erzielte, zündeten Bomben auf der Heimtribüne: Ein Anschlag, den die Briefschreiberin live vor dem Fernsehapparat verfolgt, während sie sich mit einem wohlhabenden Nachbarn, dem Journalisten Jasper Black, vergnügt.
So konstruiert und abenteuerlich Chris Cleaves Roman zuerst wirkt, so sehr überzeugt dieser, wenn er das Innenleben seiner Heldin und ihre soziale Lage beleuchtet. Vom gesellschaftlichen Abstieg nie weit entfernt, wird die ohnehin nervöse Frau durch den Anschlag völlig aus der Bahn geworfen. Wieder und wieder sieht sie die verkohlten Leichen vor sich und klammert sich verzweifelt an Mr. Rabbit, den angesengten Plüschhasen ihres Sohnes, der sich in den Stadiontrümmern wiederfand.
Cleave macht ohne triefende Sentimentalität den Zorn der wahllos um sich schlagenden jungen Frau deutlich, und er zeigt, wie in der Folge aus London eine Stadt im kompletten Überwachungszustand wird. Keiner entkommt dem psychischen Druck, auch Jasper Black und seine Freundin Petra Sutherland, eine extravagante Lifestyle-Reporterin, nicht.
Wie weiterleben? Das ist die einzige sinnvolle Frage:
"Nicht mal eine Sekunde lang kann ich an was anderes denken, es ist furchtbar, furchtbar, furchtbar. Und dauernd diese Angstzustände. Ich sehe Leute, und im nächsten Moment sehe ich sie in tausend Stücke gerissen. Und wenn irgendwo ein Teelöffel hinfällt, klingt das wie eine Bombe."
"Lieber Osama" scheut sich nicht, die Absurditäten der Ereignisse herauszustellen. Während es relativ leicht zu ertragen ist, dass Elton John sich sofort daran macht, das Leid in einem schmachtenden Song "England's heart is bleeding" zu verarbeiten, erleidet die Briefschreiberin einen weiteren Zusammenbruch, als sie von ihrem neuen Freund, dem Polizisten Terrence Butcher, erfährt, dass es Hinweise auf die Stadionbomben gab und man den Anschlag in Kauf nahm, um die Informationen über das Netzwerk der Terroristen nicht zu verlieren.
Marcus Ingendaay hat diesen mit Slangausdrücken gespickten Roman in ein klares, rasantes Deutsch gebracht, das die Figurenrede der hin- und hergerissenen Heldin treffend einfängt. Voller Bitterkeit und Verzweifelung steckt dieser Brief an den unauffindbaren Osama bin Laden, und wenn die Witwe ihm am Ende vorschlägt, gemeinsam einen "Neuanfang" zu versuchen, damit ihr (toter) Junge wieder einen Vater habe, so steckt darin ein Pathos, das übertrieben scheint und dennoch gut zu diesem erfrischend wagemutigen Erstlingsroman passt.
Chris Cleave: Lieber Osama
Roman. Aus dem Englischen von Marcus Ingendaay
Rowohlt Verlag
304 Seiten 19,90 Euro
"Lieber Osama" (im Original: "Incendiary") ist ein ungezügelter, dreister und komischer Roman, der, 2005 zuerst erschienen, das Überschwappen des Terrors auf London gleichsam vorwegnahm.
Die Protagonistin, eine namenlos bleibende Mutter aus dem Londoner East End, schreibt einen wütenden Brief an Osama bin Laden, nachdem sie bei einem Terroranschlag ihren Mann und ihren vierjährigen Sohn verlor. Beide besuchten das neue Stadion von Arsenal London, und genau in dem Augenblick, als Arsenals Stürmer van Persie das 2:0 gegen den Lokalrivalen Chelsea erzielte, zündeten Bomben auf der Heimtribüne: Ein Anschlag, den die Briefschreiberin live vor dem Fernsehapparat verfolgt, während sie sich mit einem wohlhabenden Nachbarn, dem Journalisten Jasper Black, vergnügt.
So konstruiert und abenteuerlich Chris Cleaves Roman zuerst wirkt, so sehr überzeugt dieser, wenn er das Innenleben seiner Heldin und ihre soziale Lage beleuchtet. Vom gesellschaftlichen Abstieg nie weit entfernt, wird die ohnehin nervöse Frau durch den Anschlag völlig aus der Bahn geworfen. Wieder und wieder sieht sie die verkohlten Leichen vor sich und klammert sich verzweifelt an Mr. Rabbit, den angesengten Plüschhasen ihres Sohnes, der sich in den Stadiontrümmern wiederfand.
Cleave macht ohne triefende Sentimentalität den Zorn der wahllos um sich schlagenden jungen Frau deutlich, und er zeigt, wie in der Folge aus London eine Stadt im kompletten Überwachungszustand wird. Keiner entkommt dem psychischen Druck, auch Jasper Black und seine Freundin Petra Sutherland, eine extravagante Lifestyle-Reporterin, nicht.
Wie weiterleben? Das ist die einzige sinnvolle Frage:
"Nicht mal eine Sekunde lang kann ich an was anderes denken, es ist furchtbar, furchtbar, furchtbar. Und dauernd diese Angstzustände. Ich sehe Leute, und im nächsten Moment sehe ich sie in tausend Stücke gerissen. Und wenn irgendwo ein Teelöffel hinfällt, klingt das wie eine Bombe."
"Lieber Osama" scheut sich nicht, die Absurditäten der Ereignisse herauszustellen. Während es relativ leicht zu ertragen ist, dass Elton John sich sofort daran macht, das Leid in einem schmachtenden Song "England's heart is bleeding" zu verarbeiten, erleidet die Briefschreiberin einen weiteren Zusammenbruch, als sie von ihrem neuen Freund, dem Polizisten Terrence Butcher, erfährt, dass es Hinweise auf die Stadionbomben gab und man den Anschlag in Kauf nahm, um die Informationen über das Netzwerk der Terroristen nicht zu verlieren.
Marcus Ingendaay hat diesen mit Slangausdrücken gespickten Roman in ein klares, rasantes Deutsch gebracht, das die Figurenrede der hin- und hergerissenen Heldin treffend einfängt. Voller Bitterkeit und Verzweifelung steckt dieser Brief an den unauffindbaren Osama bin Laden, und wenn die Witwe ihm am Ende vorschlägt, gemeinsam einen "Neuanfang" zu versuchen, damit ihr (toter) Junge wieder einen Vater habe, so steckt darin ein Pathos, das übertrieben scheint und dennoch gut zu diesem erfrischend wagemutigen Erstlingsroman passt.
Chris Cleave: Lieber Osama
Roman. Aus dem Englischen von Marcus Ingendaay
Rowohlt Verlag
304 Seiten 19,90 Euro