Wulff fehlt "die sich selbst richtende Urteilskraft"
Dass die Öffentlichkeit so kritisch mit Christian Wulff umgeht, ist nach Ansicht des Philosophen Wilhelm Vossenkuhl ein Affekt, aber kein durchschlagendes Argument. Die Presse sei inzwischen genauso blind gegenüber der eigenen Macht wie der Präsident.
Frank Meyer: In der Affäre Wulff wird ja viel über Moral geredet. Was aber sind die moralischen Maßstäbe für das Amt des Bundespräsidenten? Und wie steht es um die Moral der Medien, die im Moment ja ziemlich einhellig gegen den Bundespräsidenten stehen, wo ist da die Grenze zu einem selbstgefälligen, billigen Moralismus überschritten? Das wollen wir mit Wilhelm Vossenkuhl besprechen. Er ist Professor für Philosophie an der Universität München und immer wieder befasst mit Fragen der Moralphilosophie. Seien Sie willkommen, Herr Vossenkuhl!
Wilhelm Vossenkuhl: Danke schön, Herr Meyer!
Meyer: Man kann ja die Causa Wulff auf verschiedene moralische Probleme konzentrieren. Das Entscheidende ist wohl der Umgang mit der Wahrheit. Christian Wulff wird in den letzten Wochen immer wieder ein taktisches Verhältnis zur Wahrheit vorgeworfen. Ist das denn in Ihren Augen schon ein moralisches Versagen?
Vossenkuhl: Es geht natürlich um die Frage: Welche Tatsache kann man denn ins Feld führen, um jemandem einen Verstoß gegen die Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit wirklich vorzuwerfen. Und da sind wir natürlich ein bisschen in einer schwierigen Situation, was Wulff angeht, denn er hat, wie er selbst ja gemeint hat, etwas Unrechtes getan im moralischen Sinn, was aber juristisch gesehen nicht unrecht ist. Also, es ist so eine Art Zwischenzone, in der er sich bewegt hat. Und was man ihm da vorwerfen kann, ist in der Tat ein gewisses moralisches Versagen im Hinblick auf einen Grundsatz wie den, dass man nichts auf die Gefahr hin wagen sollte, was Unrecht sei. Das ist übrigens schon ein uralter Grundsatz schon in der römischen Zeit, Plinius hat ihn erwähnt, Kant hat ihn wieder aufgegriffen. Also, das ist eigentlich der Kern eines moralisch berechtigten Vorwurfs.
Meyer: Das ist ja sozusagen die Innenperspektive, wie hat sich Christian Wulff zu seinen Maßstäben verhalten. Die Perspektive von außen ist ja die der Glaubwürdigkeit: Ein Bundespräsident, um sein Amt ausfüllen zu können, muss für uns glaubwürdig sein. Diese Glaubwürdigkeit ist doch durch dieses von Ihnen auch skizzierte moralische Vergehen beschädigt?
Vossenkuhl: Natürlich, auf jeden Fall. Er hat durch seinen Verstoß gegen die Absicherung seinem eigenen Gewissen gegenüber – Kant nennt das übrigens die sich selbst richtende Urteilskraft, das Gewissen –, er hat gegenüber dem Gewissen verstoßen, seine Pflicht nicht erfüllt, und diese Pflicht wirkt indirekt so, dass wir ihm nun nicht mehr glauben wollen. Aber dieses Nicht-mehr-Glaubenwollen ist natürlich erst einmal ein Affekt, ja, also eine Empfindung und nicht wirklich ein durchschlagendes Argument.
Meyer: Aber die Empfindung stützt sich darauf eben, dass … Sie haben es ja selber gesagt: Er hat Verfehlungen eingeräumt, wir sehen, dass er immer nur so viel Wahrheit einräumt, wie ihm schon nachgewiesen worden ist. Also, das ist doch eine Empfindung, die sich zumindest stützt auf Indizien?
Vossenkuhl: Natürlich, Indizien sind da und die Frage ist, wie viel dürfen wir von außen mit den Indizien, die da sind, anfangen? Ich habe den Eindruck, die Indiziensammlung ist unendlich, nicht abgeschlossen. Also, die Presse verhält sich so, als gäbe es da vielleicht doch noch irgendwo ein möglichst durchschlagendes Indiz, also eine wirkliche Tatsache, die man in die Hand nehmen kann und mit der man dann argumentieren kann. Aber die ist ja bisher eigentlich nicht auf dem Tisch.
Meyer: Die zweite Seite ist ja eben das Verhältnis des Bundespräsidenten zu der Presse, das ist ja der zweite wichtige Akteur. Wir haben auch über das moralische Verhältnis zwischen Christian Wulff und etwa der "Bild"-Zeitung hier im Programm gesprochen, mit dem Medienwissenschaftler Jochen Hörisch, und der hat Folgendes dazu gesagt:
"Wir haben eigentlich den paradoxen Umstand, dass ein Bundespräsident sozusagen auf Augenhöhe mit einem nicht sehr renommierten Chefredakteur einer nicht sehr renommierten Zeitung auf Augenhöhe kommuniziert, und diese Augenhöhe ist dann eben knapp über Fußbodenhöhe. Keiner von uns wird ja ernsthaft glauben, dass Kai Diekmann – um den Namen dann doch zu nennen – einer ist, der nun als Inbegriff und Inkarnation der Tugend, die dem Bundespräsidenten fehlt, durch die Lande läuft. Also, unterstellen wir mal einfach – wahrscheinlich müsste ich mich dafür entschuldigen –, dass auch Kai Diekmann sich nicht immer ethisch superinteger verhalten hat: Bei ihm erwarten wir das aber nicht, da wissen wir, das ist ein Journalist, ein Medienfuzzi. Entschuldigen Sie, wenn wir, wir sind ja auch beide Medienfuzzis, so argumentieren jetzt, aber es ist eben einfach eine Kategorie und ein Rollenmodell, auf das sich ein Bundespräsident nicht einlassen darf."
Meyer: Was würden Sie dazu sagen, Herr Vossenkuhl? Hat das die Tugend von Christian Wulff schon beschädigt, dass er sich da auf die Ebene der "Bild"-Zeitung eingelassen hat? Was er mit seinem Mailbox-Anruf ja nicht zum ersten Mal getan hat.
Vossenkuhl: Also, ich finde, Herr Hörisch hat völlig recht. Der Bundespräsident hat sich tatsächlich auf die Ebene der "Bild"-Zeitung begeben. Aber ich würde einfach mal die Frage stellen wollen: Warum eigentlich? Offensichtlich doch deswegen, weil er glaubte, dass der Chefredakteur der "Bild"-Zeitung ein Freund von ihm ist. Und ich nehme an, dass diese Art von Freundschaftsbruch, der zunächst einmal von der "Bild"-Zeitung ausgeht oder vom Chefredakteur, den Bundespräsidenten persönlich – also nicht als Bundespräsident, sondern als Person – sehr empört hat. Und auch da haben wir wieder einen Affekt. Die Empörung hat zu dieser unseligen Geschichte geführt, dass er auf die Mailbox gesprochen hat, was ja wirklich … Wenn man sagt, töricht, sagt man etwas Sanftes, also, es ist einfach nicht besonders klug, so etwas zu machen. Aber jedenfalls, er hat emotional reagiert. Aber das ist eine Ebene von Freund zu Freund, die aus der Sicht von Herrn Wulff gebrochen worden ist, und deswegen hat er so reagiert. Aber natürlich, Herr Hörisch hat Recht.
Meyer: Da höre ich jetzt sehr viel Verständnis bei Ihnen heraus für den empörten Freund Christian Wulff. Aber muss man an einen Bundespräsidenten nicht auch die Erwartung haben, dass er sich auch Freunden gegenüber, wenn sie eine professionelle Rolle haben gegenüber seiner Profession des Bundespräsidenten, dass er sich da auch professionell verhält und eben nicht als Freund?
Vossenkuhl: Natürlich, natürlich, das muss man schon erwarten können, das hat er aber nicht gemacht. Also, ich glaube, dass man eine durchgehende Linie feststellen kann in diesem ganzen merkwürdigen Geschäft, das wir nun schon seit längerer Zeit mit erleben: Es fehlt dem Bundespräsidenten ganz offensichtlich, auch, was das eigene Gewissen angeht, an dieser von Kant so schön genannten sich selbst richtenden Urteilskraft. Und das ist, glaube ich, auf allen Ebenen bei ihm festzustellen. Er hat einfach, weder was den Anruf beim "Bild"-Chefredakteur angeht, noch davor, was den Umgang mit diesem Kredit angeht, genügend moralische, aber auch faktische Urteilskraft an den Tag gelegt. Und das berechtigt uns natürlich erst mal zu dem, was Sie gut beschrieben haben, einem gewissen Zweifel an seiner Wahrhaftigkeit, an seiner Glaubwürdigkeit. Und damit ist natürlich die Person, die Persönlichkeit und damit auch das Amt beschädigt. Das muss man einfach feststellen.
Meyer: Wenn Sie jetzt sagen, Christian Wulff fehlt diese moralische Urteilskraft im Blick auf die eigenen Angelegenheiten, würden Sie dann sagen, er ist dann überhaupt geeignet für dieses Amt?
Vossenkuhl: So weit kann ich nicht gehen. Ich meine, jeder Mensch hat mal Verfehlungen begangen und muss deswegen nicht auf alle Zeit als untugendhaft oder amoralisch charakterisiert werden. Das sollte man nicht machen. Aber es ist doch die Frage, ob jemand in einem solchen Amt richtig ist, der das nicht hat, was Sie gerade eben Professionalität nannten, also die Art von Distanz auch zu sich selbst, die man braucht, um sein Amt gut zu führen. Wenn jemand diese Distanz zu sich selbst als Person nicht hat, dann kann man vielleicht etwas genereller sagen, na ja, vielleicht ist diese Person dann doch nicht geeignet für diese wirklich anspruchsvolle Tätigkeit.
Meyer: Es ist auch ein Argument in der Debatte aufgetaucht oder eine Beobachtung, Josef Joffe von der "Zeit" hat die aufgebracht: Die politische Moral sei gnadenloser geworden in unserer Gegenwart, also, wenn man 20, 30 Jahre zurückschaut, wo es diverse Amigo- und Spezlnaffären gab und wo man eher darüber hinweggegangen ist. Ist Christian Wulff insofern auch Opfer einer Zuspitzung der politischen Moral geworden?
Vossenkuhl: Das kann man sicherlich so sehen. Aber ich glaube, dass die Gnadenlosigkeit eigentlich nicht der Punkt ist, sondern die Frage ist: Wir haben in der Öffentlichkeit eine zunehmende Veränderung in der kritischen Beurteilung der eigenen Rolle als Fragende oder Kritisierende. Es gibt ja einen großen Unterschied, ob man jemanden tadeln darf oder ob man sich empören darf. Wer einen anderen tadelt, geht davon aus, dass er in der höheren moralischen Position ist. Ganz offensichtlich ist das aber die Presse nun wirklich nicht in diesem Fall, Sie haben das ja auch schon ganz schön beschrieben. Aber dann ist die Frage: Ja, darf sich denn die Presse dann empören? Empören darf sich eigentlich – oder tut sich im Wesentlichen – immer der Machtlose, derjenige, der gar keine Macht hat. Und das ist das eigentlich Merkwürdige: Die Presse hat mindestens so viel öffentliche Macht wie der Bundespräsident und tut so, als sei sie die Machtlose, und empört sich über ihn. Also, wir haben hier auf beiden Seiten einen großen Makel. Es ist also weniger die Gnadenlosigkeit, sondern die Blindheit gegenüber dem eigenen Makel. Und diese Blindheit hat sowohl auf Seiten des Bundespräsidenten geherrscht wie auch jetzt auf Seiten der Presse. Beide sind ihren eigenen Selbstansprüchen gegenüber wirklich blind geworden.
Meyer: Im Bezug auf die Presse kann ich Ihnen da noch nicht folgen. Man kann doch genau so gut sagen, die Presse erfüllt einfach ihre Aufgabe, nämlich auf die Verfehlung eben der Mächtigen hinzusehen und die offenzulegen?
Vossenkuhl: Das stimmt, natürlich. Aber wie weit geht diese Pflicht? Geht diese Pflicht nicht doch nur, so weit man überhaupt einen Fakt, eine Tatsache dingfest machen kann, die man auch tatsächlich vielleicht sogar juristisch bearbeiten kann? Ist die Pflicht, Fehlverhalten nachzuweisen, grenzenlos? Das, was ich eben beschrieben habe, ist, glaube ich, genau mit dieser Frage verbunden: Wenn ich davon ausgehe, dass ich als Journalist oder Journalistin eine grenzenlose Verpflichtung habe, jemandem etwas nachzuweisen, dem ich gerne etwas nachweisen würde, dann wäre das wirklich die Moral auf den Kopf gestellt. Nein, ich habe doch die Verpflichtung mich daran zu halten, was Tatsache ist, was wahr ist. Sonst ist meine eigene Wahrhaftigkeit ja nicht gesichert.
Meyer: Die Moral und die Debatte um Bundespräsident Christian Wulff haben wir uns angeschaut auf beiden Seiten, bei den Medien, beim Bundespräsidenten mit Wilhelm Vossenkuhl, Professor für Philosophie an der Universität München. Herr Vossenkuhl, ganz herzlichen Dank für das Gespräch!
Vossenkuhl: Bitte schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Wilhelm Vossenkuhl: Danke schön, Herr Meyer!
Meyer: Man kann ja die Causa Wulff auf verschiedene moralische Probleme konzentrieren. Das Entscheidende ist wohl der Umgang mit der Wahrheit. Christian Wulff wird in den letzten Wochen immer wieder ein taktisches Verhältnis zur Wahrheit vorgeworfen. Ist das denn in Ihren Augen schon ein moralisches Versagen?
Vossenkuhl: Es geht natürlich um die Frage: Welche Tatsache kann man denn ins Feld führen, um jemandem einen Verstoß gegen die Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit wirklich vorzuwerfen. Und da sind wir natürlich ein bisschen in einer schwierigen Situation, was Wulff angeht, denn er hat, wie er selbst ja gemeint hat, etwas Unrechtes getan im moralischen Sinn, was aber juristisch gesehen nicht unrecht ist. Also, es ist so eine Art Zwischenzone, in der er sich bewegt hat. Und was man ihm da vorwerfen kann, ist in der Tat ein gewisses moralisches Versagen im Hinblick auf einen Grundsatz wie den, dass man nichts auf die Gefahr hin wagen sollte, was Unrecht sei. Das ist übrigens schon ein uralter Grundsatz schon in der römischen Zeit, Plinius hat ihn erwähnt, Kant hat ihn wieder aufgegriffen. Also, das ist eigentlich der Kern eines moralisch berechtigten Vorwurfs.
Meyer: Das ist ja sozusagen die Innenperspektive, wie hat sich Christian Wulff zu seinen Maßstäben verhalten. Die Perspektive von außen ist ja die der Glaubwürdigkeit: Ein Bundespräsident, um sein Amt ausfüllen zu können, muss für uns glaubwürdig sein. Diese Glaubwürdigkeit ist doch durch dieses von Ihnen auch skizzierte moralische Vergehen beschädigt?
Vossenkuhl: Natürlich, auf jeden Fall. Er hat durch seinen Verstoß gegen die Absicherung seinem eigenen Gewissen gegenüber – Kant nennt das übrigens die sich selbst richtende Urteilskraft, das Gewissen –, er hat gegenüber dem Gewissen verstoßen, seine Pflicht nicht erfüllt, und diese Pflicht wirkt indirekt so, dass wir ihm nun nicht mehr glauben wollen. Aber dieses Nicht-mehr-Glaubenwollen ist natürlich erst einmal ein Affekt, ja, also eine Empfindung und nicht wirklich ein durchschlagendes Argument.
Meyer: Aber die Empfindung stützt sich darauf eben, dass … Sie haben es ja selber gesagt: Er hat Verfehlungen eingeräumt, wir sehen, dass er immer nur so viel Wahrheit einräumt, wie ihm schon nachgewiesen worden ist. Also, das ist doch eine Empfindung, die sich zumindest stützt auf Indizien?
Vossenkuhl: Natürlich, Indizien sind da und die Frage ist, wie viel dürfen wir von außen mit den Indizien, die da sind, anfangen? Ich habe den Eindruck, die Indiziensammlung ist unendlich, nicht abgeschlossen. Also, die Presse verhält sich so, als gäbe es da vielleicht doch noch irgendwo ein möglichst durchschlagendes Indiz, also eine wirkliche Tatsache, die man in die Hand nehmen kann und mit der man dann argumentieren kann. Aber die ist ja bisher eigentlich nicht auf dem Tisch.
Meyer: Die zweite Seite ist ja eben das Verhältnis des Bundespräsidenten zu der Presse, das ist ja der zweite wichtige Akteur. Wir haben auch über das moralische Verhältnis zwischen Christian Wulff und etwa der "Bild"-Zeitung hier im Programm gesprochen, mit dem Medienwissenschaftler Jochen Hörisch, und der hat Folgendes dazu gesagt:
"Wir haben eigentlich den paradoxen Umstand, dass ein Bundespräsident sozusagen auf Augenhöhe mit einem nicht sehr renommierten Chefredakteur einer nicht sehr renommierten Zeitung auf Augenhöhe kommuniziert, und diese Augenhöhe ist dann eben knapp über Fußbodenhöhe. Keiner von uns wird ja ernsthaft glauben, dass Kai Diekmann – um den Namen dann doch zu nennen – einer ist, der nun als Inbegriff und Inkarnation der Tugend, die dem Bundespräsidenten fehlt, durch die Lande läuft. Also, unterstellen wir mal einfach – wahrscheinlich müsste ich mich dafür entschuldigen –, dass auch Kai Diekmann sich nicht immer ethisch superinteger verhalten hat: Bei ihm erwarten wir das aber nicht, da wissen wir, das ist ein Journalist, ein Medienfuzzi. Entschuldigen Sie, wenn wir, wir sind ja auch beide Medienfuzzis, so argumentieren jetzt, aber es ist eben einfach eine Kategorie und ein Rollenmodell, auf das sich ein Bundespräsident nicht einlassen darf."
Meyer: Was würden Sie dazu sagen, Herr Vossenkuhl? Hat das die Tugend von Christian Wulff schon beschädigt, dass er sich da auf die Ebene der "Bild"-Zeitung eingelassen hat? Was er mit seinem Mailbox-Anruf ja nicht zum ersten Mal getan hat.
Vossenkuhl: Also, ich finde, Herr Hörisch hat völlig recht. Der Bundespräsident hat sich tatsächlich auf die Ebene der "Bild"-Zeitung begeben. Aber ich würde einfach mal die Frage stellen wollen: Warum eigentlich? Offensichtlich doch deswegen, weil er glaubte, dass der Chefredakteur der "Bild"-Zeitung ein Freund von ihm ist. Und ich nehme an, dass diese Art von Freundschaftsbruch, der zunächst einmal von der "Bild"-Zeitung ausgeht oder vom Chefredakteur, den Bundespräsidenten persönlich – also nicht als Bundespräsident, sondern als Person – sehr empört hat. Und auch da haben wir wieder einen Affekt. Die Empörung hat zu dieser unseligen Geschichte geführt, dass er auf die Mailbox gesprochen hat, was ja wirklich … Wenn man sagt, töricht, sagt man etwas Sanftes, also, es ist einfach nicht besonders klug, so etwas zu machen. Aber jedenfalls, er hat emotional reagiert. Aber das ist eine Ebene von Freund zu Freund, die aus der Sicht von Herrn Wulff gebrochen worden ist, und deswegen hat er so reagiert. Aber natürlich, Herr Hörisch hat Recht.
Meyer: Da höre ich jetzt sehr viel Verständnis bei Ihnen heraus für den empörten Freund Christian Wulff. Aber muss man an einen Bundespräsidenten nicht auch die Erwartung haben, dass er sich auch Freunden gegenüber, wenn sie eine professionelle Rolle haben gegenüber seiner Profession des Bundespräsidenten, dass er sich da auch professionell verhält und eben nicht als Freund?
Vossenkuhl: Natürlich, natürlich, das muss man schon erwarten können, das hat er aber nicht gemacht. Also, ich glaube, dass man eine durchgehende Linie feststellen kann in diesem ganzen merkwürdigen Geschäft, das wir nun schon seit längerer Zeit mit erleben: Es fehlt dem Bundespräsidenten ganz offensichtlich, auch, was das eigene Gewissen angeht, an dieser von Kant so schön genannten sich selbst richtenden Urteilskraft. Und das ist, glaube ich, auf allen Ebenen bei ihm festzustellen. Er hat einfach, weder was den Anruf beim "Bild"-Chefredakteur angeht, noch davor, was den Umgang mit diesem Kredit angeht, genügend moralische, aber auch faktische Urteilskraft an den Tag gelegt. Und das berechtigt uns natürlich erst mal zu dem, was Sie gut beschrieben haben, einem gewissen Zweifel an seiner Wahrhaftigkeit, an seiner Glaubwürdigkeit. Und damit ist natürlich die Person, die Persönlichkeit und damit auch das Amt beschädigt. Das muss man einfach feststellen.
Meyer: Wenn Sie jetzt sagen, Christian Wulff fehlt diese moralische Urteilskraft im Blick auf die eigenen Angelegenheiten, würden Sie dann sagen, er ist dann überhaupt geeignet für dieses Amt?
Vossenkuhl: So weit kann ich nicht gehen. Ich meine, jeder Mensch hat mal Verfehlungen begangen und muss deswegen nicht auf alle Zeit als untugendhaft oder amoralisch charakterisiert werden. Das sollte man nicht machen. Aber es ist doch die Frage, ob jemand in einem solchen Amt richtig ist, der das nicht hat, was Sie gerade eben Professionalität nannten, also die Art von Distanz auch zu sich selbst, die man braucht, um sein Amt gut zu führen. Wenn jemand diese Distanz zu sich selbst als Person nicht hat, dann kann man vielleicht etwas genereller sagen, na ja, vielleicht ist diese Person dann doch nicht geeignet für diese wirklich anspruchsvolle Tätigkeit.
Meyer: Es ist auch ein Argument in der Debatte aufgetaucht oder eine Beobachtung, Josef Joffe von der "Zeit" hat die aufgebracht: Die politische Moral sei gnadenloser geworden in unserer Gegenwart, also, wenn man 20, 30 Jahre zurückschaut, wo es diverse Amigo- und Spezlnaffären gab und wo man eher darüber hinweggegangen ist. Ist Christian Wulff insofern auch Opfer einer Zuspitzung der politischen Moral geworden?
Vossenkuhl: Das kann man sicherlich so sehen. Aber ich glaube, dass die Gnadenlosigkeit eigentlich nicht der Punkt ist, sondern die Frage ist: Wir haben in der Öffentlichkeit eine zunehmende Veränderung in der kritischen Beurteilung der eigenen Rolle als Fragende oder Kritisierende. Es gibt ja einen großen Unterschied, ob man jemanden tadeln darf oder ob man sich empören darf. Wer einen anderen tadelt, geht davon aus, dass er in der höheren moralischen Position ist. Ganz offensichtlich ist das aber die Presse nun wirklich nicht in diesem Fall, Sie haben das ja auch schon ganz schön beschrieben. Aber dann ist die Frage: Ja, darf sich denn die Presse dann empören? Empören darf sich eigentlich – oder tut sich im Wesentlichen – immer der Machtlose, derjenige, der gar keine Macht hat. Und das ist das eigentlich Merkwürdige: Die Presse hat mindestens so viel öffentliche Macht wie der Bundespräsident und tut so, als sei sie die Machtlose, und empört sich über ihn. Also, wir haben hier auf beiden Seiten einen großen Makel. Es ist also weniger die Gnadenlosigkeit, sondern die Blindheit gegenüber dem eigenen Makel. Und diese Blindheit hat sowohl auf Seiten des Bundespräsidenten geherrscht wie auch jetzt auf Seiten der Presse. Beide sind ihren eigenen Selbstansprüchen gegenüber wirklich blind geworden.
Meyer: Im Bezug auf die Presse kann ich Ihnen da noch nicht folgen. Man kann doch genau so gut sagen, die Presse erfüllt einfach ihre Aufgabe, nämlich auf die Verfehlung eben der Mächtigen hinzusehen und die offenzulegen?
Vossenkuhl: Das stimmt, natürlich. Aber wie weit geht diese Pflicht? Geht diese Pflicht nicht doch nur, so weit man überhaupt einen Fakt, eine Tatsache dingfest machen kann, die man auch tatsächlich vielleicht sogar juristisch bearbeiten kann? Ist die Pflicht, Fehlverhalten nachzuweisen, grenzenlos? Das, was ich eben beschrieben habe, ist, glaube ich, genau mit dieser Frage verbunden: Wenn ich davon ausgehe, dass ich als Journalist oder Journalistin eine grenzenlose Verpflichtung habe, jemandem etwas nachzuweisen, dem ich gerne etwas nachweisen würde, dann wäre das wirklich die Moral auf den Kopf gestellt. Nein, ich habe doch die Verpflichtung mich daran zu halten, was Tatsache ist, was wahr ist. Sonst ist meine eigene Wahrhaftigkeit ja nicht gesichert.
Meyer: Die Moral und die Debatte um Bundespräsident Christian Wulff haben wir uns angeschaut auf beiden Seiten, bei den Medien, beim Bundespräsidenten mit Wilhelm Vossenkuhl, Professor für Philosophie an der Universität München. Herr Vossenkuhl, ganz herzlichen Dank für das Gespräch!
Vossenkuhl: Bitte schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.