Wunderwerk Körper
Poetisch, humorvoll, detailliert – so betrachtet der Italiener Tiziano Scarpa den menschlichen Körper. Er lässt nichts aus, vom Kopf bis zur Sohle. Der wilde Scarpa zeigt sich mit "Körper" von seiner sanften Seite und eröffnet dem Leser einen neuen Blick auf sich selbst.
Jeder Mensch hat durchschnittlich 100.000 Haare, die am Tag einen halben Millimeter wachsen. Wenn wir uns mit unserem Haarwachstum alle zusammenschließen würden, alle sechs Milliarden Menschen, dann wären wir nach drei Minuten Wachstum auf dem Mond und in drei Wochen auf Proxima Centauri. Wir würden eine hauchdünne Brücke über die Galaxis spannen.
Solchen Überlegungen gibt sich Tiziano Scarpa in seinem Körper-Buch hin. In 50 Miniaturen erkundet er seinen Körper. Pickel, Schwanz und Loch, Muskel, Sehnen und Nerven, er lässt nichts aus. Der Trick bei dieser Körperbetrachtung: Scarpa lässt die Teile seines Körpers zu etwas Fremdem werden, die Haare zu einer Brücke in eine ferne Galaxie, die Achseln zu Nussknackern, die Lider zu Guillotinen, die den Kopf vom Licht abtrennen.
Seine Hoden sieht er als Augen, als klingelnde Schellen, als Schmetterlingspuppen. Seine Arme verwandelt er in Schwänze, in Peitschen, Schlangen, Äste, Aale und Rotorblätter. Die staunende Fremdheit gegenüber dem eigenen Körper macht den Charme dieses Buches aus. Mit Scarpa sitzt man da, schaut seine Hände an und denkt: tatsächlich, "zwei Tiere, die meinem Körper aufgepflanzt wurden".
Überhaupt die Hände. Sie sind der interessanteste Teil des Körpers von Tiziano Scarpa, zumindest seines beschriebenen Körpers. Er denkt über das Eigenleben seiner Hände nach, darüber, wie seine Hände mit ihren Gesten seine Worte Lügen strafen. Er beschreibt die Feindschaft zwischen seiner linken und seiner rechten Hand. Damit die beiden wilden Bestien sich nicht wehtun, muss er sie trickreich auseinandersperren.
Seine Linke trifft mit absoluter Präzision einen Ton auf den Saiten eines Cellos, wenn sie aber seinen Namen schreiben soll, bringt sie nur ein schlampiges Gekritzel zustande. Wie kommt dieser Gegensatz in seine Linke? Den schönsten Kontrast findet Scarpa im Gebet. Seine Hände verrichten die schmutzigsten Arbeiten an seinem Körper, die Pickel ausdrücken, den Hintern abwischen, die Popel aus der Nase holen. Wenn er betet und die Hände faltet, bietet er Gott genau diese Hände dar.
Solche Gegensätze aus Drastik und Poesie haben es Scarpa angetan. Die Zunge ist für ihn ein rohes Steak, das er sich in den Mund gestopft hat, aber auch eine Träumerin, die im Schlaf von noch nie gesprochenen Lauten fantasiert. Seine Finger sind zehn nutzlose, unverdaute Würstel, aber auch Kirchtürme, die um den Handflächenplatz emporragen.
Zum Drastischen und Poetischen kommt das Komische, das Scarpa an vielen Ecken seines Körpers entdeckt. Vor der Erfindung des Knies sind wir, überlegt er sich, auf Beinen wie Stelzen gegangen. Beim Losgehen sprangen wir damit weit in die Höhe, beim Nachhausekommen stiegen wir wieder tief hinab.
Tiziano Scarpa hat einen Ruf als Enfant Terrible der italienischen Literatur zu verteidigen. Diesen Ruf hat er sich mit raffiniert geschmacklosen Erzählungen, vor allem mit dem Band "Amore" erworben. Der wilde Scarpa zeigt sich in seinem Körper-Buch nun von seiner eher sanften Seite. "Ein Buch für zwischendurch" nennt der Verlag den Band in einer für Buchanbieter seltenen Bescheidenheit. "Ein Buch für zwischendurch", das stimmt, weil man Scarpas Miniaturen in homöopathischen Dosierungen zu sich nehmen sollte, um seine seltsamen Assoziationen gründlich durchzukosten.
"Ein Buch für zwischendurch" passt nicht, wenn man es als Werturteil nimmt. Scarpas Buch macht einem das robuste und zerbrechliche, das vitale und todesnahe Wunderwerk des eigenen Körpers so bewusst, dass man danach anders in sich hineinhorcht. Welches Buch schafft das schon?
Tiziano Scarpa: Körper
Aus dem Italienischen von Olaf Roth
Wagenbach Verlag
160 Seiten; 17,50 Euro
Solchen Überlegungen gibt sich Tiziano Scarpa in seinem Körper-Buch hin. In 50 Miniaturen erkundet er seinen Körper. Pickel, Schwanz und Loch, Muskel, Sehnen und Nerven, er lässt nichts aus. Der Trick bei dieser Körperbetrachtung: Scarpa lässt die Teile seines Körpers zu etwas Fremdem werden, die Haare zu einer Brücke in eine ferne Galaxie, die Achseln zu Nussknackern, die Lider zu Guillotinen, die den Kopf vom Licht abtrennen.
Seine Hoden sieht er als Augen, als klingelnde Schellen, als Schmetterlingspuppen. Seine Arme verwandelt er in Schwänze, in Peitschen, Schlangen, Äste, Aale und Rotorblätter. Die staunende Fremdheit gegenüber dem eigenen Körper macht den Charme dieses Buches aus. Mit Scarpa sitzt man da, schaut seine Hände an und denkt: tatsächlich, "zwei Tiere, die meinem Körper aufgepflanzt wurden".
Überhaupt die Hände. Sie sind der interessanteste Teil des Körpers von Tiziano Scarpa, zumindest seines beschriebenen Körpers. Er denkt über das Eigenleben seiner Hände nach, darüber, wie seine Hände mit ihren Gesten seine Worte Lügen strafen. Er beschreibt die Feindschaft zwischen seiner linken und seiner rechten Hand. Damit die beiden wilden Bestien sich nicht wehtun, muss er sie trickreich auseinandersperren.
Seine Linke trifft mit absoluter Präzision einen Ton auf den Saiten eines Cellos, wenn sie aber seinen Namen schreiben soll, bringt sie nur ein schlampiges Gekritzel zustande. Wie kommt dieser Gegensatz in seine Linke? Den schönsten Kontrast findet Scarpa im Gebet. Seine Hände verrichten die schmutzigsten Arbeiten an seinem Körper, die Pickel ausdrücken, den Hintern abwischen, die Popel aus der Nase holen. Wenn er betet und die Hände faltet, bietet er Gott genau diese Hände dar.
Solche Gegensätze aus Drastik und Poesie haben es Scarpa angetan. Die Zunge ist für ihn ein rohes Steak, das er sich in den Mund gestopft hat, aber auch eine Träumerin, die im Schlaf von noch nie gesprochenen Lauten fantasiert. Seine Finger sind zehn nutzlose, unverdaute Würstel, aber auch Kirchtürme, die um den Handflächenplatz emporragen.
Zum Drastischen und Poetischen kommt das Komische, das Scarpa an vielen Ecken seines Körpers entdeckt. Vor der Erfindung des Knies sind wir, überlegt er sich, auf Beinen wie Stelzen gegangen. Beim Losgehen sprangen wir damit weit in die Höhe, beim Nachhausekommen stiegen wir wieder tief hinab.
Tiziano Scarpa hat einen Ruf als Enfant Terrible der italienischen Literatur zu verteidigen. Diesen Ruf hat er sich mit raffiniert geschmacklosen Erzählungen, vor allem mit dem Band "Amore" erworben. Der wilde Scarpa zeigt sich in seinem Körper-Buch nun von seiner eher sanften Seite. "Ein Buch für zwischendurch" nennt der Verlag den Band in einer für Buchanbieter seltenen Bescheidenheit. "Ein Buch für zwischendurch", das stimmt, weil man Scarpas Miniaturen in homöopathischen Dosierungen zu sich nehmen sollte, um seine seltsamen Assoziationen gründlich durchzukosten.
"Ein Buch für zwischendurch" passt nicht, wenn man es als Werturteil nimmt. Scarpas Buch macht einem das robuste und zerbrechliche, das vitale und todesnahe Wunderwerk des eigenen Körpers so bewusst, dass man danach anders in sich hineinhorcht. Welches Buch schafft das schon?
Tiziano Scarpa: Körper
Aus dem Italienischen von Olaf Roth
Wagenbach Verlag
160 Seiten; 17,50 Euro