Yakov M. Rabkin: "Im Namen der Thora. Die jüdische Opposition gegen den Zionismus"
Aus der aktualisierten hebräischen Ausgabe übersetzt von Abraham Melzer
Westend Verlag Fiftyfifty, Frankfurt am Main 2020
463 Seiten, 24 Euro
Ultraorthodoxe Juden gegen den Staat Israel
06:21 Minuten
Der jüdische Antizionismus ist so alt wie der Zionismus selbst, schreibt der kanadische Historiker Yakov Rabkin. Sein Buch über eine strenggläubige jüdische Opposition fügt auch dem aktuellen Antisemitismus-Streit in Deutschland wichtige Facetten hinzu.
60 Intellektuelle haben sich in dieser Woche mit einem offenen Brief an die Bundeskanzlerin gewandt. Sie beklagen in Deutschland unter anderem einen "sachlich unbegründeten und gesetzlich unfundierten Gebrauch des Antisemitismus-Begriffs, der auf die Unterdrückung legitimer Kritik an der israelischen Regierungspolitik zielt". Kritik an Israel, Kritik am Zionismus – ist das Antisemitismus? Um der Diskussion noch eine weitere Farbe hinzuzufügen, hat der kanadische Historiker Yakov M. Rabkin ein Buch geschrieben: "Im Namen der Thora. Die jüdische Opposition gegen den Zionismus".
2004 zum ersten Mal erschienen, ist das Buch mittlerweile in 14 Sprachen übersetzt. Auf über 400 Seiten zeichnet Rabkin, selbst religiöser Jude, die Entwicklung des Zionismus aus Sicht strenggläubiger Juden nach und erklärt deren Opposition gegenüber dem Projekt eines jüdischen Staates.
Zionismus und jüdischer Antizionismus: untrennbar verbunden
Der Zionismus, der sich Ende des 19. Jahrhunderts von Russland aus unter den osteuropäischen Juden und dann auch in Westeuropa entwickelte, war eine Revolution. Naturgemäß stieß diese auf Widerstand. In Deutschland verurteilte ihn der prominente und einflussreiche Rabbiner Samson Raphael Hirsch, später Intellektuelle wie Franz Rosenzweig oder Simon Dubnow, aber auch chassidische Gemeinden Osteuropas und sephardische Juden widersetzten sich vehement den Bestrebungen, Judentum in eine nationalstaatliche Form zu bringen. Rabkin macht deutlich: Jüdischer Antizionismus ist von Beginn an Teil der Geschichte des Zionismus, nicht von ihm zu trennen und bis heute Grund heftiger, auch handgreiflicher Auseinandersetzungen in Israel, wo vor allem die Charedim, die ultraorthodoxen Juden, dem Staat, seinen Institutionen und Gesetzen die Anerkennung verweigern.
Grund dafür ist die Treue zur Thora. Die Befreiung der Juden vom "Joch der Thora und ihrer Gebote", die der Zionismus versprach, wurde und wird von Strenggläubigen als Sünde angesehen. Ihr Argument: Bis zum Beginn der jüdischen Aufklärung habe die Treue zur "göttlichen Lehre" das Judentum zusammengehalten. Wer die Gebote der Thora befolgte, -war Jude, Angehöriger des auserwählten Volkes insofern, als dass er sich bereit erklärte, das "Joch der Thora", das Geschenk Gottes an das Volk Israel, bereitwillig zu tragen.
Wer sich, wie die Zionisten, anschickte, diesen Bund aufzulösen, die göttliche Erlösung durch die Errichtung eines Staates, durch menschliches Handeln, vorwegzunehmen, sein Schicksal selbst zu gestalten, statt es dem Schöpfer zu überlassen, brach mit jüdischer Kontinuität und veränderte das jüdische Selbstverständnis nachhaltig.
"Israel angehören" heißt für Strenggläubige, das Leben nach dem Bild und Gleichnis Gottes zu gestalten und nicht, Mitwirkender an einem säkularen Projekt wie der Gründung eines Nationalstaates und der Schaffung des "neuen Hebräers" zu sein. Das hat heute zur Folge, dass im Staat Israel Ultraorthodoxe den Wehrdienst verweigern, sogar staatliche Zuwendungen zurückweisen und in den Iran reisen, um ausgerechnet dort Israel das Recht zu bestreiten, das gesamte Judentum zu vertreten.
Gott oder Staat: Was sichert den Fortbestand des jüdischen Volkes?
Rabkin gliedert sein Buch in sieben Kapitel, die nicht chronologisch, sondern thematisch geordnet sind. Von der Entstehungsgeschichte des Zionismus bis zur öffentlichen Debatte dieser Tage vermittelt er Einsichten in Hintergründe der jüdischen Kritik am Staat Israel. Er dechiffriert Denkstrukturen, zeigt auf, welche Bedeutung die neue jüdische Identität nach der Staatsgründung gewinnt, welche Rolle die Sprache dabei spielt, welche Bedeutung dem Holocaust zukommt und inwieweit religiöse Mythen und Symbole zur Stabilisierung eines säkularen Staates herangezogen werden.
Dahinter steht die Frage: was sichert den Fortbestand des jüdischen Volkes? Für die einen ist es der feste Glaube an Gott und das Befolgen seiner Gebote, unabhängig von Ort und staatlicher Macht. Für andere ist es genau das Gegenteil: ethnischer Nationalismus, militärische Stärke.
Dieses Buch macht aber klar, dass auch antizionistische Juden, die von einer religiösen und projüdischen Position aus argumentieren, sich um die geistige und materielle Zukunft der Juden sorgen. Reich an Zitaten religiöser Denker und säkularer Publizisten und Wissenschaftler, an Kommentaren und gedanklichen Verknüpfungen, weitet Rabkins Buch den Blick auf Israel und den Zionismus. Es wird nicht den Gefallen jener finden, die ultraorthodoxe Juden für "Spinner" aus der Vergangenheit halten oder die in Israel den Alleinvertreter jüdischer Belange weltweit sehen. "Im Namen der Thora" ist ein gelehrtes, zum Nachdenken anregendes Buch, das schwarzweiße Klischees aufweicht.