Die Schwestern sagen: Steh jeden Morgen auf wie am Morgen zuvor, iss, trink deinen Kaffee, steig auf dein Fahrrad. Du wirst mit jeder Wiederholung besser werden. Dann wirst du keine Angst mehr davor haben, dass dir etwas zu nahegeht.
Yael Inokai: „Ein simpler Eingriff“
© Hanser Literaturverlage
Heilung auf Kosten des Menschen
05:21 Minuten
Yael Inokai
Ein simpler EingriffHanser Berlin, Berlin 2022192 Seiten
22,00 Euro
Stimmungsschwankungen, Wutausbrüche oder psychische Probleme – von all dem sollen Patientinnen durch einen simplen Eingriff geheilt werden. Krankenschwester Meret assistiert zunächst enthusiastisch bei der Operation. Doch dann kommen ihr Zweifel.
Voller Stolz trägt die junge Krankenschwester Meret ihre Uniform in einem Krankenhaus in einer Kleinstadt in der Nachkriegszeit. Sie ist gut in dem, was sie macht, sogar die rechte Hand ihres Chefarztes.
Mit einem simplen Eingriff am Gehirn behandeln sie Menschen, deren Verhalten nicht der gesellschaftlichen Norm entspricht, die an Stimmungsschwankungen, Wutanfällen, psychischen Erkrankungen leiden. „Einschläfern wie ein krankes Tier“, heißt es an einer Stelle über die neuartige Behandlung, in der die betroffenen Synapsen abgeklemmt werden und das „Kranke“ stillgelegt wird.
Ein Kleid als Tochter-Uniform
Dank ihrer Empathie und ihres Mitgefühls ist Meret vor allem für die Patienten da. Sie glaubt an das Versprechen des Doktors, den Menschen auf ihrer Station zu helfen, auch wenn es bedeutet, dass durch die Operation ein Teil von ihnen für immer verschwindet.
Merets Tage sehen nahezu alle gleich aus: Morgens steht sie früh auf, frühstückt, auch wenn sie noch keinen Hunger hat und abends fällt sie in ihr Bett im Schwesternwohnheim. Wenn es ihre Zeit erlaubt, fährt sie ihre Eltern besuchen. Für diesen Anlass hat sie eine andere Uniform, ein Kleid, das sie in die Rolle der Tochter schlüpfen lässt.
Meret braucht diese klaren Zuordnungen – Strukturen und Menschen, denen sie sich unterordnen kann. Sie kennt es auch nicht anders: Zuhause waren sie, ihre Mutter und die Geschwister den gewalttätigen Wutausbrüchen des Vaters ausgeliefert, ihn nicht zu reizen war oberstes Gebot. Aufkommende Zweifel an ihm unterdrückt sie weitestgehend, ähnlich macht sie es mit dem anstrengenden Krankenhausalltag, der an ihr auch seelisch nagt.
Mit einer neuen Patientin fängt Merets Lebens an, sich zu ändern. Die junge Marianne Ellerbach aus einer wohlhabenden und bekannten Familie glaubt, dass durch den Eingriff nicht nur ihre Wut, sondern auch sie selbst verschwindet. Als ihre OP schiefläuft, versucht ihre Familie sie aus dem öffentlichen Bewusstsein zu löschen – zu groß ist die Scham über die bettlägerige Tochter. Meret lässt erste Zweifel zu.
Bringt die Liebe Rettung?
Und dann tritt auch noch Sarah in ihr Leben, Merets neue Zimmernachbarin. Die beiden verlieben sich ineinander, werden ein Paar. Auch Sarah steht den Eingriffen kritisch gegenüber. Sie macht Meret deutlich, dass ihre Gefühle füreinander ebenfalls als nicht normal eingestuft werden würden.
So konkret Yael Inokai in ihrer feinen, pointierten Sprache die Kämpfe und die Nähe ihrer Figuren schildert, so unkonkret bleibt sie, was das Drumherum betrifft – die kleine Stadt ist namenlos, in welchem Jahr genau die Geschichte spielt, bleibt ebenso unklar. Diese Mischung macht den literarischen Reiz mit aus, verdichtet das Kammerspielartige, das das Krankenhaus als abgeschlossener Kosmos mit eigenen Regeln bereits in sich trägt.
Die drei Hauptfiguren Meret, Sarah und Marianne – nach denen auch die drei Teile des Buches benannt sind – eint, dass sie mehr oder weniger auf sich selbst gestellt sind, es gibt kaum ein Außen, das sie auffängt. Für ihre Überzeugungen und Wünsche in ihrem Leben müssen sie selber einstehen, sich und einander vertrauen. Fern oder befremdlich wirkt ihre Welt nicht, sie findet sich in hochaktuellen Debatten um Machtstrukturen, Emanzipation und Aufbegehren gegen gesellschaftliche Konventionen wieder.