Yehuda Bauer: Kein leeres Ritual

Yehuda Bauer im Gespräch mit Birgit Kolkmann |
Gedenktage sind nach Ansicht des ehemaligen Leiters der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem, Yehuda Bauer, für die Vergangenheitsbewältigung sinnvoll. Das heutige Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus sei kein leeres Ritual, sagte Bauer. Zugleich plädierte er dafür, die Beschäftigung mit dem Holocaust zu vertiefen.
Birgit Kolkmann: Es ist genau 30 Jahre her, seit in Deutschland die US-Fernsehserie "Holocaust" ausgestrahlt wurde. 19 Millionen Menschen haben sie damals gesehen, auch in der DDR gab es viele Zuschauer. Ich erinnere mich daran, sie damals als Studentin mit anderen Kommilitonen gesehen zu haben, vor Mini-Schwarzweißgeräten, und wir waren schockiert. Keine Schulstunde, keine Fernsehdokumentation und kein Buch über die Ausrottung der europäischen Juden hatten uns die Ungeheuerlichkeit dieses Verbrechens so nahe gebracht. Seit 13 Jahren wird der heutige Tag, der 27. Januar, Jahrestag der Befreiung des KZs Auschwitz-Birkenau, als offizieller Holocaust-Gedenktag begangen. Seit drei Jahren ist er auch international. - Der israelische Historiker Yehuda Bauer war Leiter der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Ihn begrüße ich jetzt in der "Ortszeit". Schönen guten Morgen!

Yehuda Bauer: Guten Morgen.

Kolkmann: Herr Bauer, erinnern Sie sich auch noch gut daran, was vor 30 Jahren diese Fernsehserie ausgelöst hat?

Bauer: Ja. Ich war damals in Köln. Ich war ein Mitglied dieser kleinen Gruppe von Historikern, die sich nach der Ausstrahlung dieses Films im Fernsehen damit befasst hat.

Kolkmann: Was hat diese Fernsehserie bewirkt? Warum konnte denn alles, was nicht dokumentarisch war, nicht solch eine Wirkung entfalten?

Bauer: Damals, sehen Sie, waren die Dokumente noch nicht so ausgiebig bekannt. Das war ziemlich neu, die ganze Geschichte. Und es war ein fürchterlicher Schock, denn das deutsche Publikum bis daher wollte das eigentlich unterdrücken, die ganze Sache. Ich glaube, es ist in den letzten paar Jahren dazu gekommen, dass man versteht, dass das ein präzedenzloser Vorfall war, der Versuch, ein ganzes Volk auszurotten, und zwar jeden einzelnen, jeden Menschen, der drei oder vier jüdische Großväter hatte. Die Sünde war, geboren zu werden. Das war die Straftat und die Sühne dafür war, getötet zu werden. Das heißt, die Schuld war, dass man geboren war. Das ist präzedenzlos, aber natürlich da der Holocaust eine Sache war, die von Menschen getan wurde, kann sich das wiederholen und in vielen Fällen, obwohl nicht parallel, aber ähnliche Sachen geschahen. Deswegen ist der Holocaust als die extremste Form des Genozids anerkannt worden von den Vereinten Nationen, auch darin, dass man versucht, darüber in der ganzen Welt Erziehungsformen zu finden, die sich damit befassen können.

Kolkmann: Nun sind ja auch seit der Fernsehserie schon wieder 30 Jahre vergangen. Mehrere Generationen sind herangewachsen und für sie alle ist wichtig, dass sie auch emotional davon berührt werden, um es wirklich verstehen zu können in der gesamten Dimension. Aber die Zeitzeugen sterben langsam aus. Was bedeutet das für die Erinnerungskultur?

Bauer: Natürlich wird das verschieden aufgefasst werden und behandelt werden müssen, aber es gibt Zehntausende von Zeugenaussagen, von Überlebenden und Zuschauern und so weiter, die sehr gut ausgenutzt werden können, auf Video. Deswegen ist das, als ob die Zeitzeugen da wären, und deswegen ist es durchaus möglich, die Erziehungsversuche weiterzuführen.

Kolkmann: Wie wichtig sind denn Gedenktage wie der heutige, wie sinnvoll? Ist das Ritual eines solchen Gedenktages nicht auch schon wieder ein Problem?

Bauer: Schauen Sie, solche Sachen sind immer Rituale. Das kann man nicht ändern. Aber ein Ritual kann Inhalt bekommen, kann so dargestellt werden, dass das nicht nur ein Ritual ist, sondern dass dahinter auch Gedanken sind und Emotionen, wie Sie sagen, und so weiter. Das hängt davon ab, wie man es anfasst. Ich habe 1998 im Bundestag versucht, die Sache zusammenzufassen und so darzustellen, dass es eigentlich eine Lehre ist – nicht nur für die Juden, die direkt betroffen sind, sondern für die ganze Menschheit -, und ich habe damals gesagt, dass zu den Zehn Geboten vielleicht drei weitere hinzugefügt werden sollten: Du sollst niemals ein Mörder sein, du sollst niemals ein Opfer sein, du sollst niemals ein Zuschauer sein, und das sind wir ja alle. Wir sind ja alle Zuschauer.

Kolkmann: Nun ist ein solcher Gedenktag auch wieder der Anlass für Antisemiten, ihrerseits zu demonstrieren, wie die in Berlin geplante und nun verbotene NPD-Demonstration "Stoppt den Holocaust in Gaza". Ist auch das wiederum gefährlich?

Bauer: Schauen Sie, Holocaust, das heißt also Genozid - das ist von den Vereinten Nationen schon 1948 akzeptiert worden -, das ist der Versuch, eine ganze Gruppe, eine nationale oder ethnische oder religiöse oder rassische Gruppe total oder zum Teil zu vernichten. Was in Gaza stattfand, war ein Konflikt, ein blutiger Konflikt zwischen zwei Nationalitäten, und das haben sie in Sri Lanka, das haben sie in Kaschmir, das haben sie anderswo auch. Das sind nicht genozidale Geschehnisse. Was in Darfur geschieht, ist ein Genozid, was in Ruanda geschah ist ein Genozid. Das muss man unterscheiden können. Wenn wir über Konflikte sprechen, so ist das eine blutige, schreckliche Sache, aber das ist kein Genozid.

Kolkmann: Die Vergangenheit als Verantwortung auch für die Zukunft nehmen. Häftlingskomitees haben ein Vermächtnis vorbereitet, das sie heute im Anschluss an die Bundestagsgedenksitzung dem Bundestagsvizepräsidenten überreichen wollen. Ein Vermächtnis, ist das besonders wichtig und ein Beispiel dafür, dass in Deutschland die Vergangenheitsbewältigung besonders ernst genommen wird und auch gut gemacht wird?

Bauer: Ja, es wird gut gemacht und ich glaube, das muss man so weiter machen. Ich kenne dieses Dokument nicht; deswegen kann ich darüber nichts aussagen. Aber ich glaube, es ist schon richtig, dass sich besonders junge Leute damit befassen und weiter lernen. Man muss lernen, man muss verstehen – nicht nur durch Lehre, sondern auch durch Schriftsteller und durch Filmdirektoren und so weiter weiterentwickeln. Das wird natürlich anders ausschauen in 50 oder 60 Jahren, das wird anders interpretiert werden, so wie heutzutage die Französische Revolution anders interpretiert wird als vor 100 Jahren, aber die Französische Revolution ist eben doch ein zentrales Geschehnis in der menschlichen Geschichte, der Holocaust genauso.

Kolkmann: Vielen Dank. – Das war der israelische Historiker Yehuda Bauer. Er war Leiter der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Danke für das Gespräch in Deutschlandradio Kultur.

Bauer: Bitte schön.

Das Gespräch mit Yehuda Bauer können Sie bis zum 26. Juni 2009 in unserem Audio-on-Demand-Angebot nachhören. MP3-Audio