Yasmina Reza: „Die Rückseite des Lebens“

Bittersüße Wahrheit hinter der Fassade

Cover des Buches „Die Rückseite des Lebens“ von Yasmina Reza
© Carl Hanser Verlag

Yasmina Reza

Die Rückseite des LebensHanser Verlag, München 2025

200 Seiten

24,00 Euro

Von Dirk Fuhrig |
Yasmina Reza interessiert sich für die finsteren Ecken der menschlichen Existenz. Sie erzählt von Menschen in existenziellen Ausnahme-Alltags-Situationen, sehr lustig und sehr tragisch.
„Wenn ich in Venedig bin, fotografiere ich Alte von hinten. Ich meine alte Paare.“ So eröffnet Yasmina Reza ihren Band mit vier Dutzend unterschiedlich kurzen Erzählungen über Menschen, die an einem einschneidenden Punkt ihres Lebens stehen.

„Ich habe solche Leute nirgends sonst gesehen. Nirgendwo auf der Welt habe ich solche langsamen, stummen, gedrungenen Gespanne gesehen. Ihre Schritte mischen sich in das Glucksen und Aneinanderschlagen der Boote. Ich kann mit Gewissheit sagen, dass sie schon immer dort gelebt haben. Sie schlurfen mit gesenkten Köpfen aneinandergeklebt durch die leeren Gassen, sie kennen die Gemäuer und Stufen, wissen, wo sie abbiegen und in einem Schatten verschwinden müssen. […] Wenn sie einmal gestorben sind, werden ihre prächtigen Kleider in ein Boot geworfen, auf einem Flohmarkt auf Bügeln feilgeboten oder geschreddert. Aber ich werde sie noch gesehen haben, die letzten Schatten in diesem Wasserlabyrinth.“

Eine Frage des Täschchens

Wie die exakte Beschreibung eines Renaissance-Gemäldes wirken die Worte, die Yasmina Reza aufs Papier tupft. Die Schriftstellerin ist berühmt für ihre Beobachtungsgabe und die Fähigkeit, Dinge scheinbar emotionslos und doch unfassbar eindringlich zu skizzieren. Noch einmal geht es gleich zu Anfang um das Altern. Bei einem Spaziergang in Berlin wird der Erzählerin – in diesem Fall ist es die Autorin selbst, die auch in den anderen Texten ab und an auftaucht  – schlagartig die körperliche Veränderung bei einem langjährigen Freund bewusst. „,Immerhin einundachtzig, Yasmina.’“ sagt der Kollege zu ihr.

„Auf einmal war es nicht mehr derselbe Spaziergang. Durch welchen üblen Streich war Rainer, den ich meiner Erinnerung nach als fast Gleichaltrigen kennengelernt hatte, mit seiner Kippe und seinem ledernen Männerhandtäschchen, plötzlich einundachtzig geworden, eine absurde, erschreckende Zahl. Genau das passiert Leuten, die weit weg voneinander wohnen. Sie altern im Verborgenen, und wenn sie sich ein- oder zweimal im Jahr sehen, machen sie sich schön und geben sich jung. Man sieht nichts kommen. Und macht es selbst genauso. Und ist deshalb nicht gefasst auf einen Schlag wie den im eisigen Wind an der Spree.“

Der tragische Kern bestimmter Lebensmomente

Dass sie hier das Markenzeichen des Freundes, ein ulkiges „Männerhandtäschchen“, erwähnt, fügt der Traurigkeit über den Verfall einen humoristischen Ton hinzu. Und so sind die meisten dieser hier versammelten brillanten literarischen Petitessen grundiert: Sie tauchen in einen bestimmten Moment des Lebens ein, schälen dessen tragischen Kern heraus –  und setzen eine lakonisch-augenzwinkernde Pointe.
Das kann bei der Schilderung eines Strafprozesses sein, in dem die Motive einer Gattenmörderin gewogen werden. Auch Verfahren gegen Personen des öffentlichen Lebens, wie das gegen Tariq Ramadan wegen Vergewaltigung und gegen Nicolas Sarkozy wegen Korruption, tauchen in dieser Sammlung von Gerichts- und Lebensprotokollen auf.

„Was mich betrifft, aber mir fehlt es sicherlich an Verlässlichkeit, fällt es mir schwer, in den Herren Azibert, Herzog und Sarkozy während dieses achttägigen Berufungsprozesses etwas anderes zu sehen als einen Pfau, einen Dampfplauderer und einen massiv Angstgestörten.“

Es geht aber auch um Alltagsexistenzen, um unbekannte Zeitgenossen. Etwa beim Räsonieren über das Schicksal eines jungen, als wunderschön beschriebenen, offensichtlich aus dem Nahen Osten stammenden Obdachlosen, der in der Pariser Winterkälte tagelang auf derselben Stelle verharrt. 

Die Fotografien von Diane Arbus

Und es können auch Menschen aus dem Freundeskreis der Autorin sein, die in den Blickpunkt der Erzählung geraten. Einer der Texte dreht sich um den Abschied vom Literaturnobelpreisträger Imre Kertész und von seiner Ehefrau Magda. Oder um Künstlerinnen, deren Leben und Werk Reza beeindruckt haben.

Diane Arbus, die sich 1971 mit achtundvierzig umgebracht hat. Sie hat einsame Wesen fotografiert – in leerem Zwielicht und fast immer reglos hindrapiert –, deren ganze Anstrengung dem Überleben gegolten hat. Überschminkte Verlassenheiten, mit den tausend Accessoires des Scheins versehen.“

So wie sie die Arbeitsweise dieser US-amerikanischen Fotografin beschreibt, so ähnlich geht Yasmina Reza in ihrer Literatur vor: Sie interessiert sich für „einsame Wesen“, für Menschen in ihrer ganz besonderen Eigenheit, Figuren, deren Gefühlsleben sich nicht in ein Raster einordnen lässt.
„Die Rückseite des Lebens“ sucht den Schatten jenseits der Fassade, die Wahrheit hinter der Vorderseite – dem Vordergründigen. Yasmina Reza dringt mit ihrer hochpoetischen, oft lakonischen, mitunter schonungslos direkten Prosa tief in die Tragik menschlicher Gefühle ein. Eine der letzten Geschichten ist der Bericht über eine Gerichtsverhandlung wegen eines fahrlässig herbeigeführten Bootsunglücks vor den Küsten Frankreichs. Mehrere Passagiere sind ertrunken.

Auf der Höhe ihrer Kunst

„Hier wird dem Leben der Prozess gemacht. Seiner Unvollkommenheit.“ So kommentiert Yasmina Reza. Das verzweifelte Schlussplädoyer des Kapitäns, der das Unglücksboot steuerte, wird zur Metapher für ihr Buch: „Der Vorsitzende Richter gestattet Philippe Capdeville, sich direkt an die Familien zu wenden, das heißt, den Richtern den Rücken zuzukehren.“
In dieser umwerfend tragischen, umwerfend bitter-komischen Sammlung höchst unterschiedlicher Alltagsskizzen zeigt sich die Schriftstellerin auf der absoluten Höhe ihrer literarischen Kunst.
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