Yasmina Reza: "Serge"

Unentschiedene Auschwitz-Komöde

06:43 Minuten
Das Cover von "Serge" zeigt den Autorinnennamen und den Buchtitel, darunter ein gemaltes Bild von einer Gruppe von Menschen an einem Essenstisch bei Kerzenschein.
© Hanser Verlag

Yasmina Reza

Übersetzt von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel

SergeHanser, München 2022

210 Seiten

22,00 Euro

Von Jörg Magenau |
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Warum erinnern? Was kann man davon tatsächlich erwarten? Die jüdische Dramatikerin Yasmina Reza lässt ihre Figuren das Gedenken an den Holocaust kritisieren. Doch ihre Positionen bleiben schlicht.
Auschwitz eignet sich nicht unbedingt als Gegenstand einer literarischen Komödie. Genau das allerdings versucht Yasmina Reza in ihrem neuen Roman „Serge“ über eine weitverzweigte jüdische Familie aus Paris, die nach dem Tod und dem Begräbnis der Mutter beschließt, nach Auschwitz zu reisen. Sie tun das, weil oder obwohl ihr Jüdischsein keine große Rolle mehr spielt und sie den Bezug zur eigenen Familiengeschichte verloren haben.

Jüdische Familie ähnelt Rezas eigener

Die Vorfahren der Mutter, ungarische Juden, wurden in Auschwitz ermordet. Die Mutter selbst scheint davon wenig beeindruckt gewesen zu sein und wollte in ihrem Leben vor allem eins: kein Opfer sein und nichts mehr mit der Opfergeschichte zu tun haben. Also schwieg sie über die Vergangenheit.
Der Vater – schon länger tot – war ein fanatischer Verteidiger Israels und bezeichnete die Mutter, die da weniger Leidenschaft entwickelte, als Antisemitin. So geht es zu in einer normalen jüdischen Familie, die der von Yasmina Reza selbst in einigen Details ähnelt.
Die drei Kinder, der Tunichtgut Serge, der in irgendwelche dubiosen Beratertätigkeiten verwickelt ist, der jüngere Bruder und Icherzähler Jean und die jüngste, etwas divenhafte Tochter Nana sind nicht nur in ihrem Jüdischsein undefiniert, sondern auch in ihren Berufen und Ansichten. Die Kontroversen ihrer Eltern betrachteten sie mit Befremden und haben daraus vor allem gelernt, ohne geschichtliche Verankerung auszukommen.

Temporeiche Dialoge über Liebe und Leid

Die Familienverhältnisse mit Ex-Freundinnen und -frauen, angeheirateten und leiblichen Kindern sind zunächst einigermaßen unübersichtlich, zumal die einzelnen Figuren blass bleiben. Sie dienen auch nicht dazu, die Handlung voranzutreiben oder das Thema zu schärfen, sondern dazu, eine bunte Folge von Szenen ablaufen zu lassen wie ein funkelndes, rasch verpuffendes Feuerwerk.
Jean schildert die innige Beziehung zu seinem ehemaligen Stiefsohn, der ein bisschen autistisch ist. Er gibt die hochkomische Trennungsszene wieder, in deren Verlauf Serge von seiner Freundin rausgeschmissen wird, weil er eine andere Liebschaft nebenbei unterhält.
Mit ihren temporeichen Dialogen zeigt Reza, die als Dramatikerin berühmt geworden ist, was sie handwerklich kann. Allerdings zu dem Preis, dass Jean sich unter der Hand in einen auktorialen Erzähler verwandelt, also eine allwissende Position einnimmt, die die Romankonstruktion gar nicht hergibt.

"Von der Erinnerung ist nichts zu erwarten"

In all diesem harmlosen, unterhaltsamen, ziellosen Geplänkel nimmt die Auschwitzreise als umfangreiches Mittelstück eine bedauerliche Rolle ein: Sie dient dazu, dem Roman einen Gegenstand zu geben und ihn damit auf ein anderes, ernsteres Niveau zu hieven.

Von der Erinnerung ist nichts zu erwarten. Dieser Fetischismus der Erinnerung ist bloßer Schein.

Aus "Serge" von Yasmina Reza

Serge und Jean stören sich nicht einfach bloß an der Gedankenlosigkeit der Besucher, die in Badekleidung durch die Gaskammer trampeln und Fotos machen. Reza legt ihnen eine weit darüber hinaus gehende Ablehnung der Gedenkkultur in den Mund, wenn sie ihren Jean sagen lässt:
„Vergesst nicht. Aber warum? Um es nicht wieder zu tun? Aber du wirst es wieder tun. Ein Wissen, das nicht zutiefst mit einem selbst verbunden ist, bleibt folgenlos. Von der Erinnerung ist nichts zu erwarten. Dieser Fetischismus der Erinnerung ist bloßer Schein.“

Kritik bleibt halbherzig

Dass Auschwitz sich nicht zu Gedenkroutinen aller Art eignet, hat Martin Walser bereits vor bald 24 Jahren in der Paulskirche gesagt und dafür ordentliche Prügel bezogen. Reza sagt nichts anderes, sie sagt es allerdings aus einer spezifisch jüdisch-säkularen Position. Ihre Kritik bleibt jedoch halbherzig, zumal sie nicht hinreichend zwischen Gedenkroutine und Erinnerung unterscheidet.
Es ist ein bisschen zu schlicht, das Gedenken als bloße Ausflucht und als Entschärfung des Gewissens abzulehnen. Die Alternative ist ja auch für Reza nicht das Vergessen oder die Gedankenlosigkeit. So hinterlässt dieser Roman in seiner Unentschiedenheit, die er mit all seinen Figuren teilt, einen äußerst unguten Geschmack.
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