Yiyun Li: "Schöner als die Einsamkeit"

Leere Menschen ohne Mitgefühl

Der Tiananmen Platz in Peking
Der Roman "Schöner als die Einsamkeit" ist im Jahr 1989 angesiedelt, nur wenige Monate nach der gewaltsamen Unterdrückung der chinesischen Protestbewegung auf dem Tiananmen-Platz. © dpa/picture alliance/Jia Qing
Von Johannes Kaiser |
Die in den USA lebende Schriftstellerin Yiyun Li zeichnet in ihrem Roman ein pessimistisches Bild des neuen chinesischen Menschen. Angesiedelt ist "Schöner als die Einsamkeit" kurz nach der gewaltsamen Niederschlagung der Protestbewegung auf dem Tiananmen-Platz.
In ihren Geschichten "Tausend Jahre frommes Beten" und ihrem Roman "Die Sterblichen" hat die in den USA lebende Schriftstellerin Yiyun Li ein Bild Chinas vor allem kurz nach der Kulturrevolution, jedenfalls vor der Einführung der Marktwirtschaft gezeichnet. "Schöner als die Einsamkeit" ist 1989 in Peking angesiedelt, nur wenige Monate nach der gewaltsamen Unterdrückung der chinesischen Protestbewegung auf dem Tiananmen-Platz.
In einer kleinen Wohnanlage leben drei Jugendliche mit ihren Familien. Da ist Moran, ein eher schüchternes Mädchen, das sich in Boyang, einen etwas großspurigen Jungen verliebt hat. Dann erscheint Ruyu, eine Waise aus der Provinz, zum Besuch einer höheren Schule nach Peking geschickt. Sie ist von zwei tief religiösen Frauen aufgezogen worden. Liebe oder gar Zärtlichkeit hat sie nie erfahren, nur Strenge. Sie hat gelernt, alle Gefühle zu unterdrücken, gibt sich entsprechend abweisend, lässt niemanden an sich heran.
Menschen gehen ihr auf die Nerven, auf Kontaktversuche reagiert sie abweisend. Dennoch bemühen sich Moran und Boyang intensiv um ihre neue Wohnhofmitbewohnerin, zeigen und erklären ihr die Stadt. Widerwillig macht Ruyo mit, versteht nicht, warum man sie nicht in Ruhe lässt.
Jeder geht seinen eigenen Weg
Besonders störend empfindet sie die Versuche Shaoais, der ältere Tochter des Ehepaars, das Ruyo gegen Bezahlung aufgenommen hat, sie aus der Reserve zu locken. Shaoai weigert sich, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu akzeptieren und attackiert alle wegen ihres Anpassertums: "Deswegen müssen wir kämpfen: Weil ihr es nicht getan habt."
Shaoai verliert ihren Studienplatz, wird zur Ausgestoßenen. Niemand will ihr Arbeit geben. Sie wird immer mürrischer und verzweifelter. Als sie eines Tages schwer krank wird, stellt sich heraus, dass sie vergiftet wurde. Oder war es ein Selbstmordversuch? Ihr Gehirn erleidet irreparable Schäden. Sie wird zum Pflegefall.
Das dramatische Ereignis entzweit die drei Jugendlichen. Jeder geht seinen eigenen Weg. Moran und Ruyu heiraten Amerikaner, um ein Visum und eine Arbeitserlaubnis für die USA zu bekommen. Beide bleiben dort. Boyard wird im neuen China ein erfolgreicher, wohlhabender Unternehmer.
Ihre Leben sind leer
Yiyun Li erzählt jeweils aus der Sicht der drei ehemaligen Freunde. 20 Jahre hatten sie keinen Kontakt zueinander. Als Shaoai schließlich an den Folgen der Vergiftung stirbt, informiert Boyang die beiden Frauen per E-Mail über ihren Tod. Der bringt alle drei dazu, sich Rechenschaft über ihr bisheriges Leben abzulegen.
Nüchtern, in sachlich kühlem Erzählton ohne Ausschweifungen, auf das Wesentliche beschränkt, erzählt Yiyun Li, wie Boyang, Moran und Ruyu derzeit leben. Aus ihrer Rückerinnerungen erfahren wir, was damals tatsächlich geschah. So bildet sich allmählich wie aus kleinen Mosaiksteinen ein Gesamtbild.
Es ist beklemmend, ihnen zuzuhören, denn sie sind zu Menschen geworden, die alle Gefühle in sich abgetötet haben, liebesunfähig sind. Ihre Kaltherzigkeit, ihr Bedürfnis, sich abzuschotten, ihr mangelndes Mitgefühl für andere sind erschreckend. Sie sind, jeder für sich, einsame Menschen ohne echte Freunde. Ihre Leben sind leer und sie werden sich dessen bewusst. Yiyun Li zeichnet überzeugend und sehr eindrucksvoll ein wenig positives Bild des neuen chinesischen Menschen.

Yiyun Li: "Schöner als die Einsamkeit"
Aus dem Amerikanischen von Anette Grube
Hanser Verlag, München 2015
350 Seiten, 22,90 Euro