Yoko Ogawa: "Der Duft von Eis"

Der süße Nebel der Erinnerung

06:45 Minuten
Das Cover des Buchs „Der Duft von Eis“ von Yoko Ogawa zeigt das Gesicht einer Frau. Im Vordergrund sind mathematische Formeln zu sehen.
© liebeskind

Yoko Ogawa

Übersetzt von Sabine Mangold

Der Duft von EisLiebeskind, München 2022

264 Seiten

24,00 Euro

Von Samuel Hamen |
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Der Suizid ihres Geliebten löst eine Spurensuche aus. Allmählich bemerkt Ryoko, wie wenig sie über den genialischen Parfümeur wusste. Yoko Ogawa erkundet in ihrem endlich auf Deutsch erschienenen Roman die verklärende Kraft von Trauer und Erinnerung.
Sie finden ihn inmitten seines Instrumentariums: Der Parfümeur Hiroyuki begeht Suizid, indem er einen Liter reines Ethanol trinkt. Es ist ein rätselhafter Tod, dem ein einzigartiges Geschenk vorausging. Am Tag zuvor hatte er seiner Freundin Ryoko, der Ich-Erzählerin von Yoko Ogawas Roman "Der Duft von Eis", einen eigens kreierten Duft geschenkt, den Quell der Erinnerung: "Im Kontrast zur Schlichtheit des Flakons war der Verschluss fein ziseliert. Dort war eine Pfauenfeder eingraviert. 'Der Pfau ist ein Bote des Gottes der Erinnerung', sagte Hiroyuki, als er den Flakon öffnete und mein Haar zurückstrich, um mir einen Tropfen hinters Ohr zu tupfen."

Genie des Körpers und Geists

Im Nachgang von Hiroyukis Ableben begibt sich Ryoko auf die Suche nach Antworten. So findet sie heraus, wie wenig sie über ihren Geliebten wusste. Er brillierte in seiner Kindheit und Jugend bei Mathematik-Wettbewerben; er vollführte als Hobby-Eiskunstläufer die außergewöhnlichsten Kunststücke – ein Genie des Körpers und des Geistes.

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"Ist so etwas überhaupt möglich?", fragt Ryoko, als sie während ihrer Recherche mal wieder hört, welchen Eindruck Hiroyuki auf seine Mitmenschen machte. Ja, antworten etwas zu einstimmig die meisten Figuren des Romans.

Grenze des Mnemo-Kitsches

Gewiss, "Der Duft von Eis" ist getragen von jener ruhigen, bescheidenen Prosa, die Ogawas Werk auszeichnet und ihr zu Recht weltweit viele Leser eingetragen hat. Zugleich führt die Frage nach der humanistischen Kraft von Erinnerung und Gedächtnis, die Ogawas Romane durchzieht, in diesem Fall an die Grenze des Mnemo-Kitsches.
Denn bis zuletzt kann Ryoko die Schleier, die ihren Partner umgaben, nicht lüften: Er bleibt auch in ihren Augen der grazile, schüchtern mysteriöse und talentierte Mann mit der "wunderschönen" Nase, "nicht nur lang und schmal geformt, ohne knöcherne Vorsprünge, sondern auch ausgewogen und elegant".

Wehmütige Trauer, vergötternde Liebe

Jede anekdotische Szene, der sie habhaft wird, gilt dieser Bewunderungsarbeit, bei ihrer Reise nach Prag ebenso wie bei einem längeren Aufenthalt im Elternhaus von Hiroyuki. Dort lernt sie seinen jüngeren Bruder und seine Mutter kennen, die sich in eine Kammer voller Trophäen zurückgezogen hat, um in Nostalgie über die "außergewöhnlichen Leistungen" ihres Sohnes zu versinken.
Trauer ist bei Ryoko nicht mehr von wehmütiger Bewunderung, Liebe nicht mehr von Vergötterung zu unterscheiden. Das ist tragisch, weil auf diese Weise der Grundkonflikt des Romans nicht reflektiert, sondern auf erzählerischer Ebene erneut durchgespielt wird. Hiroyuki wird als ein Held der Einsamkeit porträtiert, bewundert, bedrängt und getrieben von einer Angst, keine Fehler zu machen und immer die beste Leistung zu bringen. Das hat ihn zeitlebens belastet.

Atmosphärische Sprache

Letztlich versiegt der "Quell der Erinnerung" aber kaum genutzt – hätte er die Beschenkte doch zu den prägenden Stationen von Hiroyukis Lebens führen und ihr dabei helfen sollen, ihn abseits des familiären und psychologischen Drucks neu und anders zu sehen. Aber selbst nach seinem Tod kann sich der heimliche Protagonist dieses Romans nicht aus dem Halbschatten befreien. Das mag manch einen gerade deswegen ärgern, weil Ogawas fragile, atmosphärische Sprache so lesenswert ist, während einem ihre Figuren Satz für Satz im süßlichen Nebel der Erinnerungen abhandenkommen.
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