Kommentar zu Yoga

Warum die Körperhaltung politisch ist

04:39 Minuten
Menschen stehen nebeneinander auf dem Time Square in New York und machen eine Yogaübung: Yogastunde zur Feier der Sommersonnenwende
Yoga macht Gesellschaft, weil Haltung ansteckend ist, sagt Julia Wadhawan. © IMAGO / UPI Photo / IMAGO / John Angelillo
Ein Kommentar von Julia Wadhawan · 02.07.2024
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Yoga kann heute vieles sein, eins aber ganz bestimmt nicht: unpolitisch, meint Julia Wadhawan. Denn Yoga beschäftigt sich mit Haltung, dem Umgang mit mir selbst und anderen. Und meine Haltung beeinflusst wiederum andere – und macht so Gesellschaft.
Mein erster Yogalehrer hatte einen dicken Bauch und war streng. In unserer ersten Stunde brachte er uns bei, richtig zu stehen. Ich war 21 Jahre alt und zu Besuch bei meiner indischen Tante in Vadodara, einer Stadt im Westen Indiens. Mein erster Gedanke war: Ich bin also um 6:00 Uhr aufgestanden, damit mir jemand zeigt, wie ich stehe? Und merkte dann, wie komplex Stehen sein kann. Wie anstrengend. Und gegensätzlich.
Probieren Sie das mal: Greifen Sie mit den Zehen in den Boden, als würden sie damit etwas aufheben wollen. Dann ziehen Sie die Knie hoch, spannen also ihre Beine an. Bringen Sie jetzt ihre Hüfte in eine Linie über die Knie. Manche müssen dafür den Po einziehen, andere nach hinten schieben. Ziehen Sie ihren Nabel ein und spannen Sie die Bauchmuskeln an. Dann die Schultern nach hinten unten rollen … Sie merken schon, ich bin nicht mal bei den Armen angekommen und die Haltung ist schon komplex.

Yoga und die „Gesamtheit der Ursachen“

Das ist Tadasana – die Berghaltung. Fußgelenke, Knie, Hüfte, Schultern und Scheitel befinden sich in einer Linie. So wird die Schwerkraft über alle Muskelgruppen angemessen verteilt, Wirbelsäule und Gelenke gehalten. An Tadasana lässt sich hervorragend zeigen, warum Yoga zwar Vieles sein kann, eins aber ganz bestimmt nicht ist: unpolitisch.
Das fängt bei den Füßen an. Ich zum Beispiel neige zu einem Knick- und Senkfuß. Für die Berghaltung muss ich mehr Gewicht auf die Außenkanten meiner Füße bringen, andere das Gewicht eher nach vorne oder hinten. Jeder Körper braucht andere Bewegungen, um ins Gleichgewicht zu kommen.
Das Yogasutra des Patanjali – einer der Urschriften von Yoga – spricht von der „Gesamtheit der Ursachen“, die unserem Verhalten zugrunde liegen, unseren Prägungen. Das heißt auch: Meine Herkunft, Rechte, Chancen, Diskriminierungs- oder Bindungserfahrungen – all das beeinflusst, was ich brauche, um mich aufrichten zu können. Aber Achtung: Beweglich müssen Sie dafür – erstmal – nicht sein!

Eine Art Psychoanalyse des Menschen

Meine Berghaltung wurde nicht stabiler, weil ich stundenlang so dastand. Sondern weil ich mein Gleichgewicht in ganz verschiedenen Übungen trainierte, nach den yogischen Prinzipien: Konzentration, Kraft, Entspannung. Gesellschaftlich bedeutet das: Wir müssen aus dem Gleichgewicht geraten, um es zu trainieren. Wir brauchen Konfrontation, daraus entsteht Kraft – und ganz automatisch werden wir beweglicher, finden leichter in jeder Situation in unsere Haltung.
Auf den Fokus kommt es an. Ein kleiner Zeh kann dann meine ganze Haltung verändern. Was ist – jetzt gerade – am wichtigsten? Um das zu beantworten, müssen wir verstehen, wie wir funktionieren. Unsere Psyche, unser Körper. Leben - auch miteinander. Yoga-Philosophie sammelt Prinzipien im Umgang mit anderen und mit mir selbst. Gewaltlosigkeit etwa, Wahrheit oder: das Selbststudium. Welches Ver-halten tut mir und anderen gut? In diesem Sinne ist Yoga eine Art Psychoanalyse des Menschen, von Leben. Und es macht Gesellschaft, weil Haltung ansteckend ist.

Meine Haltung hat Macht - weil sie andere beeinflusst

Sicher haben Sie das schon mal erlebt: Neben Ihnen setzt sich jemand aufrecht hin – und sofort strecken auch Sie Ihren Rücken durch. Das sind Ihre Spiegelneuronen, Nervenzellen im Gehirn, die uns ermöglichen, voneinander zu lernen. Wir imitieren einander. Meine Haltung beeinflusst andere. Meine Haltung hat Macht. Und mit Macht kommt Verantwortung. Zu verstehen wie ich funktioniere, wie ich mich ver-halte, wieso – und wie das andere beeinflusst.
Es kann damit beginnen, dass ich endlich was gegen meine Rückenschmerzen, also für meine Gesundheit tue – und es damit anderen vormache. Oder mich für die Bewegungsfreiheit anderer einsetze. Deswegen kann Yoga nicht unpolitisch sein. Yoga macht Gesellschaft - genau wie Sie, wie jede und jeder von uns.
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