Eine Produktion von Deutschlandfunk/Deutschlandfunk Kultur 2022, das Skript zur Sendung finden Sie hier.
Wunderkinder
Wolfgang Amadeus Mozart, Spross einer Musikerfamilie, gilt als Prototyp eines Wunderkindes. © Getty Images / istock / suteishi
Glanz und Elend von Hochbegabten
Wunderkinder haben schon immer fasziniert. Mozart gilt als erstes Rollenmodel. Aber Überflieger gibt es in vielen Sparten: Mathematik, Schach, Tennis und bildende Kunst, sie leben zwischen Weltruhm, Glück und Depression.
Laetitia Hahn hat mit zwei Jahren angefangen, Klavier zu spielen, mit vier wurde sie eingeschult, mit acht gab sie ihr erstes Solokonzert. Nebenbei übersprang sie mehrere Schulklassen, gewann Musikwettbewerbe, und ist heute – mit 18 – weltweit unterwegs. Manchmal zusammen mit ihrem Bruder, dem 12-jährigen Philip, auch er ein hochbegabter junger Pianist.
Eine außergewöhnliche Familie: Die Eltern Annette und Christian Hahn – sie Philosophiedozentin, er Anlageberater – haben ihren Beruf aufgegeben und sich ganz in den Dienst ihrer beiden Kinder gestellt. Und die scheinen glücklich mit ihrem Leben.
Aber nicht immer läuft es so gut, die Musikgeschichte ist voll von traurigen Beispielen sogenannter „Wunderkinder“, die Kindheitswunder nicht erleben durften. Viele haben vor allem Drill und Druck erfahren, etwa die japanische Geigerin Midori, die in den 80er-Jahren unter dem harten Regime ihrer Mutter ein Kinderstar geworden war.
Doch mit 20 wurde sie beherrscht von Albträumen, und kämpfte jahrelang gegen Depressionen und Magersucht. Auch der mit 13 Jahren als Stargeiger gefeierte Amerikaner Saul Chandler erlebte die Kehrseite des frühen Ruhms. Mit 16 erlitt er einen Nervenzusammenbruch.
"Wenn ich Musik vergessen könnte, würde ich das tun", so der heute 73-Jährige. "Sie haben einen dressierten Affen aus mir gemacht." Chandler konnte die Musik vergessen. Er lebt heute als Bootsbauer in Miami Beach. Oder der chinesische Starpianist Lang Lang. Sein Vater kontrollierte alles. Sorgte dafür, dass der Kleine um fünf Uhr früh aufstand und sich ans Klavier setzte. Dass er funktionierte und nicht widersprach.
Zwischen IQ und Schweiß
Was ist eigentlich so faszinierend an jungen Genies? Und – ist nicht jedes Kind hochbegabt, wie oft behauptet wird? Nein, sagen Wissenschaftler; sie orientieren sich am Intelligenzquotienten, der mindestens 130 betragen muss, damit ein Mensch als hochbegabt gilt. Das ist lediglich bei etwa 2 Prozent der Gesamtbevölkerung in Deutschland der Fall. Otto Normalverbraucher hat einen IQ von circa 100. Wobei es nicht etwa ein spezielles Intelligenzgen gibt, wie der Intelligenzforscher Aljoscha Neubauer betont:
„Ein Orchester von Genen bestimmt maßgeblich unsere geistigen Fähigkeiten. Die Gene legen unser Intelligenzpotenzial fest. In welchem Ausmaß es zum Tragen kommt, entscheidet die Umwelt. Hier ist die Analogie zur Pflanzenwelt hilfreich: Aus einem Gänseblümchensamen entwickelt sich auch bei bester Pflege keine Rose. Aber damit Gänseblümchen und Rose ordentlich wachsen und ihre Pracht entfalten können, brauchen sie Sonne und müssen gegossen werden.“
Auf den Menschen bezogen heißt das: Unser jeweiliges Potenzial, das wir mitbringen, wird erst dann wirksam, wenn es gefördert wird. Und gefordert. Nur Übung macht den Meister. Oder, wie es der berühmte amerikanische Erfinder Thomas Alva Edison formulierte: Genie ist 1 Prozent Inspiration und 99 Prozent Transpiration.
Die geeignete Förderung
Obwohl Deutschland als das Land der Dichter und Denker gilt, war Hochbegabtenförderung lange Zeit negativ besetzt. Die Gründe hierfür liegen in der Vergangenheit: Die Bemühungen der Nationalsozialisten, den arischen Übermenschen zu züchten, diskreditierten lange Zeit jedweden Elitegedanken. Erst die 68er-Bewegung erhob Chancengleichheit und Bildung für alle zum Ideal.
Medien berichteten nun häufiger über hochbegabte Kinder, es gab vermehrt wissenschaftliche Untersuchungen, und 1978 wurde die Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind gegründet. Konkrete Förderung im Schulalltag erhielten trotz alledem eher die Schwächeren, vor allem nachdem die erste Pisa-Studie 2001 gezeigt hatte, dass der Bildungserfolg hierzulande extrem abhängig ist von der sozialen Herkunft.
Die sich anschließende Dauerdebatte über die Lernschwachen vernebelte lange Jahre den Blick auf die Bedürfnisse der starken Schüler. Inzwischen weiß man: Beide müssen gefördert werden, und zwar möglichst früh.
Heute gibt es Schulen für Hochbegabte
Heute gibt es spezielle Exzellenzkurse, ja sogar eigene Schulen für junge Hochbegabte. Maximilian Janisch konnte davon profitieren. Der heute 19-jährige Schweizer gilt als Mathematikwunder, als kleiner Einstein erregte er bereits im Alter von neun Jahren landesweite Aufmerksamkeit. Während andere Kinder „Mensch ärgere Dich nicht“ spielten, interessierte er sich für Sonnensysteme.
Mit zehn schrieb er – zusammen mit seinem Vater, einem Mathematikprofessor – seine Autobiografie, in der er beklagte, das Schulsystem sei nicht flexibel genug. Maximilian – ausgestattet mit einem IQ von 149 - übersprang mehrere Klassen, und plädierte für die Öffnung der Hochschulen für jugendliche Talente. Tatsächlich entwickelte die Universität Zürich daraufhin ein – auf ihn zugeschnittenes – Förderprogramm.
Viele Hochbegabte haben neben einem starken Interesse an Mathematik und Naturwissenschaften auch ein Faible für Schach. Trotzdem blieb Schach in der öffentlichen Wahrnehmung lange Zeit ein – eher männerdominiertes – Randgebiet. Das änderte sich jedoch 2020, als die Netflix-Serie "Damengambit" über Aufstieg und Fall einer jungen Schachspielerin Millionen Menschen faszinierte.
Seitdem gibt es offenbar weltweit einen regelrechten Schach-Boom. Die ungarische Schachlegende Judit Polgar wird das freuen. Im Vergleich zur Filmheldin ist ihre Geschichte echt: Judit Polgar und ihre beiden Schwestern wurden in den 80er-Jahren als Schachgenies international bekannt.
Überflieger weltweit
Shafay Thobani aus Pakistan wurde mit acht Jahren als „digitales Wunderkind“ gefeiert. Ärzte stellten fest, dass im Gehirn des kleinen Hightechspezialisten eine bestimmte Region – von der Wissenschaftler annehmen, dass sie für Mathematik und Logik verantwortlich ist – fünf bis sechs Mal stärker durchblutet war als bei normalen Leuten.
Auch in Mexiko ließ ein Sechsjähriger die Fachwelt staunen: Maximiliáno Arrelano hielt vor Medizinstudenten einen 40-minütigen Vortrag über Osteoporose, natürlich in freier Rede und mit dem Vokabular eines Experten. Er sei gar nicht außergewöhnlich begabt, sagt Maximiliano, er habe nur ein gutes Gedächtnis und lerne eben gern.
Und der 14-jährige Jack Andráka aus den USA entwickelte einen Früherkennungstest für Bauchspeicheldrüsenkrebs, der angeblich "90 Prozent zuverlässiger und 168 Mal schneller" war als herkömmliche Verfahren.
Er schrieb ein detailliertes Exposé samt Budget und Zeitplan, und verschickte es an 200 Medizinprofessoren mit der Bitte, seine Idee testen zu dürfen. 199 lehnten ab. Ein einziger lud Jack zu einem Gespräch ein und ließ ihn später in seinem Labor arbeiten. Nach sieben Monaten hatte Jack einen Prototyp entwickelt, gewann einen Wissenschaftspreis dafür, und wurde von Michelle Obama im Weißen Haus empfangen.
Vergessene Genies
„Egal, wie brillant, versiert oder berühmt eine Person zu Lebzeiten war – die Welt hat so ihre Art, einige der größten Genies in Vergessenheit geraten zu lassen“, bilanziert die amerikanische Wissenschaftsjournalistin Erin Blakemore. „Zahllose außergewöhnliche Geister wurden aufgrund ihrer Rasse, Klasse oder ihres Geschlechts kleingeredet oder ignoriert.“
Etwa Benjamin Bradley, der im 19. Jahrhundert den ersten Dampfmotor entwickelte, der genügend Energie erzeugte, um ein Kriegsschiff anzutreiben. Da er seine Erfindung aber nicht patentieren lassen konnte, ist er heute praktisch unbekannt. Bradley war ein Sklave – all seine physische und geistige Arbeit gehörte rechtlich seinen Besitzern. Auch wenn Bradley die Profite aus seiner Maschine genutzt zu haben schien, um sich freizukaufen, wurde sie nie patentiert. Heute erinnert man sich kaum mehr an ihn.
Oder Esther Lederberg: Sie hätte als die Mutter der Mikrobiologie bekannt werden können, wäre da nicht ihr Mann Joshua gewesen. Esthers Leistungen waren genauso beeindruckend wie die seinen: Sie entdeckte unter anderem Lambda Phage, ein Virus, der in der Gentechnik bis heute große Bedeutung hat.
Zu jener Zeit arbeiteten Frauen jedoch oft als nicht weiter genannte Mitglieder in den Teams ihrer Ehemänner. Jahrelang blieb die wegweisende Forschung von Esther ein Geheimnis für all jene, die nichts über die bescheidene Person hinter dem charismatischen Mann wussten. Der Nobelpreis, den Joshua Lederberg 1958 erhielt, war allein ihm gewidmet.
Wunderkinder in der Bildenden Kunst
Aelita Andre, ein Mädchen aus Australien, wurde mit vier Jahren ins internationale Rampenlicht katapultiert, damals hatte sie ihre erste Einzelausstellung in New York, abstrakte, farbenfrohe Bilder, die sich zu Preisen von bis zu 50.000 USD verkauften.
Inzwischen war sie in verschiedenen Museen und sogar auf der Art Basel Miami präsent und ist zum wichtigsten kreativen Projekt ihrer Eltern geworden. 2009 kam der damals siebenjährige Engländer Kieron Williamson mit Landschaftsbildern auf den Markt; bald standen die Sammler Schlange; der "Mini-Monet", wie ihn die Medien nennen, ist heute Millionär. Ist das alles Kunst oder nur gelungener Kommerz?
Kunsthistoriker blicken ziemlich reserviert auf diese scheinbar frühen Talente. Und vor allem auf den damit verbundenen Medienhype: Als „neuer Picasso“ wird der junge deutsche Maler Leon Löwentraut in der Boulevardpresse gefeiert. Löwentrauts Bilder erzielen inzwischen Preise bis zu 100.000 Euro.
Er ist Shootingstar und Medienprofi: Bei seiner letzten Vernissage in Palma ist er in einer Kutsche vorgefahren, im bunten Designermantel; auf Ibiza kam er sogar mit einem schneeweißen Hubschrauber angeflogen; dazu dann roter Teppich, DJ, und was es für eine große Show eben so braucht.
"Kunst ist, womit der Künstler durchkommt", hat Andy Warhol, der Erfinder der Pop-Art einst gesagt. Auch Löwentrauts Bilder haben etwas von Pop-Art: Acrylfarben, direkt aus der Tube auf große Leinwand gedrückt, Kringel und Linien, Anklänge an Gesichter, viel Gold, viel Weiß, viel Pink. „Seine Werke sehen so aus, wie sich die breite Masse moderne Kunst vorstellt“, lästern die Feuilletons und belächeln den jungen Mann.
Sein Erfolg sei vor allem das Ergebnis einer ehrgeizigen Inszenierung, der ideale Star für eine Zeit, in der es reiche, berühmt zu sein, egal wofür. Mit Hochbegabung im engeren Sinne hat das nichts zu tun, aber wie wichtig das Talent zum Marketing ist, hat ja auch schon die Karriere von Mozart gezeigt.