Wulf Kirsten: "Erdanziehung"
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019
94 Seiten, 22 Euro
Widerborstig die Welt beackern
04:32 Minuten
In seinen Gedichten erkundet Wulf Kirsten die Schönheit und Tiefendimension der sächsischen Natur. In ihr findet er auch eine enttäuschende Menschheit, die ihr Handy höher schätzt als die sie umgebenden Wunder.
"Die Erde bei Meißen" hieß der Gedichtband, mit dem Wulf Kirsten Mitte der 80er-Jahre auch in der BRD bekannt wurde, "Erdlebenbilder" ein großer Auswahlband aus fünfzig Jahren, der Anfang des neuen Jahrtausends erschien. "Erdanziehung" lautet nun der Titel des aktuellen Buches des mittlerweile 85-Jährigen Kirsten.
Nicht zu Unrecht erwartet man bei Autoren dieses Alters eine Art Bilanz, und tatsächlich steckt in dem Titel schon eine solche: "Erdanziehung", das heißt, die Erde lässt ihn nicht los, die Erze, die in ihr stecken, die Mauersegler die über ihr kreisen, die Flüsse, die sich ihren Weg bahnen durch Wiesen und Felder, der"melittaschiefer in popiankaschichten".
Sprache, Getier und Gestein
Dabei geht es Kirsten, wenn er von der greif- und sichtbaren Erde mit ihrem Getier und Gestein schreibt, immer auch um Sprachschichten, Schichten von Fachsprachen, alten Ortsnamen und Dialektwörtern, die sich in der Sprache ablagern wie eben der Melittaschiefer in Popiankaschichten.
Die Erde, um die es Kirsten geht, ist nach wie vor die Erde um Meißen, die Erde auch um Leipzig, wo er studierte, und um Weimar, wo der Autor heute lebt. Thüringische und sächsische Erdscholle, die bei Kirsten aber immer auch vom Menschen beackerte und heute zumal von Tankstellen und Discountern vollgestellte Scholle ist. Kirsten beklagt das. Er beklagt auch den Umstand, dass offenbar alle Welt nur noch aufs Handy schaut, statt eben auf die Welt.
Enttäuschende Menschheit
Leider beißt sich da der Hund in den Schwanz, denn auch Wulf Kirsten schaut in "Erdanziehung" allzu oft auf die enttäuschende Menschheit, statt in die schöne Natur. Statt den Blick noch genauer in den Melittaschiefer der Popiankaschichten zu versenken, ihn in seiner Schönheit wie auch in seiner historisch-sozialen Tiefendimension stärker auszuleuchten, verharrt sein Blick eben auf Discountern, Smartphones und vor allem bei den "philosophatschereien" der "indoktrinierten aller länder". "Kultur degeneriert/ zur sättingsungsbeilage", dichtet, oder besser formuliert, Kirsten.
Besserwisser mit Rhytmus
Alter also schützt vor Kulturpessimismus und Besserwisserei nicht, im Gegenteil, es scheint diese noch zu befördern. Eine gewisse Widerborstigkeit ist dagegen durchaus von Vorteil, der raue Ton bringt bei Kirsten immer wieder einen starken rhythmischen Zug in die Gedichte. Die Liebe zu den Wörtern, das scheint zum Glück hier und da noch durch, ist zudem ungebrochen, und wenn es heißt: "wie komme ich nach Schaddel, wo liegt/ Querbizsch an der Schnauder", dann braucht man kein Google Maps, dann ist man nämlich, ganz im Klang aufgegangen, schon angekommen.